26.12.25
Der Fremde (2025)
21.12.25
Die jüngste Tochter
Im Zentrum der Verfilmung des autofiktionalen Debütromans von Fatima Daas steht Fatima, gespielt von der beeindruckenden Debütantin Nadia Melliti, die den Film mit einer stillen, unaufdringlichen Präsenz trägt. Fatima wächst als jüngste Tochter einer französisch-algerischen Familie in den Pariser Vororten auf. Ihre Clique besteht aus Jungs, die mit erfundenen sexuellen Abenteuern prahlen. In der Schule wird Romantik durchgenommen und Oscar Wilde homophob verspottet. Fatima weiß längst, dass sie an Jungen nicht interessiert ist. Als ein Mitschüler sie jedoch als Lesbe bezeichnet, bricht ein innerer Konflikt auf, den die Regisseurin ohne jede Dramatik, aber mit großer Sensibilität inszeniert.
Zu Hause findet Fatima ein stabiles, liebevolles Umfeld vor. Ihre Mutter ist eine ruhige, unterstützende Kraft, ihr Vater ist zwar patriarchalisch, aber kaum präsent. Einer der bewegendsten Momente des Films ist kein Streit, sondern ein warmes Gespräch zwischen Mutter und Tochter – ein bewusster Gegenentwurf zu den gängigen Coming-out-Dramen. Herzi vermeidet konsequent die Klischees des Banlieue-Films: Alle drei Töchter haben das Baccalauréat, den französischen Schulabschluss, geschafft und Fatima wird Philosophie studieren.
Das Nesthäkchen der Familie ist cool, bestimmend, spielt Fußball, raucht. Als sie sich in die asiatischstämmige medizinische Assistentin Ji-Na (Ji-Min Park) verliebt, die sie in einer Dating-App wiedererkennt, beginnt ein neues Kapitel. Nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht folgt ein Gebet – ein leiser Hinweis auf den Zwiespalt zwischen Religion und Begehren, der Fatima begleitet, ohne dass der Film ihn je plakativ ausstellt. Der Imam ihrer Gemeinde spricht offener über Homosexualität, als Fatima erwartet hätte, und doch bleibt das Thema vor allem ein innerer Kampf.
Fatima ist ernst, fast verschlossen; erst spät im Film lacht sie zum ersten Mal. Bei einem frühen Date erhält sie von einer älteren Frau pragmatische Tipps für Sex zwischen Frauen – eine Szene, die Herzi mit Humor, aber ohne Voyeurismus inszeniert. Melliti ist in jeder Szene präsent und trägt den Film mit einer Intensität, die an Herzis eigene frühe Karriere erinnert. Die damals 19-jährige Hafsia Herzi spielte 2007 in „Couscous mit Fisch" des französischen Regisseurs Abdellatif Kechiche, der 2008 den Karlspreis für Medien in Aachen erhielt, die Bauchtänzerin Rym. Sie rettet ihren Stiefvater, als das titelgebende Couscous bei einer großen Feier nicht serviert werden kann. Mit ihrer charismatischen Präsenz hielt sie die Gäste und das Publikum in Atem. Nach über 60 Filmrollen ist Hafsia Herzi mittlerweile auch eine erfolgreiche Regisseurin. Neben der persönlichen Geschichte zeichnet „Die jüngste Tochter" ein atmosphärisches Bild der modernen, multikulturellen Großstadt: ägyptische, deutsche und koreanische Geliebte, eine fröhliche Pride-Demonstration.
„Die jüngste Tochter" ist ein Liebesfilm, jedoch keiner der großen Gesten. Er steht neben anderen Queer-Filmen wie Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe", Céline Sciammas „Porträt einer jungen Frau in Flammen" und Barry Jenkins „Moonlight", zärtlich, beobachtend, tief berührend. Herzi zeigt, wie Coming-out, Religion und Identität miteinander ringen können, ohne dass daraus zwangsläufig ein Kampf entsteht. Man erlebt Fatimas emotionale Achterbahn mit, weil der Film ihr Raum gibt, ohne sie zu erklären. Ein kleines, großes Werk – und ein weiterer Beweis dafür, dass Hafsia Herzi zu den wichtigsten Stimmen des europäischen Autorenkinos gehört.
