Zur Vorstellung seines neuen Film "Das Wunder von Macon" gastierte der britische Regisseur Peter Greenaway in Köln. Im Hotel "Wasserturm", das trefflich einem Motiv aus Greenaway-Filmen entspricht, sprach unser Mitarbeiter Günter H. Jekubzik mit dem intellektuellen Macher von immer wieder provozierenden Werken.
Gibt es ein historisches Ereignis, das Ihnen zur Grundlage für "Das Wunder von Macon" diente?
Es gibt mehrere zentrale Themen. Das Wichtigste war für mich ein Diskurs über die gegenwärtige Ausbeutung von Kindern. Das im heutigen Journalismus extrem aktuelle Thema hat mich aber nicht als Drama unserer Zeit interessiert, ich wollte es mit der vielleicht größten Ausbeutung eines Kindes in der Mythologie der westlichen Gesellschaft, mit der Geburt Christi, verbinden. Mich interessiert aber die filmische Sprache ebenso wie der Inhalt.
Auffällig an "Das Wunder von Macon" ist ein Publikum im Film, das wie bei "Rocky Horror Show"-Vorführungen immer wieder versucht, sich ins Geschehen zu integrieren.
Damit thematisiere ich das Verhältnis des Publikums zur Leinwand. Ich zeige in einer sehr opernhaften Darstellung das im 15.Jahrhundert spielende Stück 'Das Wunder von Macon' und in einer zweiten Ebene die Zuschauer im Theater des 17.Jahrhunderts. Dahinter steht der Gedanke, daß sich das Kinopublikum mit dem Theaterpublikum des Film vergleicht.
Die erschreckende Katastrophe des Films, die vielfache Vergewaltigung der Schauspielerin, ereignet sich genau in dem Moment, in dem Illusion und Realität der Bühne zusammenfallen. Welche Rolle spielt der junge Cosimo Medici, der diese Strafe empfahl, als Zuschauer?
Cosimo repräsentiert uns. "Das Wunder von Macon" ist ein religiöses Melodrama, daß in seine und damit auch in unsere Richtung gespielt wird.
Er bleibt am Rande der Ereignisse bis er den Figuren des Stückes die Strafe einflüstert.
Cosimo ist ein religiöser katholischer Novize, dem moralische Regeln gelehrt wurden, die er aber nicht wirklich versteht. Er repräsentiert auch das Zusammenspiel von Kirche und Staat, um jemanden zu zerstören, die es wagte, das Establishment anzugehen.
Die Schwester des Babys, die sich als jungfräuliche Mutter ausgibt, wird vom Bischof bekämpf und letztendlich grausam bestraft. Ist "Das Wunder von Macon" ein anti-katholischer Film?
Ich denke, es wäre sehr einfach einen solchen zu machen. Es gibt viele Möglichkeiten, die katholische Kirche anzugreifen. "Wunder von Macon" ist nicht nur wörtlich zu nehmen, es soll nicht allein um die katholische Kirche gehen. Anstelle des Katholizismus, ließe sich auch Kommunismus oder Kapitalismus setzen. Es soll vorgeführt werden, wie diese reagieren, wenn sie von außen angegriffen werden.
Denn es sind eigentlich die Kirchen, die für Wunder zuständig sind. Und hier kommt ein Mädchen, wohlgemerkt, nicht mal ein Mann, die versucht der Kirche etwas von ihren Bereichen wegzunehmen. Sie muß in einer Art katholischen Schauprozeß, in dem jeder beteiligt ist und jeder die Schuld hat, bestraft und erniedrigt werden. Viele vergleichen die Szene mit den institutionalisierten Vergewaltigungen moslemischer Frauen im ehemaligen Jugoslawien.
Obwohl ich metaphorische Hinweise zu anderen Gesellschaften mache, muß es im 17. Jahrhundert die katholische Kirche sein, die damals nicht nur das Leben der Menschen organisierte, sondern auch ihre Gedanken, Vorstellungen. Die römisch-katholische Kirche hat einen schrecklichen Ruf wegen ihrer Haltung gegenüber Frauen. Selbst noch vor einigen Wochen gab es wieder eine päpstliche Enzyklica gegen Empfängnisverhütung und das Recht der Frauen, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Das geht schon seit zweitausend Jahren so. Obwohl ich einen historischen Film gemacht habe, mit vielen Gedanken über Repräsentation und Haltung gegenüber Religion, erscheint mir "Das Wunder von Macon" auch sehr zeitgemäß, aktuell.
