12.7.22
Eine Sekunde
China 2020 (Yi miao zhong/One Second) Regie: Zhang Yimou, mit Yi Zhang, Haocun Liu, Fan Wei, 103 Min., FSK: ab 12
Während der chinesischen Kulturrevolution flieht der ausgemergelte Zhang (Yi Zhang) aus einem Arbeitslager im trostlosen Nordwesten Chinas, um in einem Dorfkino die Wochenschau anschauen zu können, in der seine Tochter zu sehen sein soll. Doch er kommt nicht nur zu spät zur Vorstellung, er sieht auch, wie die Waise Liu (Haocun Liu) eine Filmrolle klaut. Auf dem Weg ins nächste Dorf entwickelt sich in atemberaubenden Wüstenlandschaften eine raffinierte bis ruppige Rangelei um den Film. Es ist ein Stückchen Wochenschau mit deftiger Parteipropaganda, das Liu in einen Lampenschirm für ihren kleinen Bruder umwandeln will, damit der beim Licht der Glühbirne anständig lernen kann. Der verzweifelte Zhang erhofft sich einen kurzen Blick auf die Tochter, die er seit Jahren nicht mehr sehen hat. Angekommen ist allerdings der Hauptfilm das Problem, der aus den Filmdosen gefallen ist und sich malerisch im Staub verteilt. Unter Anleitung des alten Vorführers „Onkel Kino" („Filmrollen sind Schätze für uns") wird „Heroische Söhne und Töchter" aufwändig und ganz vorsichtig entknotet und gereinigt. Unter anderem mit Essstäbchen. Wiederum wunderbare Szenen, wie die Kinofans mit ihren Fächern ganz sanften Wind erzeugen, damit der Film vorsichtig trocknet. Während das riesige Kino schließlich bis auf die letzte Ecke vollgequetscht der Propagandafilm erlebt, hat Zhang seine Tochter immer noch nicht gesehen...
Seine Weltpremiere sollte „Eine Sekunde" 2019 bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin feiern, wurde dann aber kurzfristig zurückgezogen, wegen angeblicher technischer Schwierigkeiten in der Postproduktion. Erst 2021 wurde der Film schließlich wieder aus dem Giftschrank geholt und eröffnete, mittlerweile um eine Minute gekürzt, das Filmfestival von San Sebastian, lief anschließend bei den Filmfestivals in Toronto und Zürich. Ohne plakativ oder melodramatisch zu werden, stellt „Eine Sekunde" die Unmenschlichkeit der Kulturrevolution deutlich heraus. Was viele andere vorher auch machten, sodass über die Gründe der Zensur spekuliert werden kann. Wie der Film ist auch der chinesische Regisseur Zhang Yimou eine ambivalente Erscheinung: Derzeit einer der wichtigsten und einflussreichsten Filmemacher in China, erlebte er als Teil der umstrittenen „fünften Generation" von Regisseuren erste internationale Erfolge mit „Rotes Kornfeld" (1987, Gewinner des Goldenen Bären), „Judou" (1990, im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes), „Raise the Red Lantern" (1991, Gewinner des Silbernen Löwen von Venedig) und „Leben!" (1994, Grand Jury Prize von Cannes). 2002 sorgte sein staatstragendes Kampfkunst-Epos „Hero" für Irritationen. Nach den Blockbustern „House of Flying Daggers" (2004) und „Der Fluch der Goldenen Blume" (2006) durfte er bei den Olympischen Spielen 2008 in Peking die Regie bei der Eröffnungs- und der Schlussfeier führen.
Die Suche nach einem einzelnen Filmbild in der Wüste, das zwei Jahre zuvor verloren ging. Ein eigentlich furchtbar deprimierendes, aber auch grandioses Bild beschließt ein weiteres Meisterwerk des Chinesen Zhang Yimou. Wie seine geschundene Helden im Katz-und-Maus-Spiel um eine Filmrolle, wird auch um seine Wahrheiten unter dem chinesischen Regime gekämpft. Und da ist ein gutes Stück Film unter all den Blockbustern so schwer zu finden wie ein Filmschnipsel in der Wüste.