30.10.13

Inside WikiLeaks - Die fünfte Macht

USA, Belgien 2013 (The Fifth Estate) Regie: Bill Condon mit Benedict Cumberbatch, Daniel Brühl, David Thewlis, Carice van Houten, Moritz Bleibtreu, Alicia Vikander 128 Min.

Eine (Medien-) Welt, die sich darüber empört, dass ihre Regierungs-Chefin abgehört wird, und der es egal ist, wenn hundert Millionen Bürger von eigenen und anderen Regierungen ausspioniert werden, ist noch nicht reif für diesen Film. Aber vielleicht bringt „Inside Wikileaks" sie ja unterhaltsam und spannend weiter. Denn selbst wenn Julian Assange als Gründer von Wikileaks letztendlich durch die hier verfilmten Erinnerungen seines Weggenossen Daniel Domscheit-Berg (Sachbuch „Inside Wikileaks") sowie der Guardian-Reporter David Leigh und Luke Harding („Wikileaks") diskreditiert wird - was mutige Whistleblower wie Manning oder Snowden mit Hilfe der revolutionären Enthüllungsplattform geleistet haben, ist atemberaubend und weltbewegend.

„Inside Wikileaks" dreht sich um Nachrichten-Geschichte, wobei die Nachricht diesmal selber Geschichte schreibt, als im Juli 2010 schockierende Kriegsverbrechen der US-Armee dank Wikileaks plötzlich für alle sichtbar werden. Es bleibt allerdings zu diskutieren, ob es sich im engen Presse-Sinne um Nachrichten handelt. Der Konflikt zwischen klassischem Journalismus („die Vierte Gewalt im Staate") und der neuen, Fünfte Gewalt („The Fifth Estate", so auch der Originaltitel) genannten Wikileaks wird treffend aufgefächert und personifiziert.

Julian Assange (Benedict Cumberbatch) und Daniel Berg (Daniel Brühl) trafen sich erstmals beim Berliner Chaos Computer Kongress im Dezember 2007. Dort stellte der legendäre australische Hacker seine Idee von Wikileaks einer Handvoll Zuhörer vor und gewinnt den sehr braven, geerdeten deutschen IT-Spezialisten Berg als Mitarbeiter. Als einzigen Mitarbeiter, wie sich nach der erfolgreichen Bloßstellung von Betrügereien der Schweizer Bank Julius Bär herausstellt. Parallel zum wachsenden Einfluss der Internet-Plattform für politische und wirtschaftliche Transparenz entwickelt sich das Verhältnis zwischen dem wahnsinnigen Visionär, dem neurotischen Egomanen Assange und dem netten, lieben Berg zu einem ungesund symbiotischen. (Anke Domscheit, mittlerweile verheiratet mit Berg, bleibt tatsächlich nur ein Platz am Rande.)

Neben den extrem gegensätzlichen Persönlichkeiten vom deutschen Bürgersöhnchen und dem in einer Sekte aufgewachsenen Manipulator, der verschiedene erschreckenden Geschichten für sein weißes Haar auf Lager hat, steht ein grundsätzlicher Streit zwischen beiden Protagonisten zentral: Soll man etwa zigtausend Nachrichten der us-amerikanischen Diplomatie ungefiltert veröffentlichen? Oder muss man sie bearbeiten und Namen zensieren, um so das Leben darin erwähnter Spione oder gar Unbeteiligter zu schützen, wie Berg meint. Der größte Coup Assanges, die Veröffentlichung der von Manning heldenhaft entwendeten US-Daten zusammen mit Spiegel, The Guardian und New York Times, bedeutet den endgültigen Bruch zwischen den Partnern, weil der eigenwillige Frontmann entgegen der Absprachen alles ungefiltert ins Netz setzt. (Dass in einer viel zu rührenden Nebenhandlung us-amerikanische Regierungsbeamte als Menschenfreunde dargestellt werden, ist eine peinliche Anbiederung des Films an das US-Publikum.)

Für eine psychologische Analyse dieses Konflikts in vielen Nuancen sollte man lieber einen anderen Film sehen. „Inside WikiLeaks - Die fünfte Macht" ist politisch, brisant und hochaktuell. Wie sieht die Zukunft der Medien aus? Wollen wir uns weiter wie blöde Schafe von Regierungen und Geheimdiensten für dumm verkaufen lassen? Wie geht man mit den endlich zugänglichen Staatsgeheimnissen um?

All dies packt Bill Condon in einen spannenden, faszinierend gestalteten Film. Der Regisseur von „Gods and Monsters" sowie „Breaking Dawn" erweist sich als exzellenter Filmemacher selbst bei einem eigentlich undramatischen Stoff über Ideen und politische Visionen. Wie ein virtuelles Großraum-Büro als immer wieder wandelbares, ästhetisch sehr reizvolles Bild die digitale Konstruktion Wikileaks verkörpert, ist genial. Ebenso die Verkörperung von Julian Assange durch Benedict Cumberbatch als Egomanen, in dem ein empfindliches, ängstliches Kind steckt. (Daniel Brühl und Moritz Bleibtreu haben da als deutsche Hacker weniger Möglichkeiten.) Assange bleibt im ironischen Epilog das letzte Wort, in dem er den eigenen, diesen Film als irrelevant abtut, aber auch den hochnotwendigen und essentiellen Aufruf tätigt: „Solange du weiter fragst, bist du gefährlich für sie!"

29.10.13

King Ping - Tippen Tappen Tödchen

BRD 2013 Regie: Claude Giffel mit Sierk Radzei, Bela B. Felsenheimer, Hans-Martin Stier, Godehard Giese, Jana Voosen 103 Min. FSK: ab 12

Klasse Typen unter der Anführung vom ehemaligen Bullen King Clemens Frohwein (Sierk Radzei) machen Wuppertal unsicher in dieser erfrischenden Krimikomödie von Claude Giffel. Wegen seinem neuen Job im Wuppertaler Zoo wird er Frohwein King Ping(uin) genannt. Seit seiner Suspendierung wohnt King im Hinterzimmer des schrillen Szeneladens „Biggi Baby". Bei der singenden Friseuse Biggi (Bela B.) ist immer Party, aber zwischendurch fallen immer mehr Bekannte mit gebrochenem Genick eine der vielen Treppen der Stadt hinunter. Die Deppen von der Polizei glauben an Unfälle, also muss der King wieder ran!

Unterstützt wird er von einer türkischen Miss Moneypenny, von Hans-Martin Stier als schwulem Rausschmeißer und Rocker Wölfken sowie in der Sonderabteilung CSI Grottenolm von zwei befreundeten Tier-Pflegern und Internet-Bloggern. Bela B. gibt genüsslich die transvestite Friseuse Biggi, Christoph Maria Herbst den schleimigen Reporter Schönfeld. Kaffeesüchtig sind sie alle. Bei dieser glänzend aufgelegten Besetzung und dem bunten Strauß an schillernden Figuren kann sich die Krimikomödie eine grandiose und mutige Montage erlauben, jede Szene ob mit oder ohne tolle Musikeinlage ist ein großer Spaß. Und stilistisch ein breit gefächerter Genuss mit ein paar Animationen oder Comic-Einlagen. „King Ping" sieht mal aus wie „Berlin Alexanderplatz", mal wie ein Edgar Wallace-Filmstudio, ist aber jederzeit gelungen und ein unbedingter Hingucker.

28.10.13

Die Nonne

Frankreich, BRD, Belgien 2013 (La religieuse) Regie: Guillaume Nicloux mit Pauline Etienne, Isabelle Huppert, Martina Gedeck, Louise Bourgoin, Françoise Lebrun 107 Min. FSK: ab 12

Frankreich 1765. Das bürgerliche, kluge Mädchen Suzanne Simonin (Pauline Etienne) wird aus Geldmangel - die Schwester heiratet teuer - ins Kloster gedrängt. Ausgerechnet bei ihrer Weigerung kurz vor dem Gelübde beruft sie sich auf Gott, was als arrogant gegeißelt wird. Zurück zu Hause bei der herzlosen Mutter (Martina Gedeck kann Französisch) erfahren wir, woher die vordergründige Kälte kommt: Suzanne kam unehelich zur Welt und soll für die Schuld der Mutter sühnen. Widerwillig beugt sich das Mädchen seinem Schicksal. Doch auch hinter Klostermauern bleibt Suzannes Hunger nach Freiheit und Selbstbestimmung ungebändigt. Mit Mobbing, Hungerstrafen, seelischer wie körperlicher Folter will die sadistische Oberin Christine (Louise Bourgoin) sie brechen. Nach einem melodramatischen Martyrium wird Suzanne in ein anderes Kloster verlegt. Doch empfängt sie die überwältigende aber auch neurotische Zuneigung der lesbischen Mutter Oberin Sainte Eutrope (Isabelle Huppert) …

„Die Nonne" von Regisseur Guillaume Nicloux („Eine ganz private Affäre") basiert auf dem 1796 posthum erschienenen Roman „La religieuse" von Denis Diderot, einem Klassiker der französischen Aufklärung. Also kein Kitsch-Roman, auch wenn die prominent mit Gedeck und Huppert besetzten Randfiguren die Geschichte öfters ins Lächerliche abgleiten lassen. Ausgerechnet die junge Schauspielerin Pauline Etienne hält aber den moralischen Ernst ihrer Figur und des Stoffes aufrecht. „Die Welt braucht Menschen wie sie", heißt es. Das Kino kann auch solche Talente ganz gut gebrauchen, wenn du Mutterschiffe zweier Kinonationen auf Autopilot voll gegen die Wand aktieren.