Gibt es nicht noch einen aktuellen Aspekt, der uns zeigt, welch grausame Katastrophen sich ereignen können, wenn wir Realität und Fiction nicht mehr unterscheiden?
Sehr richtig, der Film weist hoffentlich dauernd drauf hin, wie manipulativ Film an sich ist. Mit all diesen vielen Dekors und Details, mit der Handlung und dem Licht kann ich das Publikum von einer Illusion überzeugen. Aber ich kann es auch zurücktreten lassen, ihm sagen, sieh her das ist nur künstlich, wie kannst du an eine Vergewaltigung einer Schauspielerin auf der Bühne glauben?
Es gibt zwei Dinge, an die ich nie glauben konnte. Das eine ist der Tod, weil man weiß, ein Schauspieler wird niemals umgebracht, das andere ist der Geschlechtsverkehr, ich sage nicht Sex, ich sage nicht mal mehr 'Liebe', denn im letzten Jahrzehnt enthält wirklich jeder Film Geschlechtsverkehr. Ich habe versucht diese beiden Dinge bis an den Rand des Möglichen zu verschieben. Ihr wollt Tod? Okay ich gebe euch richtigen Tod! Ihr wollt Geschlechtsverkehr? Okay, ich gebe ihn euch - um zu zeigen wie schrecklich das Kino diese beiden Dinge für seine Manipulationszwecke ausnutzt.
Ist die Lust, den Tod zu sehen, nicht auch Grund für all die Snuff-Movies und Realtity-TV Erscheinungen?
Der Tod ist die neue Herausforderung geworden. Sex kontrollieren wir im 20.Jahrhundert zu einem hohen Grad, aber wir haben keine Kontrolle über den Tod, das ist trotz aller medizinischer Fortschritte unmöglich geblieben.
Ich will an diese Phänomene erinnern. Es scheint mir außergewöhnlich, daß im Kino so oft der Tod behandelt wird. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Wir werden so lange tot sein, weshalb imitieren wir diesen Zustand schon vorher, weshalb interessiert uns das so sehr, wenn der Tod auf der Bühne oder der Leinwand gespielt wird?
Während der Vegewaltigungsszene fällt der Gegensatz zwischen den grausamen Aktionen, die durchgehen zu hören sind, und einer Schönheit der Bilder, einer Eleganz der Kamerabewegungen auf. Auch in "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" wurde die Ermordung des Liebhabers so widersprüchlich inszeniert?
Es wäre sehr einfach für mich, den ganzen Film in einer rattenverseuchten dunklen Seitengasse einer mittelalterlichen Stadt spielen zu lassen. Weshalb sollen alle gewalttätigen Ereignisse auf dunklen Seitengassen in Jugoslawien stattfinden. Sie können sich ebenso vor dem Rothschildpalast im Zentrum New Yorks oder im Buckingham Palace ereignen. Wir machen uns oft vor, das diese tödlichen Ereignisse nie in Verbindung mit Macht und Geld stattfinden. Zudem versuchen wir, den Tod zu ritualisieren, ihn zu organisieren und damit zu verhüllen. Wir geben dem Tod einen schönen Geruch, wir kleiden den Leichnam in schöne Gewänder, wie schminken das Gesicht, wie Lenins Gesicht im Mausoleum auf dem roten Platz, wir machen uns vor, daß der Tod nicht stattfindet.
Alle meine Filme zeigen im Prinzip, daß die Welt ein reicher Ort mit tausenden interessanter Gegenstände und einem Sinn für Freude ist, der vor der Menschheit hauptsächlich kaputt gemacht wird. Das denken wir weitgehend alle - im Zusammenhang von Umweltverschmutzung oder Überbevölkerung.
Die Handlung von "Baby" spielt im 15. und im 17.Jahrhundert. Hätten Sie die Handlung auch in ein heutiges Theater verlegen können?
Das hätte ich machen können, aber ich wollte mich mit einem Langzeitblick mit dem christlichen Mythos des Kindes beschäftigen, der bekanntesten Ausbeutung eines jungfräulich geborenen Kindes. Ich bin kein Dokumentarist und will Fiktion machen. In einem historischen Film kann ich - wie in einem Science Fiction - innerhalb der Grenzen unseres historischen Wissen alles neu schöpfen. Ich gestalte die Umstände so, daß sie genau meinen Ideen entsprechen. Wenn ich die erste Szene in einem deutschen Krankenhaus des Jahres 1993 placiert hätte, hätte ich mich um Hebammen und Gynäkologen und das Gesundheitssystem und die Archtektur von Krankenhäusern kümmern müssen. Aber in diesem Film hat mich das alles nicht interessiert. Deshalb habe ich es in der Vergangenheit angesiedelt.
