1.8.18

Locarno 2018 - die Berlinale von morgen?

Locarno. Das Filmfestival von Locarno ist das neue Berlin und die Berlinale 2020 das neue Locarno. Das 71. Locarno Festival (1. – 11. August) steht unter besonderer Beobachtung, seit vor einigen Wochen bekannt wurde, dass sein italienischer Festivalleiter, der ehemalige italienische Filmkritiker Carlo Chatrian, 2020 die Filmfestspiele Berlins übernehmen wird. Sein vorerst letztes Programm im Tessin zeigt ab heute Abend gewohnt leichte Unterhaltung für tausende Zuschauer auf der Piazza Grande, dem Filmsaal unter freiem Himmel. Die Cineasten am Lago Maggiore werden tagsüber in mehreren Wettbewerben die Kandidaten für die Goldenen Leopard begutachten.

Der wieder eifriger Deutsch lernende Carlo Chatrian verspricht für die atmosphärisch unvergleichliche Piazza Grande mit ihrer Riesen-Leinwand „leichtere" Filme und hat als letzten Beitrag seiner Intendanz hoffnungsvoll die Komödie „I Feel Good" von Benoît Delepine programmiert. Zum „Gut Fühlen" passt auch die Retrospektive dieses Jahres mit Filmen von Leo MacCarey, allgemein als der Schöpfer von „Laurel and Hardy" bekannt, vulgo: Dick und Doof.

Voll auf dieser leichten Linie unterhält der französische Eröffnungsfilm „Les Beaux Esprits" (Team Spirit) von Vianney Lebasque über das französische Basketballteam geistig Behinderter, das mangels ausreichender Spieler mit zwei gesunden Arbeitslosen aufgefüllt wird. Außer den schon bald im Kino startenden „Equalizer 2" mit Denzel Washington und „Blackkklansman" von Spike Lee gibt es im Mix aus Populären für den französischen, italienischen und deutschen Markt nicht viel, auf das ein deutsches Mainstream-Durchlauferhitzer-Kino wartet. Eventuell noch die Rückkehr der Regisseurin Sandra Nettelbeck ins beeindruckende Freilichtkino mit 8.000 Sitzplätzen, wo sie 2001 für die Köchel-Romanze „Bella Martha" den Publikumspreis erhielt. 2018 zeigt sie „Was uns nicht umbringt" und erzählt darin „mit melancholischer Heiterkeit von Sinnkrisen und Herzensangelegenheiten in der Mitte des Lebens".

Regisseur Jan Bonny („Gegenüber") geht mit seinem zweiten Langfilm „Wintermärchen" ins Rennen um den Goldenen Leoparden im internationalen Wettbewerb. Er erzählt die Geschichte von Becky, Tommi und Maik, einer dreiköpfigen rechten Terrorzelle, die im Untergrund lebt und von landesweiter Aufmerksamkeit träumt. Insgesamt sind 16 deutsche Filme und Koproduktionen in Locarno programmiert.

Wegen der Hitze braucht in diesem Jahrhundert-Sommer niemand über die Alpen zu ziehen. Höchstens wegen der Wärme, mit der junge Filmemacher und aufkommende Filmregionen traditionell in Locarno empfangen werden. Hier macht das Festival seit Jahrzehnten aus der Not eine Tugend: Die ganz großen Namen sind für Uraufführungen für Cannes, Venedig und Berlin vergeben. Der Rest ist nicht unbedingt schlechter, aber weniger schillernd - noch. Das Sommer-Festival erwies sich in der Vergangenheit nicht nur für die Filme als gutes Pflaster und klasse Brutstätte für Talent. Auch Festivalleiter nutzten die große Bühne der Piazza Grande. Schon Moritz de Hadeln leitete Locarno von 1972 bis 1977. 1979 startet er in Berlin und führte das Festival an den Potsdamer Platz und ins nächste Jahrhundert. Marco Müller war von 1992 bis 2000 Direktor des Filmfestivals Locarno, leitete danach für zwei Jahre Venedig sowie das neue Festival von Rom.

Bei aller Leichtigkeit im Abendprogramm bleibt die politische Botschaft von Spike Lees „Blackkklansman" symptomatisch für viele andere Filme und kleine Sektionen des engagierten Schweizer Festivals. Chatrian zeigt diesen Film aus Anlass des 70. Geburtstags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Das ist für mich ein ziviles Zeichen, mehr noch als ein politisches Zeichen," sagte er der Luzerner Zeitung. Dem Event-Charakter der Piazza mit allabendlichen Ehrungen und prominentem Schaulaufen ist die Änderung Namens von Locarno Filmfestival zu Locarno Festival geschuldet. Dass dabei die Filme trotzdem nicht zu kurz kommen, beweist im Wettbewerb der argentinische Beitrag „La Flor" von Mariano Llinás, der fast 14 Stunden dauert.