Vive la France - Gesprengt wird später

Frankreich 2012 (Vive la France) Regie: Michaël Youn mit José Garcia, Michaël Youn, Isabelle Funaro, Ary Abittan 97 Min. FSK ab 12

Wissen Sie, wer Taboulé erfunden hat, den Salat aus Bulgur, Tomaten und Petersilie? Sehen Sie, genau das lässt die Menschen aus Taboulistan, da irgendwo zwischen Iran, Afghanistan und Turkmenistan, so in die Luft gehen, dass niemand sie kennt. Bis zur Idee, dann den Eiffelturm in die Luft zu jagen, damit sich genau das ändert, ist es nicht mehr weit. Fertig ist die hirnrissige Handlung dieses terroristischen Anschlags auf Geschmack und Lachmuskeln im Geiste von Borat - nur nicht ganz so geistreich.

Muzafar (José Garcia) und Feruz (Michaël Youn) wurden im taboulistanischen Terroristen-Camp des Sohnes vom Diktators ausgebildet und -erwählt, das Symbol Frankreichs per Selbstmord-Attentat zu knicken. Von der wüsten Gegend, wo die Frauen jeden Morgen beim traditionellen Tanz geschlagen werden, geht es für Michel Platini und Yannick Noah (so ihre unauffälligen Tarnnamen!) über Land nach Istanbul und per Flieger nach Paris. Doch als der kurz vor der Entführung auf Korsika notlanden muss, beginnt eine Odyssee des Schwachsinns und der heftig ausgewälzten Klischee-Klopse.

Muzafar und Feruz wollen sich von der Insel zu Fuß nach Paris durch- und weiterhin jede Frau schlagen, die sie treffen. Dabei ist weder Korsika, noch Marseille und schon gar nicht Paris wirklich Frankreich, fast überall werden sie vom echten Widerstand und als vermeintlich illegale Einwanderer fast liebevoll unterstützt. Wutbürger und Touristen sind immer schlimmer als Terroristen. Aber eine touristische Rundfahrt gibt den Terroristen den Rest und bringt sie fast von ihrem Ziel ab.

Klingt furchtbar dämlich und ist es auch, wenn der Reis mit den Händen und die Schnecken mit Schale gegessen werden. Doch dass der franzosenhassende Terror-Anführer sich statt Michel lieber Alain Houellebecq nennt und dass dies ein wenig wie Allahu Akbar klingt, hat was. Ebenso, wenn die Märtyrer verhandeln, ob sie statt der 70 Jungfrauen lieber eher mittelalte Frauen bekommen. Die Hymne auf Paris singt treffend ein Belgier, Jacques Brel. Das ist alles selbstverständlich nicht political correct, überhaupt nicht. Aber man kann bei der Gag-Frequenz aus Rohrkrepierern, Peinlichkeiten, Idiotien, französischen Insider-Scherzchen und herrlich Absurdem nicht mitzählen, wer mehr abbekommt: Die Ausländer oder die Franzosen.

Mit ganz viel, von billigen Balkan Beats der „Freaks" angeheiztem Gutem Willen, lässt sich die allerseltsamste Szene mit einem Immigrationsbeamte, der sie in Plüschkostüme steckt, als politische Satire genießen. Ein paar Momente gerieten unvergleichlich gut, haben glatt „Little Britain"-Niveau, wie der Waffen- und Sprengstoffdealer mit der keifenden Mutter und dem Kamikaze-Hamster. Doch es währt nicht lange, dann folgt der nächste frauenfeindliche Scherz, und er wird nicht besser in der Wiederholung.

Thor - The Dark Kingdom

USA 2013 (Thor: The Dark World) Regie: Alan Taylor mit Chris Hemsworth, Anthony Hopkins, Natalie Portman, Tom Hiddleston, Stellan Skarsgård 130 Min.

Karneval ist noch weit, aber schon prügeln sich wieder Leute in Ritterrüstungen aus Plastik: Auch der zweite Thor aus der Marvels Comic- und Film-Produktion ist über lange Strecken alberner Mummenschanz, doch zum Glück kommt zu den Göttersagen aus Comicheften eine Portion Klamauk durch Sterbliche von der Erde wie Natalie Portman als Wissenschaftlerin Jane. Und wenigstens im Finale dank Science Fiction ein Stück überraschend spannender Film.

Die ersten Minuten mit aufwändigem Gemetzel und "was die letzten 5000 Jahre geschah"-Geschwätz kann man sich - wie das 3D - ruhig sparen. Mäßig interessant wird es erst, als Forscherin Jane ("ich Thor, du Jane") sich wieder auf die Suche nach enormen Gravitäts-Phänomenen und nach ihrem göttlichen Lover Thor (Chris Hemsworth) begibt, der nun bereits zwei Jahre verschwunden ist. Etwas zu zufällig findet sie die dunkle Macht namens Äther und weckt damit eine Herde Orks, die über schicke Raumschiffe verfügen. Selbstverständlich wollen auch sie die ganze Schöpfung in ein dunkles Königreich verwandeln - gähn. Das Durcheinander aus Genres und Fantasy-Elementen anderer Filme ("Star Wars", "Herr der Ringe") ist scharf an der Grenze, ganz billig zu wirken. Mal wieder sollen neun Planeten (s. Polanskis „Die neun Pforten") und Welten in Konstellation wie an der Schnur aufgereiht, für Unheil und viele Schwarze Löcher sorgen. Zwanghaft eindrucksvolle Weltall-Flüge an Thors Hammer werden von grob lauter Musik gepuscht.

So bringt vor allem Schwiegertochter Jane Ärger und Spaß in Odins (Anthony Hopkins) öden Götter-Science Fiction. Die bleichen Gegner heizen derweil den Asgard-Recken und ihren mittelalterlichen Waffen mit raffiniert Krummdolchen und Alien-Köpfen nachempfundenen Raumschiffen, angerosteten Panzerfäusten und Implosions-Granaten ein. Für Romantik oder ein schön kitschiges Begräbnis für Thors Mama Freia bleibt da nur ganz wenig Zeit. Die Erde dient dem Film als Spielball und Comedy-Bühne, auf der selbst Thor seinen Hammer an die Garderobe hängt. Die selbst beim Zuschauen ermüdenden Prügeleien schwingen sich nur im Finale beeindruckend ins göttliche Sphären auf, wenn Figuren, Autos und Urzeit-Ungeheuer wie Flipper-Kugeln durch Schwarze Löcher im Universum herumhüpfen. "Mind the Gap" mahnt dazu die Stimme der Londoner U-Bahn - passt auf die Löcher auf!

Der legendäre Comic-Autor und Ko-Produzent Stan Lee hat wieder seinen humorigen Kurzauftritt als Busfahrer. In der Hauptrolle bleibt Chris Hemsworth, der James Hunt aus „Rush" und der Thor aus „Thor" eindimensional heldenhaft. Am meisten Profil hat noch die Großaufnahme von Bauch und Muskel, die allerdinges arg nach Plastik aussehen. Odin Anthony Hopkins bekommt kurz Züge von Heerführer Hitler, langweilt aber ansonsten mit vorhersehbarem Vater-Gehabe. Genial bösartig und cool dagegen Tom Hiddleston als sein Bruder Loki, dem auch der Schlusspunkt gebührt - mit einem fiesen Cliffhanger für die nächste Fortsetzung.

23.10.13

Exit Marrakech

BRD 2013 Regie: Caroline Link mit Samuel Schneider, Ulrich Tukur, Hafsia Herzi, Josef Bierbichler, Sophie Rois, Marie-Lou Sellem 118 Min. FSK: ab 6

Er solle doch eine Geschichte mit aus dem Urlaub bringen, gibt der Internats-Direktor (Josef Bierbichler) dem 17-jährigen intelligenten, aber gelangweilten Ben (Samuel Schneider) mit auf den Weg. Ben trifft in Marokko seinen Vater Heinrich (Ulrich Tukur), der in Marrakech „Emilia Galotti" (auf deutsch!) inszeniert. Der früh aus seines Sohnes Leben verschwundene Theaterregisseur holt Ben nicht selbst ab, es gibt auch keine Umarmung zur Begrüßung. Ein überdeutlicher emotionaler und zeitlicher Graben trennt sie, das ist auch ohne viel dialogischen Leerlauf klar. Als kleine Rache verschenkt der Junge des Vaters Sachen an Straßenkinder. Und lernt auf einem nächtlichen Streifzug - die unruhige Kamera wackelt vor lauter überwältigender Eindrücke - die junge Prostituierte Karima (Hafsia Herzi) kennen. Während der Senior nur Paul Bowles am Hotelpool liest, weil „das echte Marrakech total verbaut ist", folgt Junior der Marokkanerin spontan in die Berge zu ihrer Familie. Auch wegen der Zuckerkrankheit des Sprösslings beunruhigt, reist Heinrich hinterher und irgendwann finden beide Reisewege zueinander.

