13.8.18

Locarno 2018 Abschluss / "Wintermärchen"

„Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe" - die treffende Zeile des Ärzte-Songs „Schrei nach Liebe" verfilmt mit viel sexueller Verklemmung sowie unglücklichen und dummen Menschen, die Ausländer ermorden. Das ist über zwei Stunden lang „Wintermärchen" von Jan Bonny und der Tiefpunkt im schlanken Wettbewerb des 71. Locarno Festivals (1.-11.8.), bei dem heute Abend die Preise vergeben werden.

Nachdem es mit dem Emotions-Potpourri „Was uns nicht umbringt" aus Deutschland auf der Piazza nicht geklappt hat, schaute man auf Terror aus der Heimat und von der Kölner Produktionsfirma „Heimatfilm": „Wintermärchen" von Jan Bonny feierte gestern seine Weltpremiere in Anwesenheit von Regisseur Jan Bonny und Produzentin Bettina Brokemper. Erzählt wird die Geschichte von Becky, Tommi und Maik, einer dreiköpfigen rechten Terrorzelle, die im Untergrund lebt und mordet. Wenn man rechtsradikale Morde von NSU und Co allerdings damit erklären will, dass Tommi Erektionsprobleme hat, von der hysterisch kreisenden oder depressiven Becky dauernd runtergemacht wird und Maik es beiden richtig besorgt, braucht man keine bessere Bildung und nachher keine Gerichte mehr. Die Wiedereinführung der Freien Liebe reicht! Wie unendlich naiv und unverschämt Jan Bonny argumentiert, ist eine Qual für den Verstand. Schmutzige Bilder und daueraufgeregtes Spiel tun zusätzlich weh.

Damit hätte der Wettbewerb, in dem keiner der fünfzehn Film übergreifend begeistern konnte oder große Chancen auf Kinoauswertung hat, wenigstens noch einen Skandal-Film vorzuweisen. Die Entscheidung um den Goldenen Leoparden bleibt spannend. Der gerafften Konkurrenz stand wie immer ein Wasserkopf an Ehrungen entgegen, bei denen man sich meist Sorgen um die Ausgezeichneten macht. „Ist es schon so weit? Ist die Karriere echt vorbei?" Siehe Meg Ryan, die einen Ehrenleopard erhielt. Keine Sorgen hat man um den ebenfall ausgezeichneten Franzosen Bruno Dumont, der neben seinem älteren Hardrock-Musical „Jeanette" über die Kindheit von Jean d'Arc auch die neuen Folgen seiner Miniserie "Kindkind" (im September auf Arte) präsentierte.

Einen weiteren Briefbeschwerer in Leoparden-Form erhielt Ethan Hawke, der mit seiner Regiearbeit „Blaze" die dramatische Story des Countrymusikers Blaze Foley nachzeichnet. „Blaze" ist eine weitere tragische und interessant inszenierte Musikergeschichte. Nach der Weltpremiere im Januar wurde der Film bisher nur in die USA verkauft.

Dass Festivals im Winter doch eigentlich angenehmer seien, war angesichts der Hitze ein Neuzugang im Katalog der Luxusklagen. Wenn selbst der Lago Maggiore keine Abkühlung mehr bietet, konnte man es nur in klimatisierten Kinos und Kaufhäusern aushalten. So zahlten sich 2018 die renovierten und neuen Kinos des kleinen Provinznestes aus, das für ein paar Tage im August kulturell international belebt wird. Eine komplette Abdeckung der Piazza Grande im Stile von Wimbledon bleibt wohl Utopie. Es unwetterte ein paar mal ins abendliche Open Air-Wohnzimmer des Festivals, aber auch das gehört zu Locarno. Wie die Galas für die Ehrengäste und Filialleiter der Schweizer Sponsoren, wie die vielen jungen Menschen, die zehn Tage lang Film feiern und leben. So kann Festivalleiter Carlo Chatrian problemlos wechseln nach Berlin, wo der Rote Teppich nicht ganz so quer liegt und es mit den noch aktuellen Stars besser klappen wird. Vermissen müssen wir dann hoffentlich nicht seine blumig begeisterten Texte in der Festivalzeitung, wo er den 18-stündigen Marathon „La Flor" ankündigt als Film, „der keine Geschichte erzählt, sondern eine Vielzahl von Universen kondensiert". Auch ein schönes Bild für ein lebendiges Festival.