Das erste Festival der neuen Locarno-Leiterin Lili Hinstin zeigte Vielfalt für Entdecker
Locarno. Heute Abend werden auf der Piazza Grande im Südschweizer Locarno die Preise des 72. Filmfestival von Locarno (7.-17.8.) verliehen. Wer unter den Wettbewerbsbeiträgen Favorit auf den Goldenen Leoparden ist, blieb bis Redaktionsschluss umstritten. Eine lebendige Vielfalt an Stilen, Regionen und Themen kennzeichnet diesen neuerlichen Re-Start des sich an vielen Stellen verjüngenden Events.
Arbeitssuche in Brasilien, Tänzerinnen in Paris, Folter in Nordafrika, eine seltsame Insel in Südkorea, ein singender Aussteiger in Portugal, ein wortloser im Norden Amerikas und Helikopter-Eltern in Deutschland - es ist eigentlich selbstverständlich, dass bei 17 Filmen in einem Wettbewerb eine kleine Weltreise zusammenkommt. Doch wenn die zwei, drei besonderen Filme ausbleiben, über die alle reden, bekommt diese Vielfalt viel Raum. Es bleibt für Locarno, wie für alle Festivals jenseits von Cannes und Venedig schwierig, ein durchgehend interessantes, ansprechendes und aussagekräftiges Wettbewerbs-Programm zusammen zu bekommen.
Herausragend war „The Last Black Man in San Francisco" (Regie: Joe Talbot) und passend zur Retrospektive „Black Light", die derart eilig vorgezogen wurde, dass es keinen Katalog gibt. Zwei gute Freunde aus der schwarzen Community versuchen, das enteignete Haus eines Großvaters wieder an sich zu bringen. Auf sehr naive und komische Weise. Weil noch ein weißes Pärchen darin wohnt, kommen sie von weit her wöchentlich vorbei, um Fenster zu streichen, den Garten aufzuräumen und sonst nach dem Rechten zu sehen. Die Geschichte um Gentrifizierung eines Viertels, das die schwarze Bevölkerung einst übernahm, als die Asiaten in Camps gesteckt wurden, ist quasi eine junge Hommage an Spike Lee. Großartig im Stil, wenn die Freunde zu zweit auf dem Skateboard durch San Francisco rollen, dabei am Wegesrand wunderbare Portraits von Menschen der Stadt aufnehmen.
Die meisten Schläfer in der Pressevorführung, aber auch viel Begeisterung sind für Pedro Costas „Vitalina Varela" zu vermelden, der Elends-Geschichte einer Frau, die nach Jahrzehnten auf den Kapverden nach Portugal zurückkehrt, um zu erfahren, dass ihr Mann vor drei Tagen gestorben ist. Die Reaktionen auf den deutschen Beitrag „Das freiwillige Jahr" von Ulrich Köhler und Henner Winckler reichten von positivem Interesse bis zur Abkanzelung als „kleinem Fernsehfilm".
Piazza Grande
„Notre-Dame" der französischen Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin Valérie Donzelli gehörte zu den mehreren „netten" Filmen auf der Piazza, die des Vorgängers Chatrians Tendenz zu harter Action und lautem Hollywood ersetzt. Valérie Donzelli ist selbst Hauptdarstellerin in der Rolle einer Frau, die so sehr gefallen will, dass sie sich gar nichts (zu-) traut. Die in ihrem Architektur-Büro unterdrückte und auch sonst mäuschenhafte Maud, traut sich nicht mal ihren Ex-Mann aus dem Bett zu werfen. Durch einen märchenhaft vom Winde verwehten Architektur-Entwurf wird sie aber zur Siegerin eines 100 Millionen schweren Etats zu Umgestaltung des Vorplatzes von Notre Damme. Eine eitle Bürgermeisterin von Paris ist ihre größte Unterstützerin, doch als die 3D-Präsentation eine Metrostation in Form eines Riesen-Penis vor der Kirche entblößt, gerät das Leben der Architektin so richtig durcheinander. Was als sehr alberne Komödie beginnt, gewinnt durch freche Stilwechsel und durch die muntere Konjugation weiblicher Rollen.