Familie sei immer Stress, meint Bierbichler als Schuldirektor und zitiert Tolstois „Anna Kerenina", dass „jede auf eigene Weise unglücklich sei". Das trifft allerdings nicht ganz auf diese Familie, auf dieses Vater-Sohn-Verhältnis zu, welches sich eher unoriginell darstellt. Bens Eltern sind als Künstler immer unterwegs, von der überfürsorglichen Mutter gibt es zu viel süße Liebe, vom Vater keine erkennbare - so könnte man die Zustände der Diabetes ausbuchstabieren. Die Begegnung mit dem Fremden, die Liebe eines Unerfahrenen zu einer Einheimischen, das hat Detlev Buck mit seinem Ben bei „Same Same but different" in einer rasanten Szene abgehandelt. Caroline Link, die 2003 einen Oscar für die Stefanie Zweig-Adaption „Nirgendwo in Afrika" erhielt, erzählt sehr umfassend, zu behutsam und zu viel erklärend.

Obwohl sie reichlich Landschaft vor die Kamera von Bella Halben nahm, beeindruckt diese nicht sonderlich, macht aber zumindest neugierig auf das echte Erleben. Dünen herunter zu skien ist keine existenzialistische Erfahrung, erst in der letzten halben Stunde kommen die Herren bei ein paar Joints zum Aussprechen und Kennenlernen. Dann darf endlich auch die Zuckerkrankheit für ein paar Minuten Spannung sorgen, doch „Exit Marrakech" nähert sich nur fast dem langsamen Entschwinden von Bowles' „Himmel über der Wüste". Aber selbst dies verläuft dramaturgisch im Wüstensand. Denn die Entschleunigung kam zu spät, der Film war bis dahin eher ungeschickt ausführlich. Er erzählte träge, kam aber zu selten in den „Flow" der fremden Eindrücke.

Der jungen Samuel Schneider („Boxhagener Platz") trägt die schwierige Rolle und die lange Leinwandzeit gut. Ulrich Tukur („Huston", „Das weiße Band", „Das Leben der Anderen") hat als Vater nicht die forderndste Rolle. Hafsia Herzi, die schon mit ihrem sensationellen Auftritt in „Couscous mit Fisch" begeisterte, wird leider irgendwo auf der Strecke vergessen. Es bleiben unvollendete Seitenblicke auf die Situation der Frauen in Marokko, westliche Kultur-Arroganz, eine Patchwork-Familienaufstellung und die Hoffnung, dass Caroline Link ihr Talent mal etwas mutiger herumstreunen lässt.

Meine keine Familie

Österreich 2012 Regie: Paul-Julien Robert 93 Min. FSK: 12

Der Schweizer Regisseur Paul-Julien Robert wurde 1979 in die Otto-Muehl-Kommune hineingeboren und begibt sich in „Meine keine Familie" auf eine persönliche Reise in die eigene Vergangenheit. Er beginnt offen zu erzählen, ohne Dämonisierung oder Verurteilung des alternativen Lebens, führt in eine andere Zeit ein, in der Männer die Arbeitsverträge ihrer Frauen unterschreiben durften und Schlagen normal war. Auch seine Mutter berichtet unverstellt von den gesuchten Formen der Psychoanalyse, von der freien Sexualität und dem Gemeinschaftsleben in der einst berühmten österreichischen Kommune Friedrichshof. Dann musste die Mutter eine Arbeit in der Schweiz aufnehmen und ließ ihren vierjährigen Sohn zurück. Ab hier wirken die Theorien Otto Muehls wie ein Hohn.

Da die Kommune ihr eigenes Leben dokumentierte, fand der Autor reichlich Film- und Foto-Material in tausenden Stunden Videoaufnahmen. Darin sieht er seine möglichen Väter und die großen, inqisitorischen Versammlungen unter Leitung Muehls. Gleichzeitig besucht er seine „Familie", andere Kinder, mit denen er zusammenlebte. Darüber findet mehr und mehr die Auseinandersetzung mit dem einstigen Übervater Otto Muehl selbst statt. Zuerst erzählen die Gesichter von Verletzungen und Wut, man ahnt erst und erfährt später, was passiert ist, von den „sexuellen Einführungen" der Kinder durch Muehl und seine „erste Frau". Die Fragen werden eindringlicher, die Auseinandersetzung härter.

Nach der Einleitung von gerichtlichen Voruntersuchungen gegen Muehl und zunehmender Unzufriedenheit vieler Kommunenmitglieder wurde Ende der 80er-Jahre der gesamte Besitz in eine Genossenschaft eingebracht und 1990 löste sich das gemeinschaftliche Lebensexperiment auf. Otto Muehl wurde im Herbst 1991 wegen Unzucht mit Unmündigen verurteilt.

22.10.13

Sputnik

BRD, Belgien, Tschechien 2013 Regie: Markus Dietrich mit Flora Li Thiemann, Finn Fiebig, Devid Striesow, Yvonne Catterfeld 83 Min. FSK: o.A.

In diesem Glücksfall von Kinderfilm erzählt „Sputnik", wer in Wahrheit wirklich die Mauer fallen ließ, die bis 1989 zwei deutsche Staaten voneinander trennte. Denn nicht „Gorbi" oder der Lesefehler eines Ostpolitikers brachten 16 Millionen Ostdeutschen die Freiheit, auch nicht die Scorpions erschütterten mit ihrem Gitarrenkrach den Beton. Nein, ein paar Kinder im Brandenburgischen Dörfchen Malkow haben Science Fiction gespielt und dabei Geschichte geschrieben.

Am 3. November 1989 erwartet das ostdeutsche Dorf den Überflug des Sputnik und die aufgeweckte Friederike Bode (Flora Li Thiemann) will selber per Ballon einen Satelliten starten. Was geht uns die Mauer an, wir wollen Kosmonauten werden, meint das starke Mädchen. Friederike widerspricht gerne mal und „wird sich nie anpassen". Deshalb hat sie der Dorf-Volkspolizist, der Abschnittsbevollmächtigte Mauder (Devid Striesow knurrt als Vopo-Karikatur erst mal nur) auch immer auf dem Kieker.

Als Friederikes toller Onkel Maik, der schon mal im Gefängnis war, ausreisen darf, muss das innerhalb eines Tages geschehen. Für das Mädchen bricht eine Welt auseinander, aber sie verwandelt die ganze verzweifelte Situation in eine ihrer geliebten Science Fiction-Geschichten. In muss ihr Kapitän Maik aus dem umzingelten Westberlin zurück gebeamt werden.

Der Countdown wenige Tage vor der Mauer-Öffnung am 9. November 1989 zeigt ohne Ostalgie und kind- wie jugendgerecht die letzten Tage der DDR: Immer mehr hauen in den Westen ab, wenn in der Klasse wieder jemand fehlt, heißt das offiziell Erkältung. Immer noch werden Geschäfte und Beschaffungen von „Bückwaren" unterm Ladentisch getauscht. Doch der nette Herr Karl wird deshalb von der Volkspolizei verhaftet.

Der gelungene Film für die ganze Familie und die ganze Nation hat viele nette Kinderkrimi-Ideen wie ein Geheimfach im Gipsarm von Heldin Friederike. Als großartiger Einfall fallen Riekes Versuch, sich nach West-Berlin zu beamen, und die Öffnung der Mauer zusammen. So glauben die Kinder, sie hätten ein ganzes Dorf teleportiert. Und tatsächlich sehen sie ihre Eltern im Westfernsehen auf der anderen Seite der Mauer. Auch die Älteren haben viel zu Lachen, wenn der ewig gestrige Vopo am Ende, das ein Anfang ist, völlig verwirrt meint „Sie haben Erich umgebracht!" Gemeint ist zwar sein Riesenkarnickel, doch da gab es noch einen anderen Erich der immer unverständlich rummümmelte.

21.10.13

Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen 2

USA 2013 Regie: Cody Cameron, Kris Pearn 95 Min. FSK ab 0

Es ist wieder „Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen"! Diesmal regnet es keine Speisekarten vom Himmel, aber der überbordend komische und ideenreiche Zeichentrick überschüttet sein junges Zielpublikum mit Tacodilen, Shrimpansen, Nilpfertoffeln, Frittantulas und anderen wilden Ess-Tier-Kreationen.

