Belgien, Luxemburg. Frankreich 2012 (Tango Libre) Regie: Frédéric Fonteyne mit François Damiens, Sergi López, Jan Hammenecker, Anne Paulicevich, Zacherie Chasseriaud 105 Min. FSK ab 12
Jean-Christophe (François Damiens), „JC" genannt, lernen wir als sehr korrekten, ängstlichen Wachmann im Knast kennen, dessen Leben grau wie die Dienstuniform ist und der selbst an einer absurden Ampel mitten auf dem Feld bei Rot stehen bleibt. JC verliebt sich auf Anhieb in Alice (Anne Paulicevich), die Neue vom Tango-Kurs. „Tango Libre" könnte so ein Tanz-Film wie viele andere („Man muss mich nicht lieben") werden, doch Alice hat es in sich! Sie besucht die inhaftierten „Kunden" von JC, zeigt sich sexy in der Besucherkabine - gegenüber ihrem Mann Fernand (Sergi López) und auch gegenüber ihrem Liebhaber Dominic (Jan Hammenecker), der in der gleichen Anstalt, ja sogar in der gleichen Zelle einsitzt. Als sie über diese neue Beziehung ein Besuchsrecht ohne Glasscheibe erreicht hat, sieht die Visite aus, wie die Reise nach Jerusalem, denn auch ihr Sohn Dominic (Jan Hammenecker). Nur JC bekommt keinen Stuhl beim Wechselspiel. Allerdings ist der Spanier Fernand direkt auf ihn eifersüchtig, während Dominic erst mal ruhig bleibt.
Weil der Wärter mit seiner Frau draußen tanzt, bittet Fernand drinnen den besonders beschützten Argentinier (Mariano "Chicho" Frumboli), ihm den Tango beizubringen. Es ist ganz wunderbar, wenn sich die vermeintliche und nur gespielte Aggression unter den harten Jungs als Einführung in den Tango erweist. Hier kann sich „Tango Libre" mit dem Roxanne-Tango aus „Moulin Rouge" messen, hat eine seiner großen Szenen, für die allein sich der Kinobesuch lohnt - neben all den feinen Beobachtungen und Details, dem exzellenten Spiel.
Denn zwischen Alice sowie ihren großen und kleinen Männern, den freien und unfreien, ganz unabhängig von der Position zu den äußerlichen Gittern zeigt „Tango Libre" eine ganze Reihe komplexer Beziehungen und Gefühle. Und Regisseur Frédéric Fonteyne („Eine pornografische Beziehung", 1999) erzählt mit subtilem Witz: Dass Alice ganz eigennützig beim Wärter vorbeischaut, weil der von einem Häftling zusammengeschlagen nicht zum Tango-Kurs kommt, wird sehr schön vom Hinweis gekrönt, dass sie Krankenschwester sei. Der „Hausbesuch" ist eine erste Annäherung, die alles nicht einfacher macht. Beide Genres, das des Knast-Films und des einsamen Einzelgängers, verlangen nach einem Ausbruch. Er gelingt mit einem Familienausflug und einer sehr, sehr ungewöhnlichen, aber sympathischen und vor allem glücklichen Patchwork-Situation.
Anne Paulicevich, die bei uns bisher nur in dem postmoderenen „JCVD" (2008) zu sehen war, hinterlässt als Alice einen ganz starken Eindruck. Sergi López begeistert immer, im französischen Original noch mehr mit seinem wunderbaren, originalen spanischen Akzent. Den Tanz-Lehrer im Knast spielt übrigens der argentinische Tango Nuevo-Entwickler Mariano Chicho Frúmboli.