„Die jüngste Tochter" (Frankreich/Deutschland 2000), Regie: Hafsia Herzi, mit Nadia Melliti, Ji-Min Park, Amina Ben Mohamed, 107 Minuten, FSK: ab 12
9.12.25
Yi Yi (2000)
Eine Hochzeit in Taipeh: Die Familie ist in Aufruhr, wilde Hochzeitsriten sorgen für Geselligkeit. Doch als NJ, der Bruder der Braut, zufällig seine erste Liebe trifft, beginnt sein inneres Chaos. Der stille Familienvater und Musikliebhaber beobachtet kritisch den Umbruch in seinem Computerunternehmen. Zuhause strapaziert der Schlaganfall der Schwiegermutter die Familie. NJs Frau sucht Zuflucht bei Mönchen, während Vater und Tochter, ohne voneinander zu wissen, gleichzeitig mit romantischen Abenteuern beschäftigt sind. Im Zentrum steht jedoch die Perspektive des klugen und aufmerksamen Sohnes von NJ, der sich wie sein Vater viele Gedanken über das Leben macht. Seltsame Momentaufnahmen mit einer Fotokamera verbinden sich mit naiv philosophischen Gedanken. Dabei leidet er in der repressiven Schule unter der totalitären Kontrolle eines dummen Lehrers.
Edward Yang, der bedeutende Chronist taiwanesischer Geschichte(n) („A Brighter Summer Day", „A Confucian Confusion"), gelang ein auf leise, stimmige Weise fesselndes Gesellschaftsporträt. Ein Meisterwerk, das hervorragend gealtert ist – die Themen wirken aktueller denn je: Die Stimmung in Taipeh ist angespannt. Auch die „Tiger-Staaten" haben nach einer Periode des Aufschwungs wirtschaftliche Probleme. Es ist eine Zeit der Unsicherheit – in jeder Hinsicht. Die Familie fällt auseinander, niemand kümmert sich um die Alten, jeder nur um sich selbst. Allein der junge Sohn träumt noch von seiner inzwischen verstorbenen Großmutter. Im humorvollen Zwiegespräch mit dem Vater werden noch einige hergebrachte Werte gewürdigt. Trotz der distanzierten Kamera mit starren Einstellungen bringt uns Yang diese Familie einfühlsam und fein näher – da möchte man auch nach drei Stunden noch keinen Abschied nehmen.
Yi Yi (Taiwan/Japan 2000), Regie: Edward Yang, mit Wu Nianzhen, Elaine Jin, Kelly Lee, 173 Minuten, FSK: ab 6
5.12.25
Ein Leben ohne Liebe ist möglich, aber sinnlos
Alex und Eva – die Tragikomödie „Ein Leben ohne Liebe ist möglich, aber sinnlos" erzählt eine (Film-)Geschichte, die fast so alt ist wie Adam und Eva. Mit etwas Rom-Romantik (siehe William Wylers „Ein Herz und eine Krone" mit Audrey Hepburn und Gregory Peck) und viel vertrautem Barcelona-Hintergrund von Regisseur Cesc Gay („Sentimental", 2020). Äußerlich passiert bei „Mi amiga Eva" – so der bessere Originaltitel – allerdings nicht so viel. Es ist keine klassische Dreiecks- oder Ehebruchsgeschichte, sondern eine Komödie über die Lust am Spiel der Liebe mit dem realistischen Twist wenig berauschender Aussichten für eine Frau um die 50. Die eher peinliche bis erbärmliche Auswahl der Date-Partner amüsiert herrlich. Aufgeweckte Dialoge im lebendigen Freundeskreis lassen das bitter-süße Liebesdrama mit einem Hauch von Woody-Allen-Zynismus vorankommen. Die Leichtigkeit und Lebensnähe vieler französischer Arthouse-Geschichten wird von den intellektuellen Großstadtbewohnern nicht nur zitiert, sondern gelebt. Hauptdarstellerin Nora Navas, bekannt aus Almodóvars „Leid und Herrlichkeit", trägt die sympathische Geschichte hervorragend. Auch die anderen Figuren sind sorgfältig gezeichnet. Man folgt der anfangs enttäuschenden Entwicklung mit einem Schmunzeln und viel Mitgefühl und wird schließlich mit einem verhaltenen Happy End belohnt.
Ein Leben ohne Liebe ist möglich, aber sinnlos (Spanien 2025), Regie: Cesc Gay, mit Nora Navas, Juan Diego Botto, Rodrigo de la Serna, 100 Minuten, FSK: ab 12
17.11.25
Eddington
Diese fast surreale Anhäufung von Krisenthemen und eskalierenden Situationen in „Eddington" betreibt selbst den beliebten „Whataboutism" der Querdenker: Wenn man meint, das zentrale Thema fixiert zu haben, ist längst ein anderes dran. Bis hin zum Splatter-Finale mit schwerem Geschütz in Western-Straßen und einem heftig zynischen „Happy End" für Joe und die Dorfgemeinschaft. Diese Anhäufung von Verwirrungen, künstlichen und sonstigen Aufregungen ist ebenso irre wie der totale Stimmungswechsel in „Midsommar". Quasi ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Abwege – aber will man im Kino noch mehr davon sehen? „Eddington" sorgte schon bei seiner Premiere in Cannes für heftige Diskussionen und wird das auch weiterhin tun.