Die knallbunte Animation setzt den Vorgänger nahtlos fort, ohne auch nur minimal Schwung zu verlieren: Nachdem das junge Genie Flint Lockwoods mit seinem FLDSMDFR (sprich: Flitzem-deför), der Essen regnen ließ, für heftige Unwetter sorgte, steht jetzt der vertrauten kleinen Gemeinschaft von Swallow Rock eine Umsiedlung nach San Francisco bevor, damit die Insel von den meterhohen Speiseresten in allen Farben und Formen gereinigt werden kann. Ausgerechnet das Hologramm von Flints großem Idol Chester V leitet die Evakuierung für seinen Nahrungskonzern Live Corp. Der ziegenbärtige Industrie-Führer lädt Flint zu einem vom Koffein angetriebenen Hightech- und Erfinder-Campus ein. Doch sein große Ziel, einer der Denkonauten des Gurus zu werden, erreicht Flint nicht. Dafür wird er zurück zur Insel geschickt, um in einem Himmelfahrtskommando den verschollenen FLDSMDFR aufzutreiben.

Während der flotte und spritzige Film einen bislang mit Einfällen zuschüttete wie eine Lebensmittel-Lawine, geht er nun zwar nicht runter mit dem Ideen-Tempo, doch ab und zu bleibt Zeit zum Staunen angesichts eines Jurassic Parks aus tierisch animierten Pflanzen. Neben riesigen Fressmonstern grasen Sushi-Schafe und in Tümpeln tummeln sich Wassermelofanten neben Mango-Flamingos. Doch fieses Essen will die Freunde fressen. Das ist ebenso atemberaubend verrückt gezeichnet wie es klingt und hört nie auf zu überraschen. Handlungsmäßig ist die wolkige Angelegenheit ein B-Picture Science Fiction, in dem sich zum bekannten Team aus dem ersten Teil - samt Affe als Sidekick - eine anhängliche Erdbeere namens Beerchen gesellt.

Flint lässt sich als naiver Wissenschaftler von einem bösen Imperium instrumentalisieren, das die coolste, hippeste Firma der Welt und Lebewesen zu Energieriegeln verarbeitet, Version 8.0. Im farbenfrohen Spaß, das wirkt, als hätte man Dali in ein Animations-Programm eingespeist, mischt sich ein Tupfer Soylent Green. Das klingt nach ganz konkreter Konzern-Kritik, aber Steve hieß der Affe mit den Jobs als Spaßmacher und Laborratte schon immer.

Wie Steve sind fast alle Figuren auf einer Überdosis Zucker und Koffein unterwegs, was wohl auch ein Hinweis auf die Ernährung der Kreativen hinter diesem Film ist. Im Ergebnis ist „Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen 2" so knallbunt, dass die Augen einen Zuckerschock bekommen könnten, aber auch durchgehend witzig und originell gezeichnet. Leider versau(er)t die deutsche Synchro das Vergnügen mit untalentierten Sprechern, die sich zum Affen machen, nur das Plakat aufwerten und dabei den Film schwächen.

16.10.13

Insidious: Chapter 2

USA 2013 (Insidious: Chapter 2) Regie: James Wan mit Patrick Wilson, Rose Byrne, Ty Simpkins 106 Min. FSK: ab 16

Ein Geist sucht Hollywood heim - der Geist der Wiederholung und der Einfalt: Gruselfilme nach Schema F sind mittlerweile bei Schema O, P und Q angekommen, wenn man analog zu den C-Promis buchstabiert. Dabei war der erste Teil doch recht unblutig und sehr spannend. Die Handlung wurde angetrieben von neuen Wendungen, so wie die Szenen im Schnitt mit vielen kleinen Sprüngen beschleunigt wurden. Die Fortführung jetzt, die mal keine freie ist, sondern bei der Familie Lambert bleibt, stammt zwar vom gleichen Regisseur James Wan, der mit der „Saw"-Reihe berühmt und reich geworden ist, aber irgendwie scheint er diesen Film im Koma gemacht zu haben.

Womit wir beim Thema wären, Papa hatte damals seinen Sohn aus dem Koma gerettet, liegt jetzt aber selbst in einem solchen. Derweil will irgendwas zuhause bei der Familie auf sich aufmerksam machen. Zur Begrüßung sagt die Geisterjägerin: In meiner Branche passieren Dinge, wenn es dunkel wird. Genau, immer wenn es dunkel wird, sollen wir Angst haben und uns erschrecken. Dabei steht schon nach fünf Minuten die entscheidende Frage an den Geist, der das Haus befallen hat, fest: Was willst du hier? Der erste Schockmoment kommt dann nach sieben Minuten und die absolut geistlose Routine ist so schreiend wie die Tonspur. Die Auflösung lässt eine zu lange Weile auf sich warten. Ein paar Fragen bleiben: Wieso das alles immer wieder? Und: Wenn man sich erschrecken will, warum schaut man dann nicht einfach in den Politikteil der Zeitung - oder auch in die Klatschspalten?

Finsterworld

BRD 2013 Regie: Frauke Finsterwalder, mit Ronald Zehrfeld, Sandra Hüller, Michael Maertens, Margit Carstensen, Corinna Harfouch 95 Min. FSK: ab 12

Was machen die Deutschen denn so, wenn sie nicht shoppen oder Fußball schauen? Mit der Schulklasse ein KZ besuchen? Die Füße von Seniorinnen im Altenheim pflegen und ihnen dazu die eigene abgeraspelte Hornhaut in Kekse eingebacken verfüttern? In flauschige Tierkostüme schlüpfen und dann auf Partys kuscheln gehen! „Finsterworld", das äußerst bemerkenswerte Spielfilm-Debüt von Frauke Finsterwalder versammelt viele solcher faszinierenden Momente und erzählt reizvolle Geschichten mit skurrilen Menschen. Das Drehbuch zu „Finsterworld" schrieb Finsterwalder gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Bestsellerautor Christian Kracht, auf Basis von dessen Roman „Faserland" aus dem Jahr 1995.

Finsterwalders „Finsterworld" fährt für ein Debüt eine erstaunliche Besetzung auf: Corinna Harfouch ist als Inga Sandberg Teil eines reichen Zyniker-Pärchens, das sich in einem dieser gepanzerter SUV-Monster fortbewegt und zu wissen meint, was an der Welt nicht stimmt. „Man sitzt in der Blase und hört nichts!" - so scheint ihr höchstes Glück auszusehen. Ronald Zehrfeld, der Arzt aus „Barbara", hat als Polizist Tom zuhause ein sehr kompliziertes Leben mit der völlig verdrehten, egozentrischen Dokumentar-Filmerin Franziska Feldenhoven (eine tolle Sandra Hüller-Rolle), mit ihrem Sozialarbeiter-Gestus und den Haneke-Schwärmereien. Als Ausgleich schlüpft er von der Polizei-Uniform in die Rolle eines Eisbär-Teddys. Beim Treffen von Furrys - Menschen die als Kuscheltiere verkleidet miteinander schmusen - findet er endlich Zuwendung. Auch Carla Juri, die Hauptdarstellerin aus „Feuchtgebiete", taucht auf: Als überlegen intelligente Schülerin eines Eliteinternates wird sie von neidischen Jungs im Krematorium eingesperrt und der rettende Lehrer, ein anstrengender Gutmensch, bekommt auch noch die Schuld an allem. Derweil sucht ein vermeintlich schusseliger Fußpfleger besonders viel Kontakt und verbirgt sein abgründiges Geheimnis in süßen Knabber-Herzen.

„Finsterworld", ein Episoden-Film der nicht netten Art, zeigt ein Mosaik aus extremen deutschen Typen. Das ist sehr unterhaltsam und auch witzig. Man muss daraus überhaupt kein Panoptikum deutscher Befindlichkeiten ablesen, aber die Stichworte dazu sind da. Im deutschen Wald lebt ein extremer Natur-Freund mit seiner Krähe, der mit seiner Rache genau den Falschen tödlich treffen wird. Das KZ ist ebenso präsent wie ein unverschämter Reichtum, der glaubt, an den Autobahnraststätten für das Volk würden immer Mordopfer rumliegen. „Finsterworld" liegt direkt hinter Kehlmanns „Ruhm" und östlich von Martin Gypkens „Nichts als Gespenster", hat einen ganz eigenen Stil und ist auf jeden Fall einen Besuch wert.

15.10.13

Mein Weg nach Olympia

BRD 2013 Regie: Niko von Glasow

Er mag keinen Sport, findet dass die Paralympics zu teuer sind und außerdem sollen sie nur kaschieren, welche Probleme die Gesellschaft mit Behinderten hat! Scheinbar nicht die besten Voraussetzungen für einen Film über behinderte Sportler und ihre Paralympics 2012 in London. Doch der Kölner Niko von Glasow, der seinen dicken Bauch und Hintern ebenso betont, wie seine Contergan-Behinderung („Regisseur mit kurzen Armen"), ist ein hervorragender Filmemacher und „Mein Weg nach Olympia" deshalb ein kluger, vielschichtiger Blick hinter die Kulissen erfolgreicher Sportler.

