30.9.25

Karla

Bei einem Sommerausflug der Familie nutzt die zwölfjährige Karla das Versteckspiel, um wegzulaufen. Damit will sie das Verstecken des Missbrauchs durch den Vater beenden. Inspiriert von einem wahren Fall erzählt das feinfühlige und bewegende Drama „Karla" vom kaum vorstellbaren Kampf eines Mädchens um Gerechtigkeit und ein gutes Leben.

Mitten in einer Nacht des Jahres 1962 steht das stille, aber entschlossene Mädchen Karla Ebel (Elise Krieps) in einem Polizeirevier und verlangt, den Richter zu sprechen. Sie zeigt ihren eigenen Vater wegen Vergewaltigung an. Ihr Wissen über die Rechtssituation und sogar den Wortlaut der Paragrafen hat sie in der Bibliothek erworben. Karla fragt zudem, ob Artikel 2 des Grundgesetzes – „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" – auch für Kinder gilt. Glücklicherweise landet der Fall bei dem verständnisvollen Richter Lamy (Rainer Bock), der zwar gutwillig, aber überarbeitet ist. Seine Sekretärin Erika Steinberg (Imogen Kogge) muss ihm erst zureden, damit er sich um diesen bis dahin einmaligen Fall kümmert. Sie macht dem verschlossenen Einzelgänger klar, dass es für Karla um ihre Würde geht. Und sie zitiert die Dichterin Mascha Kaléko: „Man braucht nur eine Insel allein im weiten Meer. Man braucht nur einen Menschen, den aber sehr."

So machen sich die beiden Geschundenen auf den schwierigen gemeinsamen Weg, eine Anklageschrift zu erstellen. Eine Situation, die noch heute unvorstellbar fordernd ist, ganz zu schweigen von den Sechzigern im schwarz-konservativen Deutschland Adenauers. Die Anzeige wurde damals ohne Anwesenheit einer Frau oder psychologischer Betreuung aufgenommen. Nach dem ersten Gespräch mit Lamy kommt Karla in einem von Nonnen geleiteten Heim unter und freundet sich mit einem Mädchen an, das früher als Prostituierte gearbeitet hat. Die Erinnerungen kommen im Büro des Richters und im Film nur ganz zögerlich zurück. Karla übergibt sich, wenn sie an die Vergewaltigungen denkt. Daraufhin gibt Lamy ihr eine Stimmgabel, die sie in den Momenten einsetzen soll, in denen sie nicht sprechen kann. Gleichzeitig stellt das aufbegehrende, vergewaltigte Kind mit seinem Verlangen nach Gehör und Ehrlichkeit das Rechtssystem auf die Probe.

Filmisch bleibt dieses Langfilmdebüt der Deutsch-Griechin Christina Tournatzés ebenfalls meist zurückhaltend und verzichtet beispielsweise fast ganz auf Musik. Dafür wirken die seltenen, expressiveren Stilmittel umso stärker und bauen von Anfang an Spannung auf. Einmal legt der Vater Karla nahe, sich im See umzubringen, was die vielen Bilder unter Wasser nachträglich erklärt. Ansonsten besticht die dezente Kameraarbeit des ausgezeichneten Florian Emmerich mit gedeckten, dunklen Farben. Im Interview erzählte die Regisseurin, dass sie ihren Film „ganz aus Karlas Perspektive – und immer auf Augenhöhe mit ihr" gestaltet hat.

Dass „Karla" sein schwieriges Thema auf derart sensible Weise meistert, liegt auch am fesselnden Spiel der Debütantin Elise Krieps, sichtbar die Tochter von Wiebke Krieps („Der seidene Faden" 2017, „Bergman Island" 2021, „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste" 2023). Sie verkörpert Karla mit einer stillen Kraft, die besonders intensiv wirkt, wenn sie nichts sagt, nichts sagen kann. Rainer Bock beeindruckt als verständnisvoller Richter. Seine eindrucksvolle Figur zeigt, wie sich ein Mann ohne spezifische psychologische Ausbildung von Empathie leiten lassen kann. Imogen Kogge unterstützt als resolute Sekretärin mit tragischer KZ-Geschichte den Kampf um Gerechtigkeit.

Der letzte Teil ist dann als Epilog der spannenden emotionalen Abläufe ein Gerichtsfilm, in dem das Offensichtliche von allen Zeugen, von Täter, Mutter und Brüdern geleugnet und verschwiegen wird. „Karla" erinnert wegen des großen Schrittes für die Gerechtigkeit an „Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) über den ersten Auschwitz-Prozess unter Staatsanwalt Fritz Bauer. Auch bei „Karla" erinnert erst der Abspann an das unfassbare Ausmaß der Verbrechen. Bei Vergewaltigungen von Minderjährigen wird geschätzt, dass noch heute jedes fünfte Kind Opfer wird.

„Karla"
(Deutschland 2025), Regie: Christina Tournatzés, mit Elise Krieps, Rainer Bock, Imogen Kogge, 104 Minuten, FSK: ab 12