Frankreich 2021 (Ouistreham) Regie: Emmanuel Carrère, mit Juliette Binoche , Hélène Lambert, Léa Carne, 107 Min., FSK: ab 6
Früh am Morgen hetzt eine Frau am Rand der Schnellstraße zum Arbeitsamt von Caen. Voller Angst und Wut will Christèle (Hélène Lambert) ohne Termin ihre „Beraterin" sprechen, weil wegen Mittelkürzungen und Verzögerungen beim Amt zuhause drei Kinder kein Essen mehr bekommen. Stille Beobachterin in unmoderner Fleecejacke ist Marianne Winckler (Juliette Binoche). Mit Termin, aber völlig neu in dieser Umgebung. Nein, sie habe seit 23 Jahren nicht mehr gearbeitet, doch jetzt habe sie der Ehemann verlassen. Nein, einen Arbeits-Integrationskurs habe sie auch noch nie gemacht. Mit etwas Hilfe bekommt Marianne trotzdem ihren ersten Job als Reinigungskraft.
Vorher lernt sie, wie sie sich verhält, wenn die Menschen beim Job nicht zurück grüßen. Während sie das erste Mal eine schwere Reinigungsmaschine („das Biest") bedient und öffentliche Toiletten sauber macht, hört sie Geschichten von den Kolleginnen und Kollegen. Dass sich Marianne Notizen macht ist ein erster Hinweis, dann kennt die Frau vom Arbeitsamt ihr Buch und die wahre Identität als gut situierte Autorin. Den moralischen Vorwürfen entgegnet sie, dass die anonyme Recherche dazu dient, diesen unsichtbaren Arbeiterinnen ein Gesicht und Stimmen zu geben. Menschen, die mit ihren „befristeten Jobs" zwölf Prozent aller Stellen ausfüllen. Und Putzfrauen, die grundsätzlich als dumm betrachtet oder sogar als Idiotinnen beschimpft werden, wie es Marianne erlebt. Wie in „Nomadland" mit Frances McDormand besteht auch „Wie im echten Leben" aus Porträts der Menschen am Rand der Wohlstandsgesellschaft. Marianne lernt einen charmanten Arbeitssuchenden kennen, der sie zur Pizza einlädt. Eine ältere Kollegin nimmt sie mit nach Hause, wo ihr der Ehemann sofort ein altes Auto zur Verfügung stellt. Beim Bowling-Abend gehen sie auf den Parkplatz und erfreuen sich der selbst mitgebrachten Getränke, weil sie sich das Bier drinnen nicht leisten können.
Mit dem Auto kann Marianne die junge Kollegin Christèle raus zum Hafen von Ouistreham fahren und einen Job auf der England-Fähre annehmen: Vier Minuten pro Kabine mit zwei Betten und Toilette haben die Mindestlohn-Arbeiter Zeit, wobei die Männer nie die Toiletten machen. Und die Passagiere benehmen sich zu oft wie Schweine bei der Überfahrt. Im Off-Kommentar ist Marianne ganz Autorin, die das Entstehen des Textes aus dieser Recherche erklärt und wie sich das Gruppen-Porträt auf Christèle kristallisiert. Eine Freundschaft, die enger wird und bricht, als die Tarnung der Schriftstellerin auffliegt.
„Wie im echten Leben" kam auf Betreiben von Juliette Binoche zustande. Lange „bearbeitete" sie die Buch-Autorin Florence Aubenas, doch diese wehrte sich erst gegen eine Adaption. Bis sie selbst Emmanuel Carrère als Drehbuchautor und sogar als Regisseur ins Gespräch brachte. Ein Schriftsteller, der bislang als Regisseur nur zwei, nicht sehr bekannte Filme ablieferte: Den Dokumentarfilm „Retour a Kotelnitch" und das Drama „La Moustache". Neben Juliette Binoche gab es keine weiteren professionellen Schauspieler im Film. Zwei Figuren verkörpern sich sogar selbst, die Fährarbeiterin Nadège und Justine, die ihre Abschiedsparty feiert.
Regisseur Emmanuel Carrère erzählt begeistert: „Juliette Binoche leistete einen großen Beitrag, als sie sich bereit erklärte, auf demselben Niveau wie die anderen zu spielen. Ich wusste, dass sie eine großartige Schauspielerin ist, aber ihre Bescheidenheit und Großzügigkeit haben mich verblüfft... Anfangs waren die Frauen etwas ängstlich, da Juliette ein großer französischer Star ist, aber sie hat sie schnell für sich gewonnen." Für „die Binoche", die angeschlagen vom Tod des Vaters zum Dreh kam, gab es einen besonderen Grund für diese Rolle: „Ich wollte schon immer eine Haushälterin spielen und im Grunde in ein anderes Universum eintauchen. Als meine polnische Großmutter während des Zweiten Weltkriegs nach Frankreich kam, musste sie Gelegenheitsjobs wie das Putzen des Hauses machen, um zu überleben."
Bemerkenswert an „Wie im echten Leben" ist, dass es kein hartes Sozialdrama geworden ist, kein Neorealismus französischer Art. Egal wie widerwärtig der Job ist, egal wie ekelhaft die Auftraggeber sind, die Frauen haben immer noch ein Lachen übrig. Nur der poetische Blick Mariannes auf Bäume erntet ein Stirnrunzeln. Wenn sie am Strand sitzt, muss sie lernen, dass die Kollegin keine Zeit hat für solche Sachen. Eine Vorarbeiterin wünscht sich bei der feierlichen Veröffentlichung des Buches, dass die Menschen von nun an mit anderen Augen auf der Fähre fahren. So etwas wäre als Effekt des Filmes auch sehr schön.