Belgien, Frankreich 2005 (L'Enfant) Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne mit Jérémie Regnier, Déborah François 95 Min.
Im Mai erhielten die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne aus Lüttich für ihr in der Maas-Stadt angesiedeltes Sozialdrama "L'Enfant" (Das Kind) ihre zweite Goldene Palme. Obwohl sie über die Jahre hauptsächlich in Festivalkreisen Beachtung fanden, blieben sie ihrem sozialen Engagement und ihrem kargen Stil treu. Doch die Belgier sind mit ihrem neuen, stilistisch reduzierten Film "L'Enfant" so spannend wie noch nie. Es gibt in den deprimierend herunter gekommenen Vororten richtige Verfolgungsjagden um den kleinen Gauner Bruno (Jérémie Regnier). Der tollt noch wie ein Kind mit seiner Freundin herum, die gerade ein Baby gebar. Als Bruno wieder einmal kein Geld hat, verkauft er bedenkenlos das Kleinkind für einige Tausend Euro. Erst der Zusammenbruch der Freundin bewegt ihn zur Umkehr, er kann den Deal rückgängig machen, hat jetzt aber die brutalen Kinderhändler am Hals ...
"Menschen, die man nicht mehr sieht, in den Mittelpunkt zu stellen, das interessiert uns", sagte Luc Dardenne in einem Interview mit der taz. "Das ist eine Art Vergeltung für die Stimmung, die heute vorherrscht." So wurde schon die junge Arbeitslose "Rosetta" (1996, Goldene Palme von Cannes) zum verzweifelten Wesen, gehetzt zwischen Jobsuche und der alkoholkranken Mutter auf einem durchnässten Camping-Platz am Rande eines Lütticher Vororts. Das bedeutet Rand der Gesellschaft hoch drei, doch das Besondere an den Filmen der Dardennes, die mit dem Illegalen-Drama "La Promesse" ("Das Versprechen", 1996) erstmals international bekannt wurden, ist die enorme emotionale Wirkung trotz karger Mittel.
Die Sozial-Filmer Dardenne sind immer nahe am Milieu und an ihren Figuren - dank Handkamera. Manchmal unerträglich nah, emotional und auch ganz praktisch, wenn bei "Le Fils" (Der Sohn) die Kritik spottete, dass man ja nur den Rücken des Vaters sähe. (Dessen Darsteller, Olivier Gourmet, tauchte bislang übrigens in jedem Dardenne-Film auf und wird darüber hinaus im frankophonen Kino zum Star.) Doch meist wird man durch diesen Stil tatsächlich "mitgerissen" in die Welt der elenden Helden.
So auch beim Sujet des dummen Jungen, der immer tiefer in die Kriminalität abrutscht. Allerdings ist diesmal das Thema nicht so einzigartig wie bei den Vorgängern. Es wurde so schon recht oft gezeigt - zuletzt in Ken Loachs "Sweet Sixteen". Nur die Nähe zu ihren Menschen, das macht den Dardennes keiner nach.