Alles andere als nett dagegen der niederländische „Instinct" von Halina Reijn, einer der Filme, die im Katalog eine Warnung für empfindliche Gemüter bekamen. Während am Tag vorher eine Diskussion über #metoo lief, fällt in diesem atemberaubend packenden Film ausgerechnet der Satz, dass Frauen ja so viele Vergewaltigungs-Fantasien hätten - von einem mehrfachen und äußerst brutalen Vergewaltiger. Doch auch dieser Piazza-Film lässt sich nicht auf ein einfaches Frauenbild reduzieren. Er ist gleichzeitig faszinierend, beklemmend, unerträglich spannend und irritierend, wie die eigentlich knallharte Gefängnis-Psychologin einem trickreichen Monster (Marwan Kenzari) verfällt. Hauptdarstellerin Carice van Houten, die Priesterin aus „Game of Thrones", fungierte auch als Ko-Produzentin.
Mit der Dokumentation „Diego Maradona" (Start am 5.9. in deutschen Kinos) wiederholt Regisseur Asif Kapadia seine Methode, die er schon bei „Amy" (Winehouse), für die er einen Oscar erhielt, und den Rennfahrerfilm (Ayrton) „Senna" anwandte. Er arbeitet vor allen Dingen mit Original-Material, diesmal waren es angeblich 500 Stunden. Das Ergebnis ist allerdings mit über zwei Stunden immer noch zu lang - und vor allem oberflächlich sowie ohne roten Faden. Der extreme Niedergang des argentinischen Fußballers bekommt nur zehn Minuten, die schlimmsten Szenen erspart uns der Film.
Die deutsche Produktion „7500" mit dem Hollywood-Star Joseph Gordon-Levitt hob auf der Piazza als Spielfilm-Debüt von Patrick Vollrath steil ab. Derart gelungene Spannung ohne aufgesetzte Gewalt kann sehr gut die übliche Hollywood-Action ersetzen.
Aber es gab mit „Days of the Bagnold Summer" auch als britischer Humor verkaufte Langeweile auf der Piazza. Die Fallhöhe zwischen den Festivals zeigt der letzte Cannes-Sieger „Parasite" (dt. Start 17.10.), aus Anlass eines Ehren-Leoparden für seinen koreanischen Regisseur Joon-ho Bong („Okja", „Snowpiercer", „Mother"). Der koreanische Beitrag im Wettbewerb von Locarno, „Pa-go" von Jung-bum Park, über eine seltsame Inselgemeinschaft und einer traumatisierten neuen Polizei-Chefin ist ganz interessant, aber weit davon entfernt, international Festival-Karriere zu machen.
Was die Lago Maggiore-Touristen neben den vielen Cineasten erfreuen wird: Das Festival hat äußerlich gründlich aufgeräumt. Der alternative Kramladen auf der sehr großen, tiefer gelegten Verkehrsinsel „La Rotonda" ist jetzt mehr Festival-Gelände mit Bühne, Konzerten und (immer noch) Essbuden. Direkt daneben wurde das Castello Visconteo, ein altes Schloss aus dem 12.–16. Jahrhundert, zum atemberaubend illuminierten und modern beschallten Treffpunkt für nach dem Abendfilm.
Auch hier zeigten die Gespräche: Prognosen waren schwierig. Die Jury-Präsidentin Catherine Breillat („Sex Is Comedy", „Meine Schwester") ist zwar für ihre provokanten und sehr körperlichen Frauenfilme bekannt, aber sie muss ja nicht nur die Filme mögen, die sie selbst macht. Ansonsten hätte sie „Instinct" ausgezeichnet, aber der läuft auf der Piazza, nicht im Wettbewerb. So ist noch einmal für Spannung in der Altstadt am Lago Maggiore gesorgt.