19.7.22

Der Sommer mit Anaïs


Frankreich 2021 (Les amours d'Anaïs) Regie: Charline Bourgeois-Tacquet, mit Anaïs Demoustier, Valeria Bruni-Tedeschi, Denis Podalydès, 99 Min., FSK: ab 12

Anaïs rennt – so ließe sich in Verweis auf Tom Tykwers „Lola rennt" sagen: Die junge Frau (Anaïs Demoustier) rennt dauernd und ist trotzdem immer zu spät. Ruhelos eilt sie durchs Leben, lebt extrem chaotisch, was „mann" scheinbar als charmant ansieht. So eilt sie auch von Beziehung zu Beziehung. Zwischendurch vergisst die Studentin alles Mögliche, die Miete, den Rauchmelder, ihre Abschlussarbeit und auch ihre Pille.

Als sie bei ihren Eltern erfährt, dass sie Krebserkrankung ihrer Mutter nach sieben Jahren zurückgekommen ist, kann man den unstillbaren Lebenshunger etwas besser verstehen. Derweil wechselte Anaïs ihren Liebhaber vom jungen Freund, der sie schwängerte, zum alten Herausgeber Daniel Moreau-Babin (Denis Podalydès). Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet montiert das geradezu Empörung provozierend, wenn die letzte Szene Anaïs mit dem jungen Freund zeigt und die nächste mit einem nackten Rücken über ihr im Bett. Der ist allerdings schon von Daniel. Ein frustrierter Ehemann, der wie ein alter Narr für die junge Studentin schwärmt. Auch Anaïs schwärmt, allerdings für Daniels Frau, die berühmte Schriftstellerin Émilie (Valeria Bruni Tedeschi).

Diese Schwärmerei artet herrlich komödiantisch aus: Erst spricht Anaïs Émilie auf der Straße an, immerhin die Frau ihres Liebhabers, und erzählt ihr von Seelenverwandtschaft, die sie in ihren Büchern findet. Dann verlässt sie das Colloquium, das sie als gerade erst ergatterten Studentenjob organisieren soll, um sich bei einem exklusiven Autorentreffen mit Émilie einzuschleichen. Welches sie sich selbstverständlich nicht leisten kann. Doch über einige Momente des Fremdschämens, die Anaïs allerdings überhaupt nichts ausmachen, kommt sie ihrem gestalkten Idol näher. Sehr viel näher. Bis sie küssend am einsamen Strand liegen.

„Der Sommer mit Anaïs" ist das Langfilmdebüt der Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet und mehr als leichtfüßig erzählte und hochkarätig besetzte Sommerromanze. Als nie ruhendes Zentrum fungiert Anaïs Demoustier, die schon 2008 in Charline Bourgeois-Tacquets Kurzfilm „Pauline asservie" spielte. Wobei der Charakter der Pauline in Anaïs fortgesetzt wurde. Die stetige Bewegung der jungen Frau war für die Regisseurin wichtiges Prinzip: „Die meisten Anweisungen, die ich den Darstellerinnen und Darstellern gab, betrafen ihre Bewegung im Raum und ihre Rhythmik. Ich arbeite viel mit Plansequenzen, die auf einer sehr genauen Choreographie basieren."

Das Ergebnis ist viel mehr als eine „Amour fou" zwischen zwei Frauen – in diesem Debüt ist alles perfekt, alles wirkt wie in einem Meisterwerk vergangener Jahrzehnte, einem Truffaut, einem Berlusconi. Die Vorbilder von Bourgeois-Tacquet sind tatsächlich „alte Franzosen" wie Jean-Paul Rappeneau mit „Die schönen Wilden" (Le Sauvage) aus dem Jahr 1975 mit Yves Montand und Catherine Deneuve oder Éric Rohmer. Sie hat auch an „Manhattan" von Woody Allen gedacht. Zudem ist sie inspiriert von „Ein Schloss in Italien" (Un château en Italie), der wunderbaren Regiearbeit ihrer Hauptdarstellerin Valeria Bruni Tedeschi („Sommer '85", „Die süße Gier").

Selbst der Auftritt dieses Stars, der selbstverständlich zum Dreh mit einem Newcomer zusagte, ist etwas Besonderes: Selten hat man die grandiose Comedienne so seriös gesehen. Bis zum großen Monolog der weisen Frau am Ende. Was tatsächlich ein Problem war, wie die Regisseurin gestand: „Valeria neigt dazu, frustriert zu sein, wenn sie die Zuschauer nicht zum Lachen bringen darf." Hinzu kommt noch der exzellente Denis Podalydès („Die schönste Zeit unseres Lebens") in der Nebenrolle des sehr schön überflüssigen Mannes und fertig sind die exquisiten Zutaten für einen in jeder Hinsicht gelungenen Film.

Ruhelos und erfrischend, immer wieder komisch und dann berührend, bestes Schauspiel, schönste Bilder, ein scheinbar endloser Redefluss und doch pointierte Dialoge. Das Schwärmen für den Sommerfilm „Sommer mit Anaïs" könnte noch eine Weile weitergehen, wenn man sich nicht einfach im beglückten Staunen verliert. Staunen auch über den Menschen Anaïs. Der letzte Satz des Films lautet „Ich bin nicht einverstanden." Es ist kein Happy End, aber auch keine Resignation. Anaïs findet - und da ist die Regisseurin mit ihr einer Meinung - „auf eine Leidenschaft zu verzichten, wäre sträflich, es wäre eine Beleidigung des Lebens".