Nein, Niko von Glasow hat keinen Sportfilm gemacht: In der Mixed Zone nach dem Wettkampf kann er bei Euphorie oder Tränen nicht die übliche „Was haben Sie empfunden?"-Frage stellen. Dafür kennt er die Athleten besser als andere, manchmal sogar besser als sie selbst sich kennen. Wir dürfen sie auf einer Weltreise mit ihm kennenlernen: In Berlin fährt er mit der einbeinigen Schwimmerin Christiane Reppe auf Spinning-Rädern und backt danach Pfannkuchen. Miss Perfect sei sie nicht: „man muss damit leben, was man hat", aber eigentlich fehle ihr nichts.

Nun ist von Glasow, der unter anderem den Deutschen Filmpreis 2009 erhielt, witzig, oft zynisch und nicht nett im Sinne von harmlos. Er lässt es nicht bei der Behauptung „ich bin glücklich, weil ich einer der besten in irgendwas bin", wie der gelähmte griechische Softball-Bocciaspieler Greg Polychronidis meint. Von Glasow fragt den amerikanischen Waffennarren und Bogenschützen Matt Stutzman, weswegen er dauernd Bestätigung braucht. Später kommt dann die junge, fröhliche Christiane Reppe mit dem Geständnis, dass doch nicht alles gut sei und sie eine Mauer um sich herum aufbaue. Aber da bricht ihr Trainer das Gespräch ab...

Egal ob Sitz-Volleyballer aus Ruanda, die mit ihren durch Bürgerkriegs-Minen amputierten Beinen über des Deutschen Contergan-Arme staunen, ob die adoptierte norwegische Tischtennis-Hoffnung Aida Dahlen, die nie Filme über den Bürgerkrieg aus ihrer ursprünglichen Heimat Bosnien sah - mit der ihm eigenen, hinter viel Selbstironie versteckten Wut trifft von Glasow diese Menschen bei ihrem Schmerz, den sie mit Sport überspielen wollen. Trotzdem ist „Mein Weg nach Olympia" ein witziger Film, nicht nur wenn Niko mit dem zum Freund gewordenen Greg im antiken Olympia Boccia spielen will und seinen Film „Triumph des Willens - Teil 2" nennt.

Einzelkämpfer

BRD 2013 Regie: Sandra Kaudelka 93 Min.

Es sind fast poetisch schöne Aufnahmen von Kindern, die in einem Riesenbecken unter Wasser spielen. Doch diese verzauberten Aufnahmen sind vergiftet: Die Regisseurin Sandra Kaudelka erlebte selbst eine Kindheit bestimmt von Chlorwasser - „zu einer anderen Zeit in einem anderen Land". Sie rettete das Ende der DDR vor dem Leben einer Leistungssportlerin. Und in ihrer sehenswerten Dokumentation „Einzelkämpfer" stellt sie vier unterschiedliche ostdeutsche Spitzelsportler vor.

Die DDR ist längst Geschichte, aber ihre großen Vorbilder gibt es noch. Der berühmte
Kugelstoßer Udo Beyer arbeitet in seinem eigenen, eher trostlosen Potsdamer Reisebüro. Die Kugel, die drei Weltrekorde miterlebt hat, beschwert ein paar Kataloge. Klar und ohne Reue fast er zusammen: „Leistungssport war Kapitalismus im sozialistischen System".

Seinem Stolz, seiner Zufriedenheit steht die kämpferische Kritik von Ines Geipel gegenüber, die für ihre Aufbereitung des DDR-Sportsystems ein Bundesverdienstkreuz erhielt. Oder als lebende Legende, die absolute Ausnahmesportlerin Marita Koch. Sie ist bis heute schnellste 400 Meter-Läuferin der Welt. Einer ihrer 16 Weltrekorde, bei denen sie sich meistens nur selbst übertraf, hat nach 28 Jahren mit 47,6 Sekunden immer noch Gültigkeit. Marita Koch wollte einfach etwas von der Welt sehen- und kennenlernen.

Erstaunlicherweise kann man in der offenen Dokumentation die Kritikerin Geipel ebenso verstehen wie die vermeintliche „Mitläuferin" Koch. Wobei die konkrete körperliche Verstümmelung durch das System, von der Ines Geipel nur zögerlich erzählt, schwer erschütternd bleibt. Beim unausweichlichen Thema Doping erweist sich diese Offenheit des Film als schwierig: Beyer erzählt, dass er alles wusste, was mit ihm gemacht wurde, meint „einem Ackergaul, kannst du soviel Doping geben wie du willst, der wird nie ein Rennpferd". Doping sei vielleicht zwei, drei Prozent, der Rest sei harte Arbeit. Die vermeintliche Rebellin Geipel, die Vertreter des „Unrechtsstaates" erfolgreich verklagte, reflektiert die Praktiken, nachdem sie von der Stasi aus dem Leistungssystem rausgeworfen wurde.

Dass ein breites Angebot an Südfrüchten die Entscheidung für eine Sportschule fallen lässt, ist jenseits der Klischees immer noch ein echtes Stück DDR-Geschichte. „Einzelkämpfer" verbindet persönliche, Sport- und Welt-Geschichte in einer eher unauffällig daherkommenden Dokumentation, mit immer wieder ästhetisch gelungenen Aufnahmen.

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Dem aus Aachen stammende Produzent Martin Heisler gelang mit seiner Berliner Firma Lichtblick nach den Erfolgen mit David Sieveking („David wants to fly", „Vergiss mein nicht") erneut eine bemerkenswerte Doku-Produktion, kurz bevor das große Spielfilm-Projekt „Houston" mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle in die Kinos kommt.

Alles eine Frage der Zeit

Großbritannien 2013 (About Time) Regie: Richard Curtis mit Domhnall Gleeson, Rachel McAdams, Bill Nighy, Lydia Wilson, Lindsay Duncan 118 Min.

Und ewig grüßt die „Murmeltier"-Idee: Dass Zeitschleifen ganz praktisch sind, wenn man bei der Liebsten alles ganz richtig machen will, wissen wir seit Bill Murrays unfreiwilligen Wiederholungen des einen, ewig gleichen Tages in „Und ewig grüßt das Murmeltier". Nun lernen wir bei Richard Curtis, dem Drehbuchautor von „Vier Hochzeiten und ein Todesfall", „Notting Hill" oder „Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück" eine sehr schön romantische aber auch lebensbejahende Variante kennen.

Denn Tim (Domhnall Gleeson) entstammt einer netten britischen Familie, die nicht nur Sandwiches am Strand und Open Air Kino bei jedem Wetter zu ihren Traditionen zählt. Nein, in dieser leicht skurrilen Familie können Männer, wenn sie sich in einem dunklen Raum einen bestimmten Zeitpunkt der eigenen Vergangenheit vorstellen, dorthin zurückreisen. Was für Tim erst ein Witz und dann ein Schock ist, als es ihm sein Vater (der geniale Bill Nighy) zum 21. Geburtstag erklärt und prompt ein verpasster Kuss an Silvester im zweiten Versuch gelingt. Ansonsten erweist sich diese Gabe jedoch als schwierig zu beherrschen. Der Sommer mit Tims erster großer Liebe erwies sich als Katastrophe und zudem sagte sie ihm am letzten Abend, er hätte ihr doch seine Liebe früher gestehen sollen. Im zweiten Anlauf sagt die gleiche Frau zu Beginn der Ferien dann, er solle doch auf den letzten Abend warten. Frauen!

Um die dreht sich aber trotz der weisen Warnungen des Vaters alles - vor allem dann um die wahre Liebe Mary (Rachel McAdams), die Tim bei einem Blind Diner kennenlernt. Und wieder verpasst, weil er in einer weiteren Zeitschleife die gescheiterte Premiere des Theaterstücks seines Vermieters gleichzeitig zurechtrücken muss. Das ist verwirrend im oft unerwarteten Ergebnis, aber immer nett in der filmischen Präsentation vom rothaarigen, schüttern wirkenden Tim.

Als junger Anwalt verliert er selbstverständlich nie einen Fall, aber fast seine verträumte Schwester, die sich immer die falschen Männer aussucht. Da könnte man nachhelfen, aber dann sieht das eigene Kind plötzlich ganz anderes aus. Doch auch wenn Zeitreisen besonders kniffelig werden, weil auch der Vater sie beherrscht, verliert sich „Alles eine Frage der Zeit" nie an diesen Science Fiction-Kram. Die Liebe zum Vater, die gemeinsame Zeit, die aus der sie sich trotz einer schweren Krankheit immer wieder eine Schleife weiter heraus stehlen, ist das viel wichtiger und berührender.

