Frankreich, Italien, Deutschland 2020, Regie: Bruno Dumont, mit Léa Seydoux, Blanche Gardin, Benjamin Biolay, 130 Min., FSK: ab 12
France de Meurs (Léa Seydoux) ist in Frankreich Star des TV-Journalismus: Bei einer Pressekonferenz des Präsidenten steht sie zur Begrüßung nicht auf, quatscht unverdrossen weiter, bis Macron sie persönlich unterbricht. Wieder ein öffentlicher Coup für das Aushängeschild des Senders „i". France und ihre Assistentin Lou (Blanche Gardin) freuen sich dreist und ordinär wie Schulmädchen. Das ambivalente Bild dieser Star-Reporterin setzt sich zuhause fort: Sie kümmert sich im erdrückend barocken Wohnzimmer kaum um den Sohn, mit dem Ehemann wird kein Wort gewechselt.
Alle wollen Selfies mit France, selbst die Kämpfer der Tuareg bei einer ihrer „Reportagen" in Nordafrika. Die genau wie die französischen Einsatzkräfte dort auf unerträgliche Weise von der Frau aus dem Westen für die besten Kamerabilder rumkommandiert werden. Nach einem absurden Autounfall, bei dem sie mit weniger als Schritttempo einen arabischstämmigen Rollerfahrer touchiert, der in Zeitlupe umfällt und sich verletzt, zerfällt das Leben von France. Nun wird sie Opfer ihrer Art von „Journalismus" und beendet ihre Fernsehshow. Nach einem Zusammenbruch spioniert selbst eine anscheinend medienferne Affäre in einer Bergklinik sie für einen reißerischen Artikel aus. Dann gibt es ein sensationelles Comeback, bei dem France mit Boots-Flüchtlingen das Mittelmeer überquert – vor der Kamera. Tatsächlich reisen sie und ihr Team auf einer Jacht parallel zum Schlauchboot mit.
„France" klingt nach böser Medien-Satire, doch es ist vor allem ein Film vom Festival-Monolithen Bruno Dumont (TV-Serie „KindKind", „Das Leben Jesu"). Der in Cannes preisgekrönte Regisseur mit Wurzeln in der schweren Erde Nordfrankreichs lässt sein Publikum gerne rätselnd zurück. In „L'humanité" (1999, Großer Preis der Jury) schwebte der gepeinigte Kommissar über den fürchterlichsten Dingen. Bei „Jeannette – Die Kindheit der Jeanne d'Arc" gab es ein wundersam laienhaftes Singspiel in einfachsten Dünen-Szenerien. Man muss die Verbindung von „France" zur einfältigen Schäferin Jeanne ziehen, die sich ab einem bestimmten Punkt schließlich auch selbst inszenierte. Das Erstaunliche, Wundersame beim neuen Dumont ist allerdings, dass er alle Genres unterläuft: France wird nicht psychologisiert, sie ist nicht bösartig oder kalkulierend. Was sie macht, ist sie tatsächlich. Also keineswegs Material für ein Drama oder ein Melodram.
Eigenartig, als die Handlung am Ende auf dem Land ankommt, weil France dort eine Reportage über einen Vergewaltiger und Mörder macht, wirkt alles plötzlich stimmiger. Mit Wind und Brandung, als wenn Dumonts Filme wieder zuhause ist. Das Kamerateam ist nicht mehr so athletisch und jung wie vorher. Selbst France bemerkt: „Es ist schön hier." Und blickt auf ein matschiges Feld.
Vor und nach dem Zusammenbruch bleibt die gleiche hemmungslose, gewissenlose Inszenierung: Ob im Kriegsgebiet die Granateneinschläge echt oder inszeniert sind, interessiert da nicht mehr. Die Tränen fließen bei der Aufnahme wesentlich leichter, doch was bedeutet das? Immerhin reicht die Erschütterung so weit, dass France abends im Nobelhotel mit dem lokalen Kontaktmann ins Bett geht. Das Verhältnis zu Sohn und Ehemann spielt für den Film ebenso wenig eine Rolle wie für France. Auch wer aus der Doppelung des Namens France und der Nation „La France" interpretatorischen Nutzen schlagen will, läuft ins Leere. Selbst das Starkino, mit der grandiosen und vielseitigen Léa Seydoux („James Bond: Keine Zeit zu Sterben", „Blau ist eine warme Farbe") eigentlich perfekt bedient, wird komplett unterlaufen. Wie schon bei der überaus skurrilen Komödie „Die feine Gesellschaft" (2016, mit Valeria Bruni Tedeschi und Juliette Binoche). Bruno Dumont bleibt auch ohne Wunder wundersam.