24.6.09
Home
Schweiz, Frankreich, Belgien 2008 (Home) Regie: Ursula Meier mit Isabelle Huppert, Olivier Gourmet, Adélaïde Leroux 97 Min.
Eine Familie campt am Straßenrand - das wirkt sehr kurios, lässt schmunzeln und staunen, entwickelt sich aber in immer wieder neuen, raffinierten Szenen, Bildern und Wendungen zum ebenso vielschichtigen wie verstörenden und faszinierenden Mix aus Psychodrama, böser Satire und schwarzem Humor. Ein einzigartiges Meisterwerk, das mit Isabelle Huppert und Olivier Gourmet auch noch besonders reizvoll besetzt ist.
Willkommen bei Marthe, Michel und ihren drei Kindern. Sie leben in einer witzigen Idylle an einer stillgelegten Autobahn. Eine ungewöhnliche, nicht normierte, nicht angepasste Familie. Das Leben ist wie ein Camping-Urlaub und irgendwann diesen Sommer wird der Pool auch noch fertig. Das Leben ist ausgelassen, verrückt. Die fünf bilden aber auch eine recht normale Familie mit normalen Problemen wie dem Protest der ältesten Tochter: Sie ernährt sich von Zigaretten, sonnt sich den ganzen Tag auf der Liege vor dem Haus und hört sehr lautstark extremen Hardrock. Die jüngere Tochter ist eher unsicher in ihrer Pubertät. Papa Michel kommt über einen Feldweg zuhause auf der Autobahn an und hört noch ein paar Klänge Jazz.
Das Haus an der ungenutzten Autobahn genießt die leere Weite, die Stille. Doch aus der Tiefe des Raumes kommt eines Nachts das Unheil. Wie Wesen von einem anderen Stern tauchen die Straßenarbeiter auf. Nach zehn Jahren wird die Autobahn eröffnet. Erst schauen Michel und sein Sohn noch erwartungsvoll nach dem ersten Auto: Kommt es von rechts oder von links, ist es rot oder grün? Dann bricht in diese kuriose kleine Welt das Chaos in Form von Blech, Lärm und Gestank ein. Die Kinder kommen nicht mehr auf die andere Seite und nicht mehr zur Schule. Die Katze wird angebunden. Der nächtliche Transport einer Tiefkühltruhe wird zum existenziellen Abenteuer, langsam kriecht die Angst vor dem nächsten Auto unter die Haut und wenn man kein Auto hört, ist es geradezu unerträglich.
Die Mutter versucht zwanghaft ihre Normalität aufrecht zu halten, bricht aber zuerst zusammen angesichts dieses Einbruchs in ihre Privatsphäre. Sie erholt sich auf einem Meter zwischen zwei Betonwänden hinter dem Haus. Die Szenen zeigen spielerisch verschiedenste Formen der Isolation: Während Schutzanzüge, Taucherbrille und Ohrenstöpsel noch komisch wirken, zieht sich der Film immer mehr um einen zusammen. Das Klaustrophobische tritt einem in so vielen Bildern entgegen, dass man ihm immer weniger entfliehen kann und mit der Familie um Luft ringt.
In einer gänzlich neu verrückten Situation legt ein Stau den Urlaubsverkehr vor dem Garten lahm. Dann werden die vom Verkehr Überrollten zu Höhlenmenschen, haben endlich ihre Ruhe, aber keine Frischluft mehr. Der Wahnsinn bricht endgültig aus in diesem Film, der einen schon die ganze Zeit nervös gemacht hat.
„Home“ schildert eine verrückte Situation, die trotz aller Absurditäten sehr viel Sinn macht: Auf einer ersten Ebene ist erschreckend, dass der unerträgliche Endzustand unser normales Leben ist. Heutzutage gewinnt kein Mensch mehr ein Rechtsstreit gegen eine Straße. Denn dort bewegt sich irgendwie das Allgemeinwohl. Doch abgesehen von solch simpler Gesellschaftskritik hat „Home“ die existenzielle Tiefe eines Haneke-Films. Irgendwo in diesem „Traffic“-Stau mag auch Jacques Tati mit seinem Wohnmobil stehen. Aber nur die Standbilder beider Filme sind vergleichbar. Während der alte Franzose die Absurdität als Komödie auf die Spitze treibt, wird bei der Schweizerin aus der seltsamen Situation ein komischer und irritierender Albtraum.