Wenn dann Tim beim Begräbnis des Vaters kurz weggeht, um diesen zu Lebzeiten noch mal zu besuchen, dann ist dieser nicht nur in seiner zeitlichen Verschachtelung ohne viel Dramatik sehr tief gehende Film tatsächlich mal eine Geschichte, die man so noch nicht gesehen hat.

Zeitreisen helfen zwar nicht, jemanden in sich verliebt zu machen, doch ganz unauffällig zwischen Lachen, Schmunzeln und Dahinschmelzen bei Szenen und Songs verliebt man sich in diesen Film, der längst mehr als Tims Suche nach dem Glück zeigt. Das große Geheimnis, die Formel für ein glückliches Leben, scheint das Leben selbst zu sein. Umgeben von schönen Menschen, mit denen man in einer Familie sein möchte. Tim beginnt, jeden Tag noch einmal zu leben und dabei auf die guten Dinge zu achten, ohne sich über die blöden zu ärgern. Schließlich merkt er, das kann man auch ohne Zeitreisen! Eine gar nicht kitschige Weisheit, die man neben bester Unterhaltung aus dem Kino mitnehmen kann. Denn wir sind ja alle irgendwie Zeitreisende.

14.10.13

Drecksau

Großbritannien, BRD, Belgien, Schweden, USA 2013 (Filth) Regie: Jon S. Baird, mit James McAvoy, Jamie Bell, Eddie Marsan, Jim Broadbent, Imogen Poots 94 Min.

Wenn Irvine Welsh, der Autor von „Trainspotting", mit seinem sogenannten Skandalroman „Drecksau" ins Kino kommt, sollte man sich fest- und der zartbesaiteten Begleitung die Ohren zuhalten. Denkste. Erstmal. Denn der schottische Cop Bruce Robertson (James McAvoy) ist höchstens eine Vorabend-Version vom Abel Ferraras „Bad Lieutenant" Harvey Keitel. Selbst wenn Robertson flucht, rumhurt, kokst, Pillen schluckt, erpresst und unterschlägt. Denn schließlich war es die Polizeiwillkür, die den kleinen Bruce früh für diesen Beruf begeistert hat - so was wollte er auch machen!

Im Wettrennen um die Beförderung zum Inspektor sieht sich der schottische Proll-Bulle selbst als Favorit und vor allem als hinterhältigster Intrigant. Er weiß sicher nicht, wer Machiavelli ist, aber auch diesem Itaker würde er es zeigen. Selbstverständlich vor allem im Bett. Denn noch mehr als die Karriere-Ränke - der Mordfall bleibt Randnotiz - interessiert ihn der Sex. Mit jeder, die sich irgendwie rumkriegen lässt. Selbstverständlich auch mit der Frau des Kollegen und dann noch mit der des einzigen Freundes. Den Rest der Kollegen macht er einfach so fertig...

Die schottische Arbeiterstadt Glasgow zeigt sich mit pinkelnden Weihnachtsmann und mörderischen Neonazis in der Unterführung als dreckig vorweihnachtlich. Süßliche Lieder rieseln mit Koks und Kotze um die Wette. Lange wirkt all dies nicht wirklich schockend, der kontrapunktische Song-Einsatz ist erst in der Schlussszene so krass und creep-y wie in der BritCrime-Komödie „Sexy Beast". Denn die „Drecksau" als Film verlässt sich in Sachen Schockwirkung sehr auf den Buchtext, was bei guter Literatur nicht das Schlechteste ist. Hier, in der deutschen Synchronisation, sorgt die drastische Sprache nur mäßig für Pep und Spaß.

Auch die Hauptfigur Bruce Robertson beginnt mit wenig Charakter, weder guten noch fiesen. Erst als sich die Tragik dieser zutiefst verschrobenen und zerrütteten Persönlichkeit offenbart, bekommt der Film eine emotionale Wucht. Denn nicht nur die Trennung von Frau und Kind belastet den Alkoholiker, im Spiegel schaut ihm immer wieder die verweste Leiche seines kleinen Bruders über die Schulter. So geraten Realität und Wahnvorstellungen mehr und mehr durcheinander, die Visionen mit dem wahnwitzigen Psychiater Dr. Rossi (Jim Broadbent) gehören zum Besten des Films. Auch Nebendarsteller Eddie Marsan als leichtgläubiger Trottel Bladesey und Shirley Henderson als dessen lüsterne Frau Bunty halten den Film über Wasser bis das - für Nicht-Leser - überraschende Ende mit heftiger Emotionalität zuschlägt. „Creep" Robertson, der Frauen-, Schwulen-, Fremden- und irgendwie Alles-Hasser, gewinnt ganz unten in der Gosse mit einer unerwarteten Seite seiner Persönlichkeit doch noch Sympathien. Und der Film bekommt die Kurve zum Sehenswerten.

8.10.13

Prisoners

USA 2013 (Prisoners) Regie: Denis Villeneuve mit Hugh Jackman, Jake Gyllenhaal, Maria Bello, Terrence Howard, Melissa Leo, Paul Dano153 Min. FSK ab 16

Da fährt ein Wohnmobil so bedrohlich wie der Laster in Spielbergs „Duell" durch das Wohngebiet. Man sieht die Perspektive eines Beobachters, ihn sieht man nicht. Mit solchen Einstellungen, die unbestimmt bedrohlich wirken, beginnt „Prisoners", um sich in Sachen Spannung und Erschütterung bis zum kaum Erträglichen zu steigern.

Die sechs- oder sieben-jährigen Töchter der befreundeten Familien Dover und Birch verschwinden zu Thanksgiving auf den paar Schritten von einem Haus zum anderen. Der Thriller, der sehr schnell zur Sache kommt, lässt den energischen und klugen Inspektor Loki (Jake Gyllenhaal) umgehend einen Verdächtigen fassen. Doch es gibt keine Beweise gegen den geistig behinderten Alex Jones (Paul Dano), der nach 24 Stunden freigelassen wird. Obwohl Loki wie Jack Nicholson in „Das Versprechen" (nach Dürrenmatts gleichnamiger Geschichte) sein Versprechen gibt, die Tochter zu finden, schreitet der verzweifelte Vater Keller Dover (Hugh Jackman) zur Selbstjustiz. Was er macht, nachdem er Alex entführt, ist ähnlich entsetzlich, wie die Gedanken an das Schicksal der Mädchen.

Wobei wir exakt bei der Problematik des Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner sind, der einem geständigen Täter Folter androhte, um vielleicht ein Entführungsopfer zu retten. Keller Dovers Schlussfolgerung „er ist kein Mensch mehr", verschiebt die ganze Situation außerhalb des Rahmen jeglicher zivilisatorischer Übereinkunft. Dabei bleibt es nicht bei dem kontrastierenden Kunststück, dass ein Verbrechen mit dem daraus folgenden verflochten wird. Regisseur Denis Villeneuve fächert die Situation mit Spiegel- und Dopplungen in verschiedene Möglichkeiten auf: Zwei Männer, zwei Elternpaare reagieren unterschiedlich, ein engagierter Polizist tut tatsächlich alles Mögliche, um die Mädchen zu finden, und muss gleichzeitig einen ausrastenden Vater unter Kontrolle halten.

Der Kanadier Villeneuve ist einer dieser Importe, mit dem sich Hollywood regelmäßig eine Blutauffrischung verpasst. Er hat mit „Die Frau, die singt" einen der besten, packendsten und berührendsten Filme der letzten Jahre gemacht. Darin ging es um die Abgründe der Nahost-Konflikte. Scheinbar komplexer als zwei verschwundene Mädchen in einer amerikanischen Kleinstadt, aber mit vielen gleichermaßen beteiligten Figuren wird auch hier ein unentrinnbares Erzähl- und Denk-Netz gespannt. Dazu sorgt die Kamera von Roger Deakins für dunkle, extrem intensive Atmosphären in strömendem Regen und dunklen Räumen, die horrende Überraschungen enthalten. Blutige Kisten voller Schlangen oder der geheime Keller eines verurteilten Sexualverbrechers und Priesters sind nur eine Auswahl.

Zudem ist „Prisoners" extrem gut besetzt, wobei dank bester Schauspielführung beispielsweise Hugh Jackman, der auch als Wolverine ein paar düstere Wölkchen um die Stirn hat, hier ganz in der Rolle des Cowboys Keller Dover (was für ein gemein sprechender Name - stellt man am Ende fest) aufgeht, der das Gesetz selbst in die Hand nimmt. Jake Gyllenhaal, der immer noch den melancholisch-düsteren „Donnie Darko"-Blick drauf hat, beeindruckt in einer neuen Reife und Altersklasse auf andere Weise. So erweist sich die Verzahnung zweier Filmwelten, Hollywood und Arthouse, ebenso extrem spannend wie die Verknüpfung zweier Verbrechen. Die gezielte und gewollte Adoption zahlt sich für Studio und Publikum aus.

