Der Erfolg des stillen Einfühlens
Cannes. Die Goldene Palme des 60. Festival de Cannes (16.-27. Mai) erhielt der frühe Favorit "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" des rumänischen Regisseurs Cristian Mungiu. Für den deutsch-türkischen Wettbewerbsfilm "Auf der anderen Seite" konnte Fatih Akin hocherfreut den Drehbuchpreis entgegen nehmen. Der Preisregen am Sonntagabend bildete den würdigen Abschluss eines Jubiläumsfestivals, das Cineasten begeisterte.
Nachhaltig beeindruckend
Ein unbekannter, ein früher Favorit und jetzt allgemein geschätzter Cannes-Sieger: "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage", dem dritten Film des Rumänen Cristian Mungiu, gelang eine Art Start-Ziel-Sieg, was bei einem Filmfestival weitaus schwieriger zu realisieren ist, als beim Sport. Wenn ein Film am ersten Festivaltag läuft und die Eindrücke von 21 Konkurrenten im Wettbewerb überdauert, ist das allein schon Beweis einer besonderen Kraft: "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" erzählt mit realistischem Stil und nahe an seinen Figuren von zwei jungen Frauen, die sich zum Ende des Kommunismus für eine illegale Abtreibung in einem schäbigen Hotel einfinden. Das Geld ist zusammengekratzt, doch der "Engelmacher" will die Zwangslage ausnutzen, verlangt körperliche Gegenleistungen der Frauen...
Der erst kurz vor dem Festival mit geringen Mitteln fertig gestellte Film beschränkt sich, nur von einem Tag zu erzählen. Die konzentrierten Emotionen lassen nicht unberührt, überzeugten Publikum und Jury einhellig. "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" wurde unter anderem vom Fernsehsender Arte koproduziert, der sich in Cannes wieder als wichtige Kraft für die europäische Filmkunst erwies.
Tod, Verlust, Trauer
Als bester Regisseur wurde der amerikanische Maler, Schauspieler und Filmemacher Julian Schnabel für "Le scaphandre et le papillon" prämiert. Der "Große Preis des Festivals" ging an die japanische Regisseurin Naomi Kawase und ihren "Mogari No Mori" (Der Trauerwald), der eine junge Frau, die ihr Kind verloren hat, und einen alten Mann, der über das Ableben seiner Frau nicht hinwegkommt, zusammenführt.
Auch die Preise für die besten Schauspieler spiegeln den nicht besonders heiteren Grundton des Wettbewerbes wider: Sie gingen an den Russen Konstantin Lavronenko für seine stoische Darstellung eines betrogenen Mannes in "Izgnanie" ("Die Verbannung") und die Südkoreanerin Jeon Do Yeon, deren Figur in "Secret Sunshine" über den Schmerz zweier verstorbener Menschen den Verstand verliert. Einen Spezialpreis zum 60. Geburtstag des Festivals gab es für den Amerikaner Gus Van Sant, der mit "Elefant" 2003 die Goldene Palme gewann und in diesem Jahr mit dem Skater-(Alb)Traum "Paranoid Park" begeisterte.
NRW wieder ausgezeichnet
Die rege Aufmerksamkeit, die "Auf der anderen Seite" von Fatih Akin in Cannes erlebte, schlug sich in zwei wichtigen Preisen nieder: Der Autor und Regisseur erhielt den Preis für das Beste Drehbuch und den der Ökumenischen Jury. Letztere blickt vor allem auf inhaltliche Werte und fand, der Film reflektiere "sehr einfühlsam die schmerzliche Komplexität des Verlustes von Koordinaten und Beziehungen und zeigt dabei Wege der Annäherung zwischen den Kulturen auf." "Auf der anderen Seite" erzählt die Geschichte von sechs Menschen zwischen der Türkei und Deutschland, deren Schicksale ineinander verwoben sind, wobei erst der Tod ihre Lebenswege zusammenführt.
Der ebenso leidenschaftliche wie selbstbewusste Wahl-Hamburger verlieh seiner Begeisterung Ausdruck: "Ich habe immer davon geträumt, hier im Wettbewerb zu sein. Es ist hart, es ist verrückt, aber man wird davon abhängig. Ich kann es kaum erwarten, wieder dabei zu sein - in zwei oder drei Jahren."
Auch ein anderer "NRW-Film" fiel positiv auf: In der Sektion "Quinzaine des Réalisateurs" erhielt "Gegenüber", der Debütfilm des Kölners Jan Bonny, eine "Lobende Erwähnung". Das Kinodrama über Gewalt in der Ehe und eine unheilvolle Paarbeziehung auf dem Grat zwischen Familiennormalität und Familienhölle wurde in Essen gedreht und von Bettina Brokemper (Heimatfilm, Köln) produziert.
Mit dem 39-jährigen Rumänen und dem 33-jährigen Fatih Akin wurden relativ junge Filmemacher eines frischen Wettbewerbs ausgezeichnet. In anderen Jahren führte Cannes auch schon mal reichlich Legenden der Filmgeschichte vor. Doch vor allem die lauten, marktschreierischen Effekte waren im filmischen Auge des Bildersturms von Cannes 2007 angenehm selten. Während der Markt immer mehr auf den großen Knall baut, richtet ausgezeichnete Filmkunst zurzeit den einfühlsamen Blick ruhig auf nahe stehende Individuen.