Eddington
(USA 2025), Regie: Ari Aster, mit Joaquin Phoenix, Pedro Pascal, Emma Stone, 148 Minuten, FSK: ab 16
8.11.25
Die my love
Der gutmeinende Jackson bringt einen nervtötenden Hund mit nach Hause, der alle in den Wahnsinn treibt – wenn sie nicht längst schon dort waren. Die impulsive Beziehung geht explosiv in eine zerstörerische Richtung. Zerstörerisch für die Inneneinrichtung – aber vor allem für Grace selbst. Auch der kleine, unerträgliche Hund muss dran glauben. Das Erschießen des Quälgeistes mag für einige genauso schockierend sein wie Niki de Saint Phalles Schießen auf das Bild des Vaters. Das Verhalten von Grace könnte feministisch „ungezähmt" genannt werden, glücklich ist mit der Situation niemand.
Das verstörende neue Drama von Lynne Ramsay beginnt mit der sexuellen „Einweihung" des alten Hauses, unterbrochen von Bildern eines lichterloh brennenden Waldes, in den die nackte Grace geht. Die renommierte Filmemacherin zeichnet in „Die My Love" schonungslos das Porträt einer Frau, die von Liebe und Wahnsinn verschlungen wird. Dem schweren psychischen Problem wird im Film kein Name gegeben, einige Kritiken nennen es postnatale Depression. Das ist in jedem Fall schwer erträglich, aber den kurz angetäuschten Tradwife-Trugschluss will man am Ende auch nicht sehen. Das extreme Drama erinnert ein wenig an Darren Aronofskys Tour de Force „mother!" (ebenfalls mit Lawrence, damals neben Javier Bardem), aber vor allem an filmische Beziehungskriege wie „Blue Valentine" von Derek Cianfrance mit Ryan Gosling.
Jennifer Lawrence („Silver Linings", „American Hustle") spielt intensiv. Mit dem Ex-Vampir Pattinson hat sich der Film zwar einen weiteren Star auf dem Poster eingehandelt (neben Nick Nolte und Sissy Spacek), aber keinen Gegenpart. Doch der schwache Partner mag auch so in der Vorlage von Ariana Harwicz angelegt sein.
Der von Jennifer Lawrence auch produzierte „Die my love" ist Lynne Ramsays neuester Film nach aufsehenerregenden Werken wie „Ratcatcher" (1999), „Morvern Callar" (2002) oder „We Need to Talk About Kevin" mit Tilda Swinton (2011) als Mutter eines Amokläufers. Zuletzt drehte Ramsay „Swimmer" und „A Beautiful Day" mit Joaquin Phoenix. Trotz der Stars auf dem Plakat macht sie keine Filme für das große Publikum von „Die Tribute von Panem" oder „Twilight". Die Handlung in „Die my love" verläuft nicht chronologisch, die Farben wirken oft zu bunt, das Format ist das klassische 4:3 und das hat nichts mit der Auswertung beim Streaming-Anbieter „Mubi" zu tun.
Die my love
(Kanada 2025), Regie: Lynne Ramsay, mit Jennifer Lawrence, Robert Pattinson, Sissy Spacek, 118 Minuten, FSK: ab 16
3.11.25
Dann passiert das Leben
4.10.25
Zweigstelle
Resis Trennungsgesprächs-Übung mit ihrer Freundin war ziemlich überflüssig, denn Beziehungspartner Michi Wagner kommt ihr mit der Offenlegung eines tödlichen Tumors zuvor. Drei Jahre später ist Resi (Sarah Mahita) genau da, wo sie auf keinen Fall sein wollte. Auf dem Dorf als Teil des bäuerlichen Familienbetriebs Wagner. Aber endlich frei, denn Michi (Julian Gutmann) ist inzwischen gestorben. Es bleibt nur noch ein letzter Wunsch: seine Asche oben auf einem Berg zu verstreuen – gegen den Willen seiner Eltern. Und so geht es komödiantisch weiter: Die Urne kippt um und die Überreste werden mit dem Handstaubsauger aufgesaugt. Nach dem Diebstahl eines Plastikbeutels voller Überreste ihres ehemaligen Verlobten starten vier Freunde ins übliche Roadmovie, um den letzten Wunsch zu erfüllen. Am Steuer dieser illegalen Aktion sitzt die Polizistin Sophie (Nhung Hong). Bis zur nächsten Kreuzung, an der ein Laster und ein alberner Unfall dem Film eine neue Richtung geben ...