Stein der Geduld

Frankreich/Deutschland/Afghanistan 2012 (Syngué Sabour / Patience Stone) Regie: Atiq Rahimi mit Golshifteh Farahani, Hassina Burgan, Massi Mrowat und Hamidreza Djavdan, 102 Min.

Mit dem erschütternden Melodram „Stein der Geduld" verfilmt der Autor Atiq Rahimi („Erde und Asche", 2004) seinen eigenen Prix Goncourt-Roman „Syngué Sabour. Pierre de patience" über eine schmerzliche Emanzipation zwischen afghanischen Kriegsfronten. Zusammen mit Drehbuch-Autor Jean-Claude Carrière („Cyrano von Bergerac", „Eine Komödie im Mai", „Valmont", „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins") entstand einer der bewegendsten Filme der letzten Jahre: In einer Stadt in Afghanistan kniet eine junge Frau an der Seite ihres schwerverletzten Mannes, der im Koma liegt. Im Zimmer ist es still, draußen hört man Schüsse. Dann beginnt sie zu reden. Sie erzählt ihm, was sie vorher nie sagen konnte, von dem Drama, das die Ehe für sie bedeutet, ihren Wünschen und Geheimnissen. Er wird zu ihrem „Stein der Geduld", der ohne zu urteilen alles in sich aufnimmt. Sie beschützt ihn, vor Kriegern und Bomben. Und entdeckt dabei sich selbst. Doch wie viel kann ein Stein der Geduld ertragen, bevor er zerspringt?

Aus dem Leben eines Schrottsammlers

Frankreich, Bosnien, Slowenien 2013 (Epizoda u zivotu beraca zeljeza) Regie: Danis Tanovic, mit Nazif Mujic, Senada Alimanovic, Semsa Mujic 78 Min.

„Aus dem Leben eines Schrottsammlers" von Oscar-Sieger Danis Tanovic („No man's land", „Cirkus Columbia") zeigt in einer nüchternen aber doch fesselnden Dramaturgie wie eine Roma-Frau in Bosnien-Herzegowina mit lebensgefährlichen Unterleibsblutungen Hilfe sucht. Ohne Krankenschein muss die Mutter von zwei kleinen Mädchen fast 1000 Mark für die rettende Operation zahlen. Ein Vermögen für ihren Mann, wenn das Ausschlachten eines ganzen Autos gerade mal 150 bringt und im heftigen Winter täglich Holz gehackt werden muss. Ohne Geschrei, ohne Tränen inszeniert, mit einer Handkamera, die nicht ganz so gut, wie die der Dardennes funktioniert, erzählt Tanovic seine Geschichte.

„Aus dem Leben eines Schrottsammlers" gewann bei der Berlinale den Grand Prix der Jury und den Silbernen Bär für den Besten Hauptdarsteller ging an den Laiendarsteller Nazif Mujić.

Der Butler

USA 2013 (Lee Daniels' The Butler) Regie: Lee Daniels mit Forest Whitaker, Oprah Winfrey, David Oyelowo, Terrence Howard, Cuba Gooding jr., Lenny Kravitz 97 Min. FSK: ab 12

Was für eine Lebensspanne: Da sitzt der ehemalige, selbstverständlich schwarze Chef-Butler des Weißen Hauses im hohen Alter an seiner über Jahrzehnte vertraut gewordenen Arbeitsstelle, um von Präsident Obama empfangen zu werden. Vom Sklaven zum Präsidenten in einem Leben ist eine sagenhafte Geschichte, wenn auch „Der Butler" selbst fast bis zum Ende ein Unfreier bleibt. Erst sein Sohn macht den Traum der Gleichberechtigung wahr.

Die Erinnerungen von Cecil Gaines (Forest Whitaker) reichen zurück zu den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Süden der USA sieht er als Kind, wie ein Farmer seine Mutter regelmäßig vergewaltigt und sein Vater erschossen wird, als er nur ansetzt zu widersprechen. Cecil darf daraufhin unter der Mutter des Farmers ein „Haus-Nigger" werden, flieht als junger Mann und erhält nach Obdachlosigkeit und Mundraub von einem älteren Mentor eine Stelle als Butler angeboten.

Die Lektion vom Tod seines Vaters wiederholt sich: Nur durch angepasstes Schweigen, durch Verleugnung der eigenen Person kann sich ein Schwarzer ein anständiges Leben sichern. So kommt Cecil sogar an eine Stellung im Weißen Haus unter Präsident Eisenhower (Robin Williams). 1957 steht die USA wegen der damals so genannten Rassenfrage vor einem neuen Bürgerkrieg.

Zwar ist Cecil dabei, als Eisenhower Militär einsetzt, um afro-amerikanische Studenten in Little Rock an die Universität zu bekommen, doch Einfluss hatte der Butler, mit dem alle Präsidenten ein Gespräch suchen, nie. Im Gegenteil, das Maß der Anpassung und Selbstverleugnung ist geradezu schmerzlich. Erst sein Sohn Charlie Gaines (Elijah Kelley), der sich gegen die Regeln des Vater engagiert, bringt das politische und echte Leben ins (Weiße) Haus. Was ihm einen Rausschmiss vom gedemütigten Vater einbringt

In einer der wenigen filmisch auffälligen Momente, einer Parallelmontage von Cecils Butler-Parade zum Diner und Charlies Protest gegen Rassentrennung in Restaurants, wird gleichzeitig gezeigt, wie weit die Regierungs-Politik vom Leben und wie weit Vater und Sohn entfernt sind. Die jungen Studenten wollen einfach im Imbiss an der Bar sitzen und nicht im Bereich für Farbige. Dafür werden sie verbrannt, verprügelt, bespuckt und verurteilt.

Während der Kampf um Gleichberechtigung mit Martin Luther King, Malcolm X und Black Panther-Bewegung fortschreitet, begegnet Cecil mit der immer gleichen Servilität den Präsidenten Kennedy (James Marsden), Johnson (Liev Schreiber), Nixon (genial fies: John Cusack), Reagan (Alan Rickman, so würde man ihn glatt wählen) und als i-Tüpfelchen die ehemalige Anti-Vietnam-Kämpferin Jane Fonda als perfekte Wi(e)dergeburt von Nancy Reagan! Dass diese Darsteller-Reihe eindrucksvoller wirkt, als die passive Rolle des Hauptdarstellers Forest Whitaker, ist seltsam, spiegelt aber auch die Tragik von Cecil, dem Mann ohne Meinung wieder. Während der Film mit der Ermordung Kennedys und Martin Luther Kings durch die US-Geschichte springt, hat der unglaublich ignorante Mann Eheprobleme und eine unbefriedigte Frau (DIE Oprah Winfrey!), denn er ist tatsächlich vor allem mit dem Weißen Haus verheiratet.

Regisseur Lee Daniels, der mit „Precious", der umwerfenden Geschichte einer übergewichtigen schwarzen Analphabetin, viel Eindruck machte, inszeniert diesmal tatsächlich überraschend beschaulich. In zwei Generationen zeigt „Der Butler" die Lebens-Brüche von der Baumwoll-Farm ins Weiße Haus und - für den Sohn - an die Universität. Es gehen zu viele Jahrzehnte vorbei, um wirklich dramatische Momente auskosten zu können. Ein Menge Geschichte wird verkürzt und geschönt, die menschliche Seite der Präsidenten darf sich im Blickwinkel Cecils ausbreiten. Die gesellschaftliche Entwicklung, wenn auch verharmlost, bleibt trotzdem erstaunlich. Und zuletzt darf auch Cecil etwas Eigenes in den Film einbringen.

Sein letztes Rennen

BRD 2013 Regie: Kilian Riedhof mit Dieter Hallervorden, Heike Makatsch, Katrin Saß 110 Min. FSK: ab 6

Palim-Palim - für Ältere ist jetzt alles klar: Ein Film mit Dieter Hallervorden! Aber doch nicht ganz, denn der Komödiant kippt nicht Nonstop Nonsense oder eine Flasche Pommfrit ins Kino sondern einen unterhaltsames wie gelungenes Alterswerk über einen Ausbruch aus dem Altersheim.

Paul und Margot Averhoff (Dieter Hallervorden, Tatja Seibt) sind schon lange ein Paar, als ihre Schwindelanfälle beide in ein Altersheim bringen, das sich als reale Horrorvorstellung erweist. Scheinbar stumpfsinnige und unkontrollierte Mitbewohner wurden hier „abgestellt". Am schlimmsten ist für Paul Averhoff allerdings die verordnete hirnlose Routine, die Kindergarten-Mentalität in diesem „Totenheim". Beim Singen und beim Basteln von Kastanien-Männchen hat eigentlich nur der Streber und Blockwart der Gruppe Spaß. Aber Paul ist nicht irgendwer, er gewann 1956 in Sydney trotz eines scheinbar uneinholbaren Rückstandes die Goldmedaille im Marathon. Und in dieser ausweglosen Situation, an diesem Ort des Lebens-Endes fängt er noch mal von vorne an. Er läuft nicht weg, er bleibt und beginnt wieder zu laufen. Rennt Runde um Runde um das Seniorenheim. Ignoriert Blutblasen und Kreislaufzusammenbrüche. Findet Hoffnung im neuen Ziel. Dabei will er nicht nur den Berlin-Marathon schaffen, er will ihn gar gewinnen.

