20.7.10
Micmacs
Frankreich 2009 (Micmacs) Regie: Jean-Pierre Jeunet mit Dany Boon, Julie Ferrier, André Dussollier, Jean-Pierre Marielle, Yolande Moreau 104 Min. FSK: ab 12
Endlich gibt es wieder eine Film-Delicatesse von Jean-Pierre Jeunet: Sechs Jahre ist es her, seit Audrey Tautou in „Mathilde – Eine große Liebe“ die Leiden des Krieges durchlebte. Die gleiche Tautou, deren Pariser Liebeswirren in „Amélie“ 2001 die ganze Welt rührte. Was stellen die „Micmacs“ nun in Paris an, welche Farbnuance wählte der fantastische französische Regisseur nun? Den schwarzen Humor in vergilbtem Braun aus „Delicatessen“? Oder die hoffnungslose Dunkelheit aus „Die Stadt der verlorenen Kinder“ (1995) und „Alien Resurrection“ (1997)?
Schon der Auftakt erzählt auf geniale Weise, wie Bazil (Dany Boon, der Ober-„Sch'ti“) zu solch einem Sonderling wurde: Ohne Worte explodiert eine Landmine, die Familie des Opfers in Paris erhält ein Abschiedspaket, die Witwe kommt ins Krankenhaus, der kleine Bazil ins herzlose Schwestern-Heim. Jahre später, während Bazil in der Videothek Bogarts „The Big Sleep“ sieht, spielt auf der Straße ein realer Gangsterfilm und eine Kugel landet direkt im Kopf des Videothekars. Eine Münze des Chirurgen entscheidet, dass sie besser dort bleibt und fortan für schön seltsames Verhalten verantwortlich ist.
Wer für die beiden fatalen Waffen in seinen Leben verantwortlich ist, entdeckt der Mann ohne Familie, Job und Wohnung zufällig: Auf der Straße steht Bazil plötzlich zwischen dem Firmenwappen des Landminen-Produzenten Nicolas Thibault de Fenouillet (André Dussollier) und dem des Munitions-Herstellers François Marconi (Nicolas Marié). Da die Konzern-Chefs heftigst verfeindet sind, ist es Bazil ein Leichtes, die Händler des Todes gegeneinander auszuspielen. Bei dieser äußerst originellen Verschwörung sind Freunde aus dem Untergrund sehr findig behilflich.
Diese Freunde sind Freaks der Gesellschaft, ein sehr liebenswerter Ausschuss, der unter einer labyrinthischen Müllhalde lebt. Jeunet und sein Kameramann Tetsuo Nagata schufen ein so fantastisch von der Müllseite her fotografiertes Paris, dass man sofort Clochard werden möchte. Zu den „Micmacs“ gehören die Kontorsionistin Mademoiselle Kautschuk, mit „sensibler Seele in einem flexiblen Körper“, das Rechengenie Calculette, die Mutter der Truppe Cassoulet (die großartige Yolande Moreau aus „Louise hires a contract killer“), sowie der „Delicatessen“-Star Dominique Pinon, der eine Lebendige Kanonenkugel-Legende spielt.
Wie die kleinen, verrückten Trickmaschinen des sympathischen Petit Pierre funktioniert auch „Micmacs“. Der nicht ganz ernst genommene Krimi mit einem sehr humanistischen Herzen ist manchmal eine herrliche Chaplinade ohne Dialog. Dann ein romantischer Anachronismus, wenn der dreirädrige Transporter neben einer lautlosen Straßenbahn daherstottert. Im Hintergrund verfallene Gebäude vor den unvermeidlichen Glas-Stahl-Fassaden der Seine-Stadt. Diese recyclete Welt ist mit einem Zauber erfüllt - und damit Kino pur: Der banale Alltag wird traumhaft. So kann der eigentümliche Mann mit der Kugel im Kopf sich zum raffinierten Trickser und Texter entwickeln. Denn meist sprechen seine Kumpel mehr oder weniger exakt seine Texte nach. So wie er in der Metro die Lippen zu der Musik bewegt, die eine Frau nichts ahnend hinter einer Säule spielt und seinen Hut viel schneller als den ihren füllt.
„Micmacs“ ist die Rache der einfachen Leutchen am korrupten Establishment. Wie es einst „Lina Braake“ und Danny Ocean vormachten. Die Retro-Komödie hat dabei nicht die Coolness von „Oceans 11“, dafür ebenso viel Herz und Sympathien: Während sonst Tom Cruise in einem Seilakt über der Beute schwebt, wird hier nur niedlich ein Stückchen einschläfernden Zuckers in den Tee des Nachtwächters herab gelassen. So liegt eine natürliche Abneigung gegen Waffenhändler (mit denen auch Sarkozy im Bunde ist) der dunkelbraunen Farbpalette von „Delicatessen“ zugrunde, diesmal vermischt mit der Antikriegs-Haltung der „Mathilde“ sowie dem traumhaften Paris der „Amélie“.