21.6.22

Chiara


Italien, Frankreich 2021 (A Chiara) Regie: Jonas Carpignano, mit Swamy Rotolo, Claudio Rotolo, Grecia Rotolo, 122 Min., FSK: ab 12

Die 15-jährige Chiara (Swamy Rotolo) ist Teenager in einer quirligen italienischen Familie der kalabrischen Hafenstadt Gioia Taura. Die ältere Schwester wird bald ihren 18. Geburtstag feiern, die kleinere nervt anhänglich auf dem Sofa. Die große, ausgelassene Geburtstagsfeier zeigt das enge Verhältnis von Chiara zu ihrem Vater. Sie befürchtet eine Weile, sie würde wegen heimlichen Rauchens bestraft, doch diese Entdeckung geht in einer ganz anderen Aufregung unter, die Chiara nicht versteht.

Ihre Fragen werden von der Mutter und älteren Verwandten negiert. Nach Irritationen wie dem Abfackeln des Familienautos vor der Haustür und dem plötzlichen Verschwinden des Vaters kommt die schockartige Erkenntnis über das Internet: Die Nachrichten verbreiten, dass der als Mitglied der örtlichen Mafia namens Ndrangheta wegen Drogenschmuggel und Bandenkriminalität gesucht wird. Nach diesem ganz anderen Erwachen aus der Kindheit folgt bald der nächste Schock: Aus dem Klassenzimmer sieht das Mädchen Polizeiwagen vorfahren. Wegen einer Schlägerei entscheidet ein Jugendrichter, dass Chiara in einer Pflegefamilie aufwachsen soll, bis sie 18 ist. Eine brutale Trennung für alle, die der Film ganz nüchtern verfolgt. Nur mithilfe der Musik kippt die Stimmung.

„Chiara" ist kein Mafia-, Gangster- und auf keinen Fall Männer-Film. Es ist ganz und gar das Porträt eines Mädchens in spezieller, krimineller Umgebung, grandios getragen von der Laiendarstellerin Swamy Rotolo. Kurz wirkte es vorher irritierend, mit welcher Härte Chiara ein anderes Mädchen von der Hafenmauer verjagte, obwohl ewig viel Platz war. Doch das mag auch im Revierkampf von Mädels auf dem Schulhof normal sein. Hier wird nicht psychologisiert, keine Erbschaft im Gangstertum gesucht oder der soziologische Weg ins Kriminelle aufgezeigt. Selbstverständlich gibt es auch keine Verurteilungen aus der Perspektive der Tochter, selbst als der Vater ihr die Details seines Geschäfts erklärt. Dabei hat es etwas Magisches, wie sie in die Welt des Vaters eindringt, sich dem unterirdischen Versteck durch einen Nebel nähert.

Gioia Taura liegt tatsächlich in einer abgelegenen und abgehängten Region Italiens. Im Kalabrien, das jahrzehntelang von der berüchtigten Ndrangheta kontrolliert wurde. Der Hafen der Stadt ist Umschlagplatz für Kokain aus Kolumbien und andere Schmuggelware. Rau wie das Leben sind Setting und Farbpalette des Films, erinnern an entfärbtes Material der 70er. Ein besonders emotionaler Moment wird still wie ein Gemälde, wie ein Familienporträt gefilmt.

Nach seinem gefeierten Flüchtlingsdrama „Mediterranea" (2015) und der Roma-Geschichte „Pio" (2017) – beide ebenfalls im Süden Italiens angesiedelt - realisierte Jonas Carpignano nun ein stilles, aber überaus faszinierendes Porträt einer jungen Frau in extremer Situation. Wie das reduzierte Spiel der Laiendarstellerin zusammen mit den anderen filmischen Mitteln in dieses Leben hineinziehen, ist außerordentlich.