„Sein letztes Rennen", Hallervordens letzter - sprich: aktuellster - Film macht Spaß, ist aber kein Schenkelklopfer wie seine populärsten Kino-Hits. Wie vieles andere gelangen dem Kino- und TV-Regisseur Kilian Riedhof („Tatort", „Bloch") witzige Szenen, wenn er im Gottesdienst der völlig verquarksten Betreuerin als Erscheinung vor dem Fenster vorbei rennt. Schön auch das Unverständnis der einfältigen Abstellgleis-Bewohner bei der Frage „Wo wollte er denn hin?" Die allgemein gültige Antwort des Läufers lautet „Wer stehen bleibt, hat schon verloren!

Alte Turnschuhe mit nur zwei Streifen, Franzbranntwein für die Beine statt stilloser Kompressionskniestrümpfe, eine mechanische Stoppuhr von Hanhart statt iPod. Paul Averhoff kommt altmodisch daher, der Film erzählt flott und routiniert. Auch die berührende Geschichte einer liebevollen Ehe, die jetzt wieder eine Trainings-Gemeinschaft wird: Ihre Warnung „Aber das wird fürchterlich!" beantwortet er selig mit „So war es immer!" Mit seinem Laufen belebt Paul bald das ganze Altersheim, was der Priesterin nicht geheuer ist. Ein weiteres Duell beginnt, wer hier wen bekehrt. Sie ihn mit viel Verständnis und Küchenpsychologie einzufangen. Er steckt sie mit seiner guten Laune und Sportler-Weisheiten („Das ganze Leben ist ein Marathon") in die Tasche. Als die nur auf Effektivität achtende Heimleiterin Rita (klasse: Katrin Saß) ihm das Laufen im Anstalts-Park verbieten will, lacht er ungläubig: „Du kannst dem Fisch doch nicht das Schwimmen verbieten".

Paul ist ein Optimist, ein Kämpfer. Und wenn seine Frau sagt, sie hätten Schlimmeres erlebt, den Krieg und die Hungerwinter, dann glaubt man ihnen das. „Sein letztes Rennen" bringt eine sehr passende Besetzung an den Start, bis hin zum Pfleger Tobias (Frederick Lau). Heike Makatsch gibt die besorgte Tochter, die als Stewardess ohne Freund nicht viel Zeit für ihre Eltern hat. Hallervorden, der sich zuletzt („Das Kind") auch mal als dämonischer Päderast zeigte, spielt jetzt wieder eine „Paraderolle" als sympathischer Sonderling. Seine bekannte Stimme, das offene Gesicht, diesmal mit wehmütigem Blick, bleiben im leisen Spaß und im nicht aufdringlichen Ernst überzeugend. Anleihen zu „Einer flog übers Kuckucksnest" und der Altersheim-Episode in „Cloud Atlas" sind unübersehbar. Nur dass gerade die Laufszenen auf eine nahezu slapstickhafte Weise unrealistisch inszeniert wurden, ist schade. Trotzdem überzeugt „Sein letztes Rennen" als nachdenklicher Wohlfühlfilm für mehrere Generationen - Ausbruch, Solidaritätsszene und Happy End inklusive.

1.10.13

Turbo - Kleine Schnecke, großer Traum

USA 2013 (Turbo) Regie: David Soren 92 Min. FSK: o.A.

Als Kinderfilm und Animation kommt die Antwort auf „Rush" daher: Der große Traum einer Schnecke, mal Rennwagen und -Fahrer gleichzeitig zu sein, ist Parodie der üblichen Auto-Filme und gleichzeitig noch so ein Film der Formel „Erfülle-deinen-Traum". Superbunte Schnecken malen die Frage auf die Leinwand, welche Drogen ihre Animateure eigentlich genommen haben. Zeit genug hatten sie, denn Handlung und Text sind von zig anderen Filmen zusammengeklaubt. Schnecke Turbo ist in Sachen Pflanzen anknabern ein Versager, weil sie nur an Autorennen denkt. Als Turbo durch einen Zufall Super-Geschwindigkeit erlangt, folgt der Film der Bremsspur von „Cars" und „Planes". Turbo trifft auf bunte, getunte Rennschnecken und die Taco-Brüder Angelo und Tito. Der Rest ist die übliche Erfolgsgeschichte mit einem extrem vorhersehbaren Sportfilm-Finale. Wobei die Diskrepanz zwischen eigener Vorstellung und Realität bei Turbo einige witzige Momente erzeugt. Tricktechnisch gibt so ein kleiner Schleimwurm allerdings nicht viel her, auch wenn er nach der Transformation Scheinwerfer-Augen, Autoradio und Alarmanlage unter der Schale hat.

Der Schaum der Tage

Frankreich, Belgien 2013 (L' écume des jours) Regie: Michel Gondry mit Romain Duris, Audrey Tautou, Gad Elmaleh, Omar Sy 91 Min. (OV: 125 Min.) FSK: ab 12

Das Kult-Buch „Der Schaum der Tage" (L'Ecume des jours) von Boris Vian aus dem Jahr 1946 wird für immer unverfilmbar bleiben, weil sich die Leser-Fantasie aus dem surrealen Liebesroman jeweils eine eigene Welt erschafft. Doch mit Michel Gondry, der in „The Science of Sleep" die Liebesgeschichte mit wunderschönen Stop-Motion-Spielereien ausgestaltete, und in „Vergiss mein nicht!" den Liebes-Abschied fantasiereich wie tieftraurig inszenierte, gibt es einen Filmemacher, der den Stoff kongenial umsetzen kann. Und es gibt die digitale Tricktechnik, auch die verrücktesten Ideen ins Bild zu bringen. Wobei der Charme vom „Schaum der Tage" darin liegt, auch im Trick liebenswert altmodisch daherzukommen.

Bohemien und Fantast Colin (Romain Duris) begegnet auf einer Party Chloé (Audrey Tautou). Eine Schönheit, komponiert von Duke Ellington, der auch prompt aus ein paar Audio-Bild-Werfern aufspielt. Es beginnt eine niedlich holperige Liebesgeschichte mit echten Unsicherheiten und traumhaft poetischen Momenten. Dabei erleben wir Paris aus absolut neuen Perspektiven, sehen wie das Paar nach einer völlig unchristlichen Hochzeit in ihren Gefühlen untergeht und in einer gläsernen Limousine auf Hochzeits-Trip fährt.

In der Hochzeitsnacht legt sich ein Kristall in Chloés Lunge, die folgende Krankheit verändert alles: Wie die Lungen sind auch die Fenster von Colins Himmels-Waggon belegt und lassen kein Sonnenlicht mehr durch. Er braucht für die Blumen, die einzig Heilung bringen, sein gesamtes Vermögen auf. Die Wohnung wird enger, alle Farben verblassen, die Arbeitsverhältnisse draußen sind ein Horrortrip.

„Der Schaum der Tage" begeistert mit unfassbar vielen, verrückten, schönen und schrägen Einfällen. Allein der Auftritt Jean-Sol Partres (sic!) ist den Eintritt wert. Da ist auch das bekannte Piano, das Cocktails komponiert, dazu Colins eigenwillige, hündische Schuhe, der kleine Mäuse-Assistent, das Tanzen mit überlangen Beinen, die Floristin, deren Kleid mit den bestellten Blumen wechselt, das Fixieren einer widerspenstigen Krawatte mit dem Hammer. Colins Freund Nicolas (Omar Sy) gibt dem Fernsehkoch, der auch aus dem Kühlschrank Champagner anreicht, eine ganz neue Bedeutung... Unbeschreiblich dies alles. Wer mehr lesen will, muss den Roman zur Hand nehmen. Oder kann im Film zudem einen völlig verschrobenen Retro-Futurismus genießen.

Es blieben vom Roman die wundervolle Hommage an den Jazz, die Reflektion des Existenzialismus der Entstehungszeit. Seitenhiebe auf Jean-Sol Partre werden nur vorsichtig mit einer Partner-Such-Maschine oder einem philosophischen Rubics Cube modernisiert. Roman Duris („Mademoiselle Populaire", „L'auberge espagnole", „Gadjo Dilo") ist der perfekte Darsteller für die verspielt euphorischen und für die leidenden Momente. Audrey Tautou ist lieblich im Glück und im Siechen. Es gibt nur einen Wermuts-Tropfen: Wie aus diesem Film für die deutsche Rumpf- und Synchro-Version unfassbare dreißig Minuten herausgeschnitten werden konnten, ist mehr als ein Rätsel, ist ein Verbrechen.