Den vier Freunden dämmert langsam, dass die verstaubte bayerische Bürokratie, in der sie in Feinripp-Unterwäsche stehen, die „Zweigstelle Süddeutschland", die Vorstufe von Himmel oder Hölle ist. Am sehr menschlichen Empfang gibt es überarbeitete Engel, Bürokratinnen im Woll-Kostümchen und sehr viele Regeln. Die Einrichtung ist irgendwie in den Sechzigern steckengeblieben – nicht nur ästhetisch mit Pastellgelb und -grün zwischen der Holzvertäfelung, sondern auch vom Servicecharakter her. Obwohl hier die Erfahrung einer Ewigkeit vorliegen sollte, funktioniert nicht viel: Der Automat für Bearbeitungsnummern ist bei 999.999 ans Ende seiner Zahlen gekommen und wird unendlich langsam von Hand zurückgedreht. Mel (Beritan Bali), die gerade wiederbelebt wird, verschwindet immer wieder aus dem Amt. Das Nichts als Zielort für alle Ungläubigen befindet sich hinter einer der vielen Türen der Bürogänge, ist aber gerade defekt. Dafür wird hier sehr auf den korrekten Gebrauch des Genitivs geachtet und „von dem Genitiv" sofort korrigiert.
Auch wenn wir uns eigentlich schon in der Hölle der deutschen Bürokratie befinden, geht es um die Weiterleitung der Seele, nachdem der Glaube geprüft wurde. „Das Nichts" droht allen, die an nichts geglaubt haben. Dabei reicht es, an den Film „In einem Land vor unserer Zeit" zu glauben. Philipps Behauptung, Buddhist zu sein, wird in der Unterabteilung mit dem defekten Drucker bald als Lüge enttarnt. Während Resi auf ihre Bearbeitungsnummer 0 wartet, bewirbt sie sich derweil als Praktikantin beim netten Hausmeister Rainer Bock, immer mit einem Auge auf den Schlüsselbund, der vielleicht zu einem guten Ausgang führt. Mit seinem goldenen Kugelschreiber bewirkt er kleine Wunder.
„Zweigstelle" erzählt eine nette Geschichte und begeistert mit einem Feuerwerk schräger Ideen. Das Drehbuch von Regisseur Julius Grimm und Koautor Fabian Krebs besticht durch einen skurrilen Humor, wie man ihn eher in skandinavischen oder niederländischen Filmen sieht, in deutschen jedoch selten. Als Maßstab wäre Wes Anderson für dieses Langfilmdebüt nach einigen Kurzfilmen allerdings zu hoch gegriffen, auch wenn die Ausstattungslinie gelungen ist. Irgendwie geht es um Resis Entscheidung zwischen einem aufopferungsvollen Leben und Selbsterfüllung. Resi wollte und will nur ihr eigenes Leben leben. Allzu tiefe Erkenntnisse liefert das nicht. Dafür ist alles gut inszeniert und gespielt und zudem unterhaltsam flott geschnitten. Generell muss man tolerieren, dass der Dialekt sehr bayerisch ist und die Handlung allein im katholischen Denksystem funktioniert.
Rick Kavanian („Der Schuh des Manitu") als Bestattungsunternehmer zeigt, wo der mal alberne, mal skurrile Humor einzuordnen ist. Diese „Zweigstelle" macht viel Spaß, weil den Machern in schneller Folge immer wieder etwas Witziges und Originelles eingefallen ist. Im Schauspielteam sind Kabarettisten wie Maximilian Schafroth oder Luise Kinseher. Rainer Bock, den man aus „Karla" als einfühlsamen Richter kennt, spielt hier einen freundlichen und hilfsbereiten Hausmeister der Himmels-Bürokratie. Dazu gibt es Live-Musik der komödiantischen Italo-Band „Roy Biancho & Die Abbrunzati Boys".
Zweigstelle
(Deutschland 2025), Regie: Julius Grimm, mit Sarah Mahita, Nhung Hong, David Ali Rashed, 98 Minuten, FSK: ab 6
30.9.25
Karla
Mitten in einer Nacht des Jahres 1962 steht das stille, aber entschlossene Mädchen Karla Ebel (Elise Krieps) in einem Polizeirevier und verlangt, den Richter zu sprechen. Sie zeigt ihren eigenen Vater wegen Vergewaltigung an. Ihr Wissen über die Rechtssituation und sogar den Wortlaut der Paragrafen hat sie in der Bibliothek erworben. Karla fragt zudem, ob Artikel 2 des Grundgesetzes – „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" – auch für Kinder gilt. Glücklicherweise landet der Fall bei dem verständnisvollen Richter Lamy (Rainer Bock), der zwar gutwillig, aber überarbeitet ist. Seine Sekretärin Erika Steinberg (Imogen Kogge) muss ihm erst zureden, damit er sich um diesen bis dahin einmaligen Fall kümmert. Sie macht dem verschlossenen Einzelgänger klar, dass es für Karla um ihre Würde geht. Und sie zitiert die Dichterin Mascha Kaléko: „Man braucht nur eine Insel allein im weiten Meer. Man braucht nur einen Menschen, den aber sehr."
