5.9.06
Mit der Brechstange "World Trade Center" platt gemacht
Venedig. Ist es "gutes Timing" oder makabre Koinzidenz? Zwischen dem 1.Jahrestag der Katrina-Überschwemmung von New Orleans und dem 5. Jahrestag von New Yorks 9/11 liegt das 63. Filmfestival von Venedig. Und mit vollem Bewusstsein über den Reiz eines solchen "Clash of Civilisations" legte man die heiß ersehnten Neulinge vom schwarzen Bürgerrechtler Spike Lee und dem weißen Ex-Soldaten und Geschichte(n)-Filmer Oliver Stone auf den gleichen Tag. Das Ergebnis vorweg: Denen das Wasser schon immer (sozial) bis zum Hals stand, gibt man weit mehr Sympathien als dem Hafenpolizist Nicolas Cage unter Schutt und Asche.
Beide Amerikaner sind exzellente Filmemacher. Wobei man oft denkt, Spike Lee filmt mit dem Herzen, oft auch mit Wut im Bauch. Oliver Stone hingegen filmt hauptsächlich mit der Brechstange! Beim persönlich recht kämpferischen Mann, der die Bilder zu "J.F.K.", "Nixon" und dem "Fourth of July" neu geprägt hat, und zwischendurch Staatsfeind Fidel Castro freundlich porträtierte, war ein Kommentar zu 9/11 unvermeidlich.
"World Trade Center" ist eine Hymne auf New Yorks Finest, die tapferen Feuerwehrleute und Polizisten der Stadt. Also nicht die, die Drogenhandel, Prostitution und Wettgeschäft kontrollieren. Die sah man im enttäuschend braven Eröffnungsfilm von Brian De Palma, der in "The Black Dahlia" nur einmal seine Inszenierlust zeigte und ansonsten die Kunststückchen im Dienst einer nicht ganz typischen, aber auch nicht sensationell anderen Detektiv-Geschichte stellte.
Oliver Stone schickt eine Truppe von Hafenpolizisten nach dem Einschlag des ersten Fliegers zum Evakuieren in die Türme des World Trade Center. Unter der Führung ihres Sergeanten John (Nicolas Cage) werden die diensteifrigen Männer, bevor sie überhaupt helfen können, selbst verschüttet. Zwei von ihnen überleben die Einstürze der Hochhäuser, sind aber unter schweren Trümmern eingeklemmt. Zwischen aufmunternden und persönlichen Gesprächen, schleudert der Film Feuerbälle auf sie, lässt Schutt und Asche regnen. Das Kino bebt vor lauter Bässen, als weiterer Anschlag auf die Gefühle wird brutal auf die teilweise schwangeren Frauen der Helden geschnitten.
(Spike Lee hatte den Kommentar zu seinem New York schon längst in einer guten Kurzfilmsammlung abgegeben.)
"World Trade Center" ist eigentlich eher Bergarbeiterdrama als 9/11-Film. Stone schlachtet das nationale Trauma äußerst geschickt und handwerklich ekelerregend effektiv für Kinokasse aus. Effekt- statt Reflektier-Kino. Dass man angesichts von fast 3000 Toten erleichtert aus dem Kino kommt, weil Nicolas Cage überlebt hat, ist perverse Leichenfledderei. Dazu legt Stone geschichts-klitternd dumme Propaganda-Phrasen, die den aktuellen Weltkrieg herbeiführten, in den Mund des einfachen Mannes vor dem Fernseher: "Wir sind im Krieg." Wenn dann noch der rettende Marine als Last Minute-Ersatz für die Kavallerie des Western von Gott geschickt wird, kann sich Stone des Buhkonzerts nach der Pressevorführung sicher sein. Stone kann viel, nur nicht sich zurückhalten.
Lieber Herr Stone, 9/11 passiert nicht, weil alle Menschen so lieb wie in Ihrem Film sind. Und es hört auch nicht auf, wenn wir nur solche dummen Hurra-Streifen zu sehen bekommen. Da wäre als Gegengift der dritte USA-Film des Tage zu empfehlen: "The U.S. vs. John Lennon", oder: wie das FBI John Lennon ermordete. Noch so eine Verschwörungstheorie, dachte man anfangs erschreckt. Doch David Leaf und John Scheinfeld zeigen in ihrer Dokumentation, was man vielleicht noch nicht von Lennon und Yoko Ono wusste, setzen all die Ohrwürmer des Ex-Beatle in einen politischen Kontext und stellen die Frage, weshalb wir heute keine Aktionen wie "Bed Peace" oder Lieder wie "Give Peace a Chance" haben. Dass zwischen Vietnam und Irak kaum ein Unterschied ist, sagt Gore Vidal ganz deutlich. Und er muss es wissen, war er doch schon immer dabei. Bei "Ben Hur" als Drehbuchautor, während der Kuba-Krise als Freund und Berater der Kennedys, als Senator, als Buch- und Drehbuch-Autor sowie immer, wenn es kluger Gedanken bedarf. Irgendwann wird man unsere Zeit als Gore Vidal-Epoche bezeichnen...
Wie übel es beim Sorgenkind der Staatengemeinschaft, den USA, zuhause aussieht, legt Spike Lee in über vier Stunden, spannend, ergreifend, klug und schlüssig dar: Die Interviews, die Dokumentarbilder, Fotos und vor allem die Hintergrundmusiken in "When the Levees broke" (Als die Dämme brachen) geben den vermeintlich bekannten Ereignissen von New Orleans menschliche Tiefe. Sie machen die Tragik der sozialen Katastrophe deutlich, die erst begann, als der Hurrikane vorüber war. Die meist armen Menschen wurden einfach vergessen. Die Armee war schneller mit Hilfslieferungen bei den Tsunami-Opfern in Indonesien als mit Trinkwasser bei den eigenen Bürgern in Louisiana! Dass diese schon abgeschrieben wurden, als man die Dämme nicht anständig und hoch genug baute, ist ein anderer Skandal einer selbstgerechten, arroganten und abgehobenen Regierung. Auch so kann man Menschen umbringen, der latenten Gewalt von Vernachlässigung.
Es ist schon bedenkenswert, wie viel Aufmerksamkeit all diese Katastrophen der USA erhalten, während in China jedes Jahr vergleichbare Überschwemmungen stattfinden. Und noch mehr Säcke Reis umfallen. Aber das ist eine Frage der eigenen Perspektive, kann man doch gerade bei der Biennale von Marco Müller viel aus anderen Ländern und von anderen Kontinenten sehen.