12.9.19

Systemsprenger

BRD 2019 Regie: Nora Fingscheidt, mit Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide 120 Min.

Dieser Film war die Sensation der letzten Berlinale und die ganz junge Hauptdarstellerin Helena Zengel ist mittlerweile in Hollywood gefragt: Der deutsche Oscar-Kandidat „Systemsprenger" um ein schwer erziehbares Mädchen ist in jeder Hinsicht ein junger, wilder und lohnenswert anstrengender Film.

„Systemsprenger" nennt man Kinder, die durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe fallen. Wie die neunjährige Benni, die nach kurzer Zeit aus allen Pflegeeinrichtungen wieder raus fliegt. Mehr als 20 Einstellungen hat sie schon verschlissen und teilweise tatsächlich ramponiert. Keiner will sie mehr aufnehmen. Benni (Helena Zengel) ist aggressiv, hyperaktiv und gewalttätig. Das nimmt der Film in Schnitt und Musik auf. Auf den ersten Blick wirkt das blonde und eher zierliche Mädchen in ihrer rosa Jacke nett. Doch immer wieder, vor allem, wenn sie jemand ins Gesicht fasst, verwandelt sie sich zu einer Furie mit Schreien und Tobsuchtsanfällen. Benni ist nicht nur gemeingefährlich, sondern auch selbstzerstörerisch und voller blauer Flecken. Dabei will sie nur zurück zu ihrer Mutter, die allerdings Benni nicht mehr verkraftet.

Keiner kommt mit ihr zurecht, allein die sehr liebe Frau vom Jugendamt (Gabriela Maria Schmeide) gibt nicht auf. Und dann taucht da dieser große Kerl, der Anti-Gewalt-Trainer Micha (Albrecht Schuch) auf. Der ist interessant, weil er vorlebt, wie man mit Aggressionen umgehen kann. Auf resolute Weise nimmt er sich der Benni an, verfrachtet sie in eine Außenstelle, ein abgelegene Hütte im Wald. Das „Zurück zur Natur" scheint zu funktionieren. Hier ist nicht so viel zum Anecken, den neugierigen Hund vom Bauern schreit sie erst mal weg.

Micha macht vieles richtig, aber auch er lässt sich von der herzzerreißende Verzweiflung Bennis einwickeln und nimmt sie mit nach Hause. Ein absolutes Tabu für die Jugendarbeit und noch gefährlicher, weil Micha und seine Freundin gerade ein kleines Baby bekommen haben.

Nora Fingscheidt geht in ihrer Manipulation der Zuschauer von „Systemsprenger" sehr weit, weil man immer wieder hochdramatisch um Benni und ihre Opfer bangt. Ein bemerkenswertes Spielfilmdebüt, das heiß diskutiert wird. Die junge Regisseurin schrieb nach langer Recherche über einen Zeitraum von vier Jahren das Drehbuch zu ihrem Kino-Erstling. Der ist auch wortwörtlich ein Systemsprenger, weil hier jemand den alten Bekannten des deutschen Films heftig die Aufmerksamkeit klaut. Und den Platz im Oscar-Rennen. Bei der Berlinale erhielt dieser ebenso heftige wie lebendige und leidenschaftliche Film den Silbernen Bären für „neue Perspektiven der Filmkunst". Dabei bleibt der Film, der teilweise ein realer sozialer Horrortrip ist, immer beim relevanten Thema der schwer erziehbaren Benni. Das ist extrem packend und richtig großes Kino.