So machen sich die beiden Geschundenen auf den schwierigen gemeinsamen Weg, eine Anklageschrift zu erstellen. Eine Situation, die noch heute unvorstellbar fordernd ist, ganz zu schweigen von den Sechzigern im schwarz-konservativen Deutschland Adenauers. Die Anzeige wurde damals ohne Anwesenheit einer Frau oder psychologischer Betreuung aufgenommen. Nach dem ersten Gespräch mit Lamy kommt Karla in einem von Nonnen geleiteten Heim unter und freundet sich mit einem Mädchen an, das früher als Prostituierte gearbeitet hat. Die Erinnerungen kommen im Büro des Richters und im Film nur ganz zögerlich zurück. Karla übergibt sich, wenn sie an die Vergewaltigungen denkt. Daraufhin gibt Lamy ihr eine Stimmgabel, die sie in den Momenten einsetzen soll, in denen sie nicht sprechen kann. Gleichzeitig stellt das aufbegehrende, vergewaltigte Kind mit seinem Verlangen nach Gehör und Ehrlichkeit das Rechtssystem auf die Probe.
Filmisch bleibt dieses Langfilmdebüt der Deutsch-Griechin Christina Tournatzés ebenfalls meist zurückhaltend und verzichtet beispielsweise fast ganz auf Musik. Dafür wirken die seltenen, expressiveren Stilmittel umso stärker und bauen von Anfang an Spannung auf. Einmal legt der Vater Karla nahe, sich im See umzubringen, was die vielen Bilder unter Wasser nachträglich erklärt. Ansonsten besticht die dezente Kameraarbeit des ausgezeichneten Florian Emmerich mit gedeckten, dunklen Farben. Im Interview erzählte die Regisseurin, dass sie ihren Film „ganz aus Karlas Perspektive – und immer auf Augenhöhe mit ihr" gestaltet hat.
Dass „Karla" sein schwieriges Thema auf derart sensible Weise meistert, liegt auch am fesselnden Spiel der Debütantin Elise Krieps, sichtbar die Tochter von Wiebke Krieps („Der seidene Faden" 2017, „Bergman Island" 2021, „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste" 2023). Sie verkörpert Karla mit einer stillen Kraft, die besonders intensiv wirkt, wenn sie nichts sagt, nichts sagen kann. Rainer Bock beeindruckt als verständnisvoller Richter. Seine eindrucksvolle Figur zeigt, wie sich ein Mann ohne spezifische psychologische Ausbildung von Empathie leiten lassen kann. Imogen Kogge unterstützt als resolute Sekretärin mit tragischer KZ-Geschichte den Kampf um Gerechtigkeit.
Der letzte Teil ist dann als Epilog der spannenden emotionalen Abläufe ein Gerichtsfilm, in dem das Offensichtliche von allen Zeugen, von Täter, Mutter und Brüdern geleugnet und verschwiegen wird. „Karla" erinnert wegen des großen Schrittes für die Gerechtigkeit an „Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) über den ersten Auschwitz-Prozess unter Staatsanwalt Fritz Bauer. Auch bei „Karla" erinnert erst der Abspann an das unfassbare Ausmaß der Verbrechen. Bei Vergewaltigungen von Minderjährigen wird geschätzt, dass noch heute jedes fünfte Kind Opfer wird.
„Karla"
(Deutschland 2025), Regie: Christina Tournatzés, mit Elise Krieps, Rainer Bock, Imogen Kogge, 104 Minuten, FSK: ab 12
29.9.25
Nur für einen Tag
Cécile (Juliette Armanet) weiß wirklich nicht weiter: Nach ihrem großen Erfolg in einer nationalen Fernsehkochshow fehlt der Gourmetköchin für ihr bald zu eröffnendes Restaurant in Paris noch das durchschlagende Rezept, das „Signature Dish". Aus ihrem erdrückenden Dauerstress kann sie ihr Freund Sofiane (Tewfik Jallab) nur mit einer lebensfrohen Tanzeinlage zu „Alors on danse" von Stromae befreien. Dabei ist Cécile die geborene Köchin: Aufgewachsen in der provinziellen Fernfahrer-Gaststätte ihrer Eltern, heißt sogar ihr alter Hund Bocuse nach dem berühmten Sternekoch. Doch nun muss sie „nur für einen Tag" in das Nest ihrer Kindheit zurückkehren, weil ihr Vater Gérard (François Rollin) auch nach dem dritten Herzinfarkt die Küche nicht verlassen will. Zudem ist die junge Frau schwanger und hat ihrem Partner Sofiane nichts von der bevorstehenden Abtreibung erzählt. Da passt es perfekt, dass kurz nach ihrer Rückkehr und dem ersten Streit mit dem Vater Céciles Jugendliebe Raphaël (Bastien Bouillon) auftaucht und es noch deutlich spürbar zwischen beiden knistert. Aus dem geplanten Kurzbesuch wird eine wilde Reise in die Vergangenheit ihrer Teenagerzeit.
