Dänemark, BRD, Frankreich, Belgien, Großbritannien 2013 Regie: Lars von Trier mit Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBeouf, Christian Slater 118 Min.
An einem kalten Winterabend findet der ältere Junggeselle Seligman (Stellan Skarsgård) eine zusammengeschlagene Frau (Charlotte Gainsbourg) in einem Labyrinth aus Gängen und Ziegelwänden vor seinem Haus. Er nimmt sie mit in seine Wohnung, wo er ihre Wunden versorgt und ihr ein karges Bett samt Tee anbietet. Sehr brav und keusch entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden, ein Dialog der literarisch und nicht von heute wirkt. Nach kurzem Zögern meint die Frau namens Joe, sie müsse bei ihrer Geburt anfangen, es würde auch lang und moralisch werden. „Lang ist gut", meint der Zuhörer und der Kritiker stimmt nach drei Stunden „unzensiertem" Teil 1 ein.
Seligman hört aufmerksam zu, während Joe über vier Kapitel (in Teil 1) die sehr lustvolle Geschichte ihres Lebens als Nymphomanin erzählt. Und er widerspricht immer wieder überzeugend den Selbstvorwürfen Joes, sie sei ein schlechter Mensch. Dabei geht es nicht nur um Selbstbefriedigung im Kindesalter, um jugendliche Sex-Experimente und die leichte Verführbarkeit von Männern in einem Zug. Es geht ums Leben, zu dem beispielsweise auch der Tod gehört. Ein ganzes Kapital ist dem Tod des Vaters (Christian Slater) gewidmet und da ist der wahllose Sex Joes mit dem Pflegepersonal des Krankenhauses ein sehr verzweifelter. Mehr als erotisch ist „Nymphomaniac 1" vor allem witzig und raffiniert: Seligman vergleicht das Anlocken der Männer mit seinen Erfahrungen beim Fliegenfischen, fügt erstaunlich passende Exkurse zu Bachs Kompositionskunst und zur Fibonacci-Reihe hinzu.
Lars von Trier ist mit „Nymphomaniac" wieder mit voller Wucht zurück. Einem rätselhaften Geräusch ohne Bild folgt gleich zu Anfang die in Stille liegende Verwundete, bevor ein Lied von Rammstein ohrenbetäubend hereinbricht. Das ist nicht die Bildpracht von „Melancholia", aber wieso sollte Lars von Trier das Filmemachen verlernt haben, bloß weil „Nymphomaniac" als Porno werbewirksam skandalisiert wurde? Dabei achtete man bei der Produktion sehr wohl auf die Grenze zwischen E- und P-Kultur: Porno-Double wurden für die expliziten Sex-Szenen eingesetzt und ein künstlicher Schambereich musste in stundenlanger Arbeit der exzellent aufspielenden jungen Joe (Stacy Martin) „aufgeschminkt" werden, ohne dass man etwas davon bemerkt. Wer die Filme des Dänen liebt oder schätzt, erkennt in den ersten Minuten den Meister: Hier fließt „Wasser, Wasser überall", wie 1984 im Erstling „Element of Crime" der Detektiv Fisher bemerkte. (Und ist nicht Seligman hier nicht ganz Fischer, aber zumindest Angler?) Die Wände überall um die blutig am Boden liegende Joe, sind künstliche Kulisse wie in „Dogville" und „Manderlay". Das Verzweifeln am Bett des sterbenden Vaters, das im Sex mit Krankenpflegern Erlösung sucht, ähnelt dem hilflosen Suchen nach Erlösung von Emily Watson in „Braking the Waves". Die Frage, ob etwas Schlechtes in dieser Frau steckt, stellte sich schon im „Antichrist".
Nach vier von acht Kapiteln ist es für eine komplette Filmbewertung viel zu früh. Zu viele Fragen sind noch offen: Werden wir die Elemente B-A-C-H in der zweiten Hälfte im April wiederentdecken? Bleibt das Verhältnis zwischen Joe und Seligman distanziert? Wie wurde Joe verletzt? Begeisterung, Faszination und eine große Neugierde lässt sich auf jeden Fall schon konstatieren.
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