Finnland, Frankreich, BRD 2011 (Le Havre) Regie: Aki Kaurismäki mit André Wilms, Kati Outinen, Blondin Miguel, Jean-Pierre Darroussin, Elina Salo 93 Min.
Der Blick auf die Schuhe der Menschen sagt ihm viel, dem Mann, der lange auf der Straße gelebt hat und nun dort Schuhe putzt. Marcel Marx (André Wilms) ist ein Philosoph, der als Schuhputzer arbeitet. Denn „nirgends anders ist man den Menschen so nah". Nie hat er Geld, wohnt aber in einem freundlichen Viertel, einem alten Märchenbuch-Frankreich, mit einer herzlichen Frau (Kaurismäkis Madonna Kari Outinen), großzügigen Händlern und liebevollen Wirtinnen. Dann bricht aber die Realität von heute in diese Welt mit Citroen DS an der Straße und Plattenspielern in den musealen Wohnzimmern. In einem Container werden schwarzafrikanische Flüchtlinge gefunden. Kaurismäki, der ansonsten keine Sekunde zu lange in der Szene bleibt und keine Szene zuviel im Film hat, lässt diese Gesichter lange in die Kamera schauen. Dann kann, wieder typisch ökonomisch, der junge Idrissa fliehen und bei Marcel Unterschlupf finden. Die Versuche der Gemeinschaft des Viertels, das Kind zu seiner Mutter nach London zu schmuggeln, zeugen von einfacher Solidarität, die keine Fragen stellt. Und einen durchaus tages-politischen Gegensatz zur Europäischen Gemeinschaft darstellt.
Wie Kaurismäki das erzählt ist unvergleichlich - im Vergleich zu seinen eigenen Werken erstaunlich sogar leicht und einfach pures Kino-Glück! Der nach Portugal ausgewanderte Finne Aki Kaurismäki bastelt mit bekannten Figuren und Stilen ein Meisterwerk der Reduktion. Trotzdem ist „Le Havre" voller kleiner Preziosen: Seien es die Darsteller, die wie eine Fortsetzung von „La vie de Boheme" (André Wilms) spielen oder von „I hired Contract Killer" (Jean-Pierre Leaud). Ein besonderer Genuss ist der ganz schwarz gekleidete Kommissar Monet (Jean-Pierre Darroussin), scheinbar ein harter Knochen, dann eine tragische Witzfigur, wenn er mit einer Ananas in der Hand bei der Wirtin einkehrt, deren Mann er verhaftete. Doch schließlich zeigt sich hinter dem weiterhin grimmigen Gesicht das gute Herz. Die Namen schwelgen in französischer Kultur, die Lieder vom Tango bis zum französischen Alt-Rocker. Zwischendurch ein passendes Dada-Zitat von Truffaut: „Wer auf Island zischt ein Bier, wird zur Elfe im Geysir." Die Dialoge sind Poesie, die Bilder in ihren reinen Farben herrliche Retro-Orgien, da bleibt sich der wortkarge Finne treu. Was fehlt ist die auch bekannte Melancholie des Finnen, der wie seine Figuren wohl immer ein Glas zuviel trinkt. Sie hat der frische Atlantikwind weggeweht. Es bleibt eine Perle von Film, ein in lakonischer Reduktion erstrahlendes Meisterstück. Obwohl Arletty im Krankenzimmer 13 behandelt wird und Sozial-Pessimismus verströmt - „in meiner Nachbarschaft keine Wunder" - schenkt uns Kaurismäki schließlich auch noch ein Wunder in der Geschichte - zum Wunder dieses Films.