„Nur für einen Tag" ist selbstverständlich nicht der erste Film, der große Lebensentscheidungen mit einem Rückblick auf scheinbar freiere Zeiten verbindet. Das wunderschön leichte Filmmusical ist jedoch etwas Besonderes, weil es einem Geheimnis von Céciles Familie folgt. Vater Gérard, der seiner Tochter kritisch jeden frechen Spruch aus der Fernsehshow gegen die einfache Küche vorhält, versöhnt sich schließlich mit dem einfachsten Rezept fürs Glück seit früher Kindheit: Er taucht einen Zuckerwürfel in Kaffee, bevor er knackend im Mund verschwindet. So könnte man auch das Rezept für diesen wunderbaren Film beschreiben: schwierige Lebenssituationen mit bitter-süßen Chansons vermischen und einen spontanen Schuss Glück verspüren. Bewundernswert ist die scheinbare Leichtigkeit, mit welcher der Film gleich mehrere schwere Entscheidungen jongliert.
Mit Klassikern und modernen Hits setzt „Nur für einen Tag" die lange und schöne Tradition französischer Filmmusicals fort. Allerdings ist er alltäglicher als die Werke von Altmeister Jacques Demy („Die Regenschirme von Cherbourg", 1964) oder die rührenden Playbacks von Alain Resnais in „Das Leben ist ein Chanson" (1997). Und eben nicht im Stil von „La La Land" (2016) mit perfekter Choreografie, sondern scheinbar mitten aus dem Leben wird hier gesungen. (Zuletzt gab es auch noch den Drogen- und Trans-Thriller „Emilia Pérez" von Jacques Audiard.)
Wie es sich für das Musical gehört, brechen Musik und Bewegung – beginnend mit dem Tanz zu Stromae – immer wieder unvermittelt in den Film ein. Dabei hüpft und tanzt das Herz mit. Neben dem wunderbaren Schauspiel auf hohem Niveau von allen Hauptfiguren machen auch die selbst gesungenen Musikeinlagen den Film unbedingt sehenswert. Herrlich, wenn Juliette Armanet als Cécile mit tiefer Stimme den Sprechgesang von Alain Delon bei „Parole, Parole, Parole" gibt und ihre Filmmutter, die legendäre Dominique Blanc, den Part von Dalida singt. Im kongenialen Zusammenspiel von Handlung und Songs macht das letzte Lied, der Titelsong „Partir un jour", beim gänzlich offenen Ende deutlich, dass Cécile nun mit sich im Reinen ist – was auch immer passieren wird.
„Nur für einen Tag" war dieses Jahr Eröffnungsfilm des Filmfestivals von Cannes und der erste Debütfilm überhaupt, dem diese Ehre zuteilwurde. Allerdings ist Regisseurin und Drehbuchautorin Amélie Bonnin keineswegs Debütantin. Sie inszenierte diese Geschichte bereits in einem Kurzfilm, der 2023 bei den Césars als „Bester Kurzfilm" ausgezeichnet wurde. Zudem war sie als Illustratorin und Musikvideo-Regisseurin tätig. Die mit Natürlichkeit gewinnende Hauptdarstellerin, die französische Musikerin Juliette Armanet, ist erfolgreich im französischen Pop unterwegs. Sie hatte einen spektakulären Auftritt bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris, als sie auf einem Boot die Seine hinabfuhr, vor einem brennenden Klavier stand und John Lennons „Imagine" sang.
„Nur für einen Tag"
(Frankreich 2025), Regie: Amélie Bonnin, mit Juliette Armanet, Bastien Bouillon, François Rollin, 96 Minuten, FSK: ab 12
20.9.25
Maria Reiche
Zu den fantastischen Nazca-Linien, den sogenannten Scharrbildern, gehören unweigerlich eindrucksvoll weite Landschaften. Wie bei „Lawrence von Arabien" schimmert auch bei „Maria Reiche" eine Figur am flirrenden Horizont. Doch diesmal nähert sich kein stolzer Scheich, sondern eine Frau, die in der Wüste Staub fegt. Eine grandiose erste Szene!
