20.5.07

Sicko, Michael Moore

Man könnte es Propaganda nennen. Aber wer Michael Moores "Sicko" gesehen
hat, fiebert schmerzlich jeder neuen Gesundheitsreform entgegen. Wenn
Gesundheit ein Geschäft wird, wenn Ärzte bei Krankenversicherungen
Prämien fürs "Sparen" bekommen, dann freuen sich die
Wirtschafts-Liberalen und die mit Spitzfindigkeiten in Verträgen
"Eingesparten" sterben zu tausenden in den USA - jedes Jahr. Wer sich
dort keine Krankenversicherung leisten kann, es sollen 50 Millionen
sein, ist arm dran. Doch wer auf die kommerziellen Versicherer vertraut,
dem geht es richtig schlecht. Michael Moore zeigt mit bitterem Spott,
wie 70-Jährige für ihre Medikamente arbeiten müssen. Wie ein Ehepaar bei
der Tochter einziehen muss, weil Krebs und Herzanfälle die Ersparnisse
aufzehrten. Und wie immer wieder die Interviewten sterben müssen, weil
absurde Gründe die rettende Behandlung ablehnen. Dabei verdienen diese
Konzerne ähnlich gut wie die Pharmaindustrie. Nur das Gesundheitssystem
ist pleite.

Auf dem Höhepunkt der Moore'schen Naivität fährt er mit schwer kranken,
im Stich gelassenen 9/11-Helfern nach Cuba, wo die medizinische Andacht,
die sie erstmals nach Jahren erfahren, Tränen fließen lässt. Auch dass
ein Inhalator, der in den USA 120 Dollar kostet, dort für 5 Cent zu
haben ist, haut auf und vor der Leinwand um. Immer wieder gab es bei der
Cannes-Presse Szenenapplaus, wenn sich etwas gesunder Menschverstand in
Turnschuhe sowie Übergröße unter einer Basketball-Kappe an unglaublichen
Schweinereien, für alle offensichtliche Bestechungen und gnadenlosen
Praktiken reibt.

Mit herzlichem Mitgefühl freuen sich Kanadier, Franzosen und Engländer
vor Moores Kamera über ihre staatlich finanzierten und stattlichen
Behandlungen auf hohem Niveau. 125 Dollar gibt Cuba für die Gesundheit
jeden Einwohners jährlich aus. 6000 sind es in den USA, wobei die
Kommunisten hier das schönere Krankenhaus und die netteren Ärzte hatten.
Die längere Lebenserwartung in hoch entwickelten Ländern wie Ecuador
vermeldet Moore - den Anteil der Gesundheitskosten am Staatshaushalt
nicht. Der Cannes-Gewinner ist längst nicht mehr so spritzig und
unterhaltsam wie bei "Bowling for Columbine" oder bei "Fahrenheit 911",
mit dem er Bush und die Filmästheten auf die Palme trieb. Der regellose
Dokumentarist argumentiert haarsträubend und so simpel, dass es jeder
der adressierten US-Amerikaner verstehen kann. Aber man fragt sich,
weshalb erst so jemand herkommen muss, um diesen Wahnsinn anzuklagen.
(Der Spielfilm "John Q" von Nick Cassavetes und mit Denzel Washington
war wohl zu schlecht gemacht.) Tatsächlich sollte man jede Gesellschaft
danach beurteilen, wie sie mit den schwächsten umgeht. Siehe Hartz 4 und
Gesundheitsreform.

Man wundert sich, dass nur die amerikanische Zollbehörde - wegen des
nicht angemeldeten Cuba-Trips - heftige Geschütze gegen den Filmemacher
auffährt. Wer in Grishams "Das Urteil" von der Macht der
Zigarettenindustrie gelesen hat, ahnt, was bei der Gesundheitsindustrie
jetzt los sein wird.