Die Straußberg Universität hat mich gerade gebeten, "Das Wunder von Macon" als Theaterstück aufzuführen. Es ist eine interessante Herausforderung. Ich kann kein echtes Baby auf der Bühne einsetzen, ich kann keine Kuh auf der Bühne abschlachten und wo plaziere ich das Publikum innerhalb des Stückes.
Ist nicht für die Schauspieler ein sehr gefährliches Projekt, in einem Stück mitzuspielen, daß den die tödliche Verquickung von Rolle und Realität behandelt?
Das kann sein. Wir werden sehen, wie es ausgeht.
Weshalb verläßt die Figur des Kantor das Stück ohne Verletzungen? Wenn das Stück eine Metapher über das Erzeugen von Illusionen ist, entspräche der Kantor dem Regisseur eines Films und der Regisseur läßt nach weit verbreiteter Auffassung immer etwas von seiner Figur in seinem Werk.
Ich bin derjenige, der alles organisiert, der alle Figuren leitet. Es ist auch sehr bedeutungsvoll, daß der Kantor dem Baby seine Stimme gibt bzw. daß ich dem Baby meine Stimme leihe. Das Baby stellt eine Form der Unschuld dar, ein Kind, das als Macht enden wird. In der Mitte des Films bewirkt das Kind das einzige wirkliche Wunder, den Angriff der Kuh im Stall.
Doch wenn das Spiel zu Ende ist, kommt der Bühnendirektor nach vorne, klatscht in die Hände und das Drama löst sich auf. Alles fällt auseinander, das Publikum, das vom Kinopublikum als Zuschauer gesehen wurde, zeigt sich als eine weitere Gruppe von Schauspielern und Schauspielerinnen. Damit können sie als das Kinopublikum sich identifizieren und vielleicht sind hinter Ihnen weitere Zuschauer, zurück bis zu Gott. Wir werden alle beobachtet, ich bin überrascht, daß hier keine Überwachungskamera ist.
Aber wir werden auch eine Welt von Zuschauern, zu diesem Zeitpunkt sitzen Millionen Menschen passiv und manipuliert vor dem Fernseher oder vor der Kinoleinwand. Und es werden immer mehr. Aber während wir zusehen, werden wir auch gesehen. Wir sind eine Welt der beobachteten Zuschauer, das ist ein Teil der Parabel dieses Films.
Wie waren die Reaktionen auf "Das Wunder von Macon" in anderen Ländern?
Der Film wurde sehr hart angegriffen in Cannes und in England. Es ist ein sehr verstörender Film, nicht allein wegen seines Themas, denn es ist auch ein Film, der zeigt, wie Film funktioniert und wie er manipulieren kann. Und das können einige Leute nicht ertragen. So war es allerdings auch mit "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber", der jetzt als eines der wichtigsten Werke des britischen Films der letzten zehn Jahre angesehen wird. "Baby" ist im Moment unter den zehn bestbesuchten Filmen Londons. Ich denke, der Film ist provokativ und er fordert heraus, doch wenn die Leute anfangen, über seine Themen nachzudenken, werden sie herausfinden, wie überzeugend, interessant und sogar unterhaltsam diese Themen präsentiert werden.
Gibt es nationale Unterschiede in der Rezeption ihrer Filme?
In Deutschland hatte erstmals der "Koch" einen gewissen Erfolg. Die anderen Filme wurden zwar gezeigt, aber "Der Kontrakt des Zeichners hatte in Italien und und Frankreich die größten Erfolge.
Müssen Sie für das Fernsehen arbeiten, um ihre Kinofilme zu finanzieren?
Nein, ich interessiere mich für die Herstellung von Bildern jeder Art: Ich male noch immer, ich werde im nächsten Jahr eine Oper in Amsterdam inszenieren, ich mache einige CD-Roms und habe mehrere TV-Projekte. Wenn es eine Gelegenheit gibt, spannende visuelle Dinge zu tun, ergreife ich sie gerne.
Was machen Sie mit CD-Rom, etwas in der Art ihre Ausstellungen in Rotterdam und Wien?