Von dort geht es zurück in ein dunkles Klassenzimmer, in dem die Dresdnerin Maria Reiche (Devrim Lingnau) von ihren Schülern genervt ist. Im Gegensatz zu ihrer mondänen, US-amerikanischen Freundin Amy (Olivia Ross), die in Lima in der 30er Jahre ein Caféhaus betreibt, sind der stets schlicht gekleideten Aushilfslehrerin gesellschaftliche Abende ein Graus. Sie spricht gut Spanisch, Englisch und Französisch und nimmt das Angebot des Archäologen Paul D'Harcourt (Guillaume Gallienne), die Aufzeichnungen eines deutschen Kollegen zu übersetzen, spontan an. Vor Ort in der Wüste bei Nazca sieht Maria Reiche eine ewig lange Linie am Boden: Kieselsteine wurden zur Seite geschoben und gaben die weiße Gipsschicht frei. Die Frau, die Mathematik, Physik und Geografie studiert hat, ist direkt fasziniert. Nichts hält sie von nun an davon ab, allein in der Wüste zu forschen. Sie campt in der Nähe von Einheimischen und läuft Tag für Tag den langen Linien nach. Fotos von kleinen Hügeln und einer wackeligen Leiter vermitteln nur einen ungefähren Eindruck von den riesigen, in den Staub gezeichneten Figuren von Kolibris, Affen oder Spinnen. Es wird schnell klar, dass diese Phänomene durch einen Menschen eigentlich nicht fassbar sind. Unermüdlich versucht Maria Reiche, das Jahrtausende alte Menschheitsrätsel zu entschlüsseln. Die Besessene sagt Paul, dass die Figuren restauriert werden müssen, stößt aber auf Desinteresse. Also kauft sie drei Besen und fegt eigenhändig eine erste Spirale und dann weitere Figuren frei. Als ein lokaler Großfarmer die Linien zerstört, um Baumwolle anzubauen, kämpft sie, bis das peruanische Parlament für den Erhalt seines kulturellen Erbes stimmt.
Die zwischen 200 v. Chr. und 600 n. Chr. von der indigenen Nazca-Kultur erschaffenen Geoglyphen wurden 1994 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. In der Region im Südosten von Peru existieren mehr als 1500 dieser Bilder. Ihre Wiederentdeckung ist auch die Geschichte einer beinahe verlorenen, durch den Kolonialismus zerstörten einheimischen Kultur. Die Biografie ihrer Wiederentdeckerin, der deutsch-peruanischen Altamerikanistin Reiche, ist eher unspektakulär. Es gibt keine Fieberträume mit Peyote und animierten Nazca-Wesen. Doch der Film ist darstellerisch und fotografisch sehr gut in Szene gesetzt. In der Hauptrolle brilliert European Shooting Star Devrim Lingnau, bekannt aus der Netflix-Serie „Die Kaiserin". Sie spielt eine getriebene Einzelgängerin, die in der Wüste ihre Bestimmung findet. Aber auch in den Wahnsinn abzudriften droht. Da passt es, dass „Lady Nazca", so der englische Titel, mehr als 40 Jahre in einer Hütte am Rande der Wüste bei „ihren" Linien verbrachte und sich letztlich auch neben ihnen begraben ließ.
Tatsächlich waren einige Dinge anders als die Film-Biografie „Maria Reiche" zusammenfasst. So ließ sich die Forscherin – bereits im Auftrag eines amerikanischen Historikers – an die Kufen eines Hubschraubers binden, um erste Luftaufnahmen der Figuren zu machen. Weitergehende Beziehungen zu Frauen werden nur angedeutet. Doch auch wenn nicht alle Details stimmen, spricht etwas anderes für eine besondere Authentizität: Regisseur und Autor Damien Dorsaz hat Maria Reiche zwei Jahre vor ihrem Tod im Jahr 1998 noch persönlich getroffen und bereits 2006 den Dokumentarfilm „Maria Reiche, la Dame de Nasca" gedreht.
(Deutschland 2025), Regie: Damien Dorsaz, mit Devrim Lingnau, Olivia Ross, Guillaume Gallienne, 99 Min., FSK: ab 6
11.9.25
Demon Slayer: Kimetsu no Yaiba Infinity Castle
Die Geschichte dreht sich um den gutherzigen jungen Köhler Tanjirō Kamado, dessen gesamte Familie im Japan der Taisho-Ära von einem blutrünstigen Dämon getötet wird. Nur seine kleine Schwester Nezuko überlebt, verwandelt in eines dieser vampirartigen Monster. Über mehrere Erzählungen schließt sich Tanjiro den Dämonenjägern an, um die Ungeheuer zu bekämpfen. Jetzt geht es gegen den Oberdämon Muzan dort weiter, wo die vierte Staffel endete. Im freien Fall durch das Hauptquartier des Bösen, das Infinity Castle, eine architektonisch faszinierende Mischung aus Escher und Piranesi.
