Hochkultur und Hochspannung
Venedig. Die Ruhe vor dem Sturm der Preisverleihung der „ 68. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica" heute Abend ist eine genüssliche. Träge liegt der von Urlaubern verlassene Lido in der Sonne, die letzten Kritiker lassen beim Preis-Rätseln einen reichen und dankenswerten Wettbewerb Revue passieren. Mit dem üblichen Äpfel und Birnen-Problem auch für die Jury um den ehemaligen Venedig-Sieger Darren Aronofsky („The Wrestler") und den Talking Heads-Kopf David Byrne.
Schnöder Schein ...
Statt der Goldenen Löwen jeweils für Film, Regie und Schauspiel sollte es welche für den besten Mainstream/Star-Film, für das künstlerische Autorenkino und für den besten mörderischen Genrefilm geben. In genau dieser wohlgeordneten Reihenfolge liefen die 22 Wettbewerbsfilme des sehr aufgeräumten Festivals ab. Programmatisch aufgeräumt, nicht von der bröckelnden Infrastruktur her. Die sorgte mit einem Fehlalarm für den bislang einzigen Aufreger. Abgesehen von den Stars, wobei vor allem Madonna mit ihrem Königs-Märchen „W.E." die Diskrepanz zwischen Schein und Substanz deutlich machte: Ihr Film erntete Häme. Nur absurde Aufgeregtheit und Gier nach Interviews bescherten ihm unverdiente Aufmerksamkeit.
... und die Kunst
Aber auch für diesen eitlen Firlefanz bot Venedig 2011 ein perfektes Festivalklima. Die Sonne strahlte mit dem Publikum um die Wette, ein etwas kräftigerer Wind diente nur kurz Andrea Arnolds „Sturmhöhe" als Kulisse. Von „Faust" bis zum „Gott des Gemetzels" wurde viel Theater gemacht - zu Film gemacht. Arnold bewies mit ihrer extrem sinnlichen, ja fast mit den Fingern greifbaren Bronté-Adaption, dass man Worte sehr gut in Bilder fassen kann. Film feierte hier ausgerechnet bei der Verfilmung eines literarischen Klassikers seine Emanzipation von den klassischen Künsten. Zu den weiteren Kunst-Favoriten gehört vor allem „Shame" (Schande) des britischen Künstlers und Turner-Preisträger Steve McQueen („Hunger"): Der verzweifelte Trip eines vereinsamten Sexsüchtigen hat etwas vom erbarmungslosen Sog in „Requiem for a Dream" des Regisseurs Darren Aronofsky. Und „Shame" hat Michael Fassbender als genialen Hauptdarsteller - der einzige klare Favorit in diesem Jahr. Selbst das Problem, dass jeder Film nur einen Hauptpreis bekommen darf, besteht hier nicht: Fassbender spielte auch Carl Gustav Jung in Cronenbergs „Eine gefährliche Methode". Christoph Waltz könnte in der Abteilung Hauptdarsteller nach seiner glänzenden Show in Polanskis „Gott des Gemetzels" vielleicht überraschen.
Fast sind sie schon vergessen, die Publikumsfilme der ersten von zehn Festivaltagen. Doch vor allem der Eröffnungsfilm, Clooneys politische Regiearbeit „Die Iden des März" sollte zu einigen Ehren kommen. Dazu wird sicherlich ein asiatischer Film ausgezeichnet - Venedig ist noch immer das Festival von Marco Müller, dem cineastischen Sinologen, dessen hochgeschlossene, edle Anzüge auch schon mal Maos Arbeiterhemden nachempfunden sind. Der italienische Film, der auch fast immer einen Trostpreis abbekommt, ist auf ein Niveau unter Meeresniveau abgesunken. Da ist es passend, wenn Emanuele Crialese sein Flüchtlingsdrama „Terraferma" mit einer Unterwasseraufnahme vor Lampedusa beginnt.
Die Gemetzel
Die letzten Wettbewerbsfilme gehörten in die Abteilung „Mord und Totschlag", verdienten sich aber reichlich Festival-Anerkennung: „Killer Joe" des Altmeister William Friedkin („French Connection") basiert auch auf einem Bühnenstück gleichen Namens von Tracy Letts. Matthew McConaughey spielt „Killer Joe" - nach „Der Mandant" erneut eine unsympathische Rolle als sadistischer Polizist, der im Nebenberuf mordet. Dies hätte eines der vielen White Trash-Gemetzel werden können, doch der Fargo-ähnliche Versuch einer grunddebilen Familie, sich der Mutter zu entledigen, um mit der Versicherungssumme Wettschulden und noch mehr Dosenbier zahlen zu können, führte Dimensionen des Bösen vor, die vor allem in einer äußerst unappetitlichen Szene an Lynchs „Blue Velvet" denken ließ. Man verschluckte sich am bitteren Lachen und musste noch lange an diesem Knochen kauen.
Hongkongs Regie-Legende Johnnie To baut in seinem „Life without principle" (Leben ohne Moral) Verbrechensgeschichten in die Panik einer der letzten Wirtschaftskrisen ein. Der Inspektor kann kaum etwas aufklären, wenn gierige Banken ihre Kleinanleger ausbeuten, die alten Gangster-Gangs der Straße als verarmte Witzfiguren ebenso hilflos sind wie die Finanzjongleure, die übrigens aus dem gleichen Clan stammen. Ein hervorragend erzählter, böser Kommentar zur Moral unserer Gesellschaften, der am Ende wenigstens zwei Figuren davonkommen lässt.
Unversehrt bleibt niemand in Ami Canaan Manns „Texas Killing Fields": Im nämlichen Sumpfgebiet fand man die Leichen von fast 60 Frauen. Zwei Cops, der sanfte Neuzugang Brian und der aggressive Texaner Mike, versuchen die Mörder zu finden und gleichzeitig den verwahrlosten Teenager Ann zu retten. Mit dabei ist als Mikes Ex-Frau übrigens Jessica Chastain („The Tree of Life"), die mit einem zweiten Venedig-Auftritt als „Wilde Salome" ihre Preis-Chance erhöht. Canaan Mann, Tochter von Michael Mann, schafft eine ungeheure Atmosphäre der Bedrohung und steigert die Spannung zum Zerreißen. Diese Spannung wird auch noch lange nach der Preisverleihung heute Abend in der Luft bleiben. „Texas Killing Fields" ist ab dem 24. November in den Niederlanden zu sehen.