Im nächsten Jahr habe ich eine Ausstellung in Genf mit dem Titel "Stairs". Wir machen eine CD-Rom über die Geschichte der Treppenhäuser in der europäischen Malerei und Kunst. Parallel zu meinem nächsten, weitgehend aus Japan finanzierter Spielfilm "Aubergensfeld" ensteht eine CD-Rom, die eine Menge mehr Informationen enthält, alle Hintergründe, Recherchen und anderes, was nicht im Film auftauchen wird. Auch zu meinem nächsten Channel 4 TV-Projekt "100 Things to represent the World" - 100 Kurzfilme von einer Minute, die zur besten Sendezeit hundert Abende lang gezeigt werden - entsteht es eine CD-Rom geben.
Haben Spiegel eine besondere Bedeutung für Ihre Filmarbeit?
Ich bewundere Borghes sehr. Zwei Bilder, die ich mit Borghes verbinde, sind das Labyrinth und der Spiegel, gewissermaßen sind sie das gleiche Phänomen. Jedes Kunstwerk ist immer ein Spiegel für den Künstler, in dem er sich selber sieht. Seine Leidenschaften, seine Wünsche, Träume oder Qualen und Alpträume. Derart ist der Spiegel eine Metapher. Natürlich sind sie aus der Sicht der Kamera sehr aufregende Gegenstände zum Spielen, wie es zum Beispiel Orson Welles im Finale von "Lady from Shanghai" (Touch of evil?) gemacht hat.
Werden Sie bei Ihren nächsten Film "Augsbergenfeld" wieder mit hochauflösenden elektronischen Kameras (HDTV) arbeiten?
"Augsbergenfeld" wird in Schwarz-Weiß, Monochrom und Farbe aufgenommen, denn eines der Themen des Films ist die These, daß es die 'Vergangenheit' nicht gibt, daß sie nur von Historikern rekonstruiert wurde. Ich werde mit dieser Farb-Codierung verschiedene Perspektiven benutzen und die Bedeutung von Szenen sehr einfach betonen können.
HDTV habe ich nicht nur für Prospero, sondern auch für die TV-Produktionen "M is for Mozart" und "Darwin" eingesetzt. Mit "Das Wunder von Macon" bin ich technisch einige Schritte zurück gegangen, um mich auf andere Aspekte zu konzentrieren.
Sind nach "Das Wunder von Macon" weitere Projekt mit der Filmstiftung NRW geplant? Dort sagte man, es würden insgesamt drei Filme mit ihnen gedreht.
Wer hat Ihnen das gesagt? Ich würde es gerne machen, "Augsbergenfeld" hat einen deutschen Titel, es geht um ein Ereignis des Dreißigjährigen Krieges, eine Schlacht - besser zwei Schlachten, die 1628 an einem Tag an der Grenze zwischen Westfalen und den Niederlanden stattfanden. Das wäre eine gute Basis für die Finanzierung durch die Filmstiftung NRW.
Mit dem deutschen Produzenten Thomas Klinger plane ich ein HDTV-Remake meines Films aus dem Jahr 1978 "The Falls", der jetzt auch als Roman erschienen ist. Der Verlag Rogner und Bernard, der auch das Buch "Das Wunder von Macon" veröffentlicht hat, wird ihn wahrscheinlich ins Deutsche übersetzen lassen.
Wissen Sie, daß ihr Nachwort in dem Buch "Das Wunder von Macon" stark verändert wurde?
Das Script wurde ursprünglich für die Produzenten geschrieben und nicht für die Veröffentlichung verändert.
Sie haben für die Filmmusik diesmal nicht mit Michael Nyman zusammengearbeitet?
Für "Das Wunder von Macon" habe ich sechs Komponisten des frühen 17.Jahrhunderts gewählt, da ich musikalisch in die Epoche der Handlung zurückgehen wollte, ohne die ursprüngliche Musik modern zu filtern. Die Musik dieser Periode fasziniert mich, sie taucht in verschiedensten Formen auf. Diese Breite hätte mir ein Komponist nicht geben können.
Gibt es da nicht einen Widerspruch zu Ihrem Verständnis der Bilder, die ja keine wirkliche Vergangenheit abbilden, sondern nur Entwürfe von Vergangenheit schaffen?
Das stimmt, aber ein umgekehrter Vorwürf hätte dann den "Kontrakt des Zeichners" treffen müssen. Dort gab es zeitgemäße Kostüme, Umgebungen und Verhalten, weshalb habe ich dort keine zeitgemäße Musik eingesetzt?
Im Barock setzte die katholische Kirche natürlich auch die besten Komponisten und die beste Musik ein, um mit diesem stark emotionalen Mittel für den Glauben zu werben. So ist es auch ein Kommentar zum propagandistischen Einsatz von Musik.