Die animierte Erzählung folgt einer simplen Struktur aus blutigen Schwertkämpfen und ist technisch exzellent umgesetzt. Es ist ein Abfeiern all dieser Superhelden und -Schurken in ausufernden Duellen der traumatisierten Überlebenden gegen die Oberdämonen. Die Überlänge von 155 Minuten ist für alle anderen als die Hardcore-Fans schwer erträglich, da sich der Film an die Abfolge der TV-Serien hält. Der Film unterbricht die Action immer wieder mit Backstorys um die persönlichen Entscheidungen der Figuren zwischen Gut und Böse und ist daher erzählerisch überdehnt. Ein völlig freilaufendes Zwischenspiel, das keine ernsthaften Mühen unternimmt, um Außenstehende in das geschlossene Universum hereinzulassen. Er ist sogar schlimmer als die berüchtigten zweiten Teile von Filmfinalen wie „Harry Potter" oder „Herr der Ringe".
Dabei ist die Kombination aus Handzeichnungen und Computeranimation trotz der typischen, auf expressive Mimik reduzierten Gesichtszüge faszinierend. Vor allem die aufwendigen Welten um die Figuren herum sind ein großes Sehvergnügen.
„Demon Slayer: Kimetsu no Yaiba Infinity Castle" (Japan 2025) Regie: Haruo Sotozaki, 155 Min., FSK: ab 16
9.9.25
Superkräfte mit Köpfchen
Oma rülpst, fährt Motorrad mit Beiwagen, lügt und trickst. Vor allem hat sie sich geschworen, alles zu tun, wovor sie Angst hat. Den biederen Schwiegersohn, der bei einer Versicherung Risikoanalysen betreibt, warnt sie: „Das Risiko für ein unglückliches Leben liegt bei 100 Prozent!" Auch für Lev hat sie eine Lebensweisheit parat: „Wenn du dich weniger schämen willst, musst du einfach etwas sehr Unangenehmes machen. Dann merkst du, dass jeder sowieso mit sich selbst beschäftigt ist."
Der Familienfilm „Superkräfte mit Köpfchen" erfreut nicht nur mit comic-artigem Spaß. Im berührenden Finale entdeckt Lev, dass seine Superkraft darin liegt, zu sagen, was er wirklich fühlt. Und die ganze Comic-Messe folgt ihm darin. Die Buchvorlage stammt vom Multitalent Wouter de Jong, der bei der Comic Con kurz in der Rolle des männlichen Supermeis zu sehen ist. Er nahm bereits eine Platte mit niederländischen ABBA-Songs für Kinder auf. Und schrieb eben dieses „Mind Gym", die „mentale Sportschule für Kinder", die für ihre Übungen zum Umgang mit Gefühlen wie Angst, Traurigkeit und Ärger sehr gelobt wurde. Ein Beispiel liest man im Vorspann: „Wenn du während des Films nicht aufs Handy kuckst, bekommst du heute Abend dein Lieblingsessen. Wenn deine Eltern aufs Handy schauen, müssen sie dir zweimal das Lieblingsessen machen!" Auf humorvolle, liebenswerte und leicht zugängliche Weise wird emotionale Widerstandskraft eingeübt und die begleitenden Eltern lernen loszulassen.
„Superkräfte mit Köpfchen" (Superkrachten voor je hoofd, Niederlande 2024), Regie: Dylan Haegens, mit Finn Vogels, Elise Schaap, Joke Tjalsma, 92 Min., FSK: ab 6.
Willkommen um zu bleiben
Der Originaltitel „Mr. K" verweist ganz eindeutig auf Kafkas Figur Herr K. Kafkaesk ist vieles in diesem Film. Je mehr sich das Hotel mit tropfender Textiltapete, eigenwilligen Rohren und Lichtern zu einem lebendigen Organismus wandelt, desto mystischer wird es. Dass die Wände immer näher rücken und das Zimmer von Flüchtlingen belebt wird, könnte eine gesellschaftspolitische Aussage sein. Doch die von Tykwers Kameramann Frank Griebe wunderbar in Szene gesetzte Absurdität verliert sich im aussichtslosen Chaos. Das liegt auch daran, dass unter all den kuriosen Figuren kein Charakter mehr ist, der Crispin Glovers Magier als Gegenspieler gegenübertreten könnte. Die Hauptrolle steht Glover jedoch sehr gut, der als treudoofer General in „Alice im Wunderland" und als allmächtiger Gegenspieler in „American Gods" zu sehen war. Großartige Gesichter des europäischen Kinos wie Sunnyi Melles („Triangle of Sadness"), Fionnula Flanagan („The Others") und Sam Louwyck („Bullhead") erinnern an ähnlich verrückte Werke der 80er Jahre wie „Delicatessen" von Marc Caro und Jean-Pierre Jeunet oder „Der Illusionist" von Freek de Jonge.
„Willkommen um zu bleiben"
(Belgien, Finnland, Niederlande, Norwegen 2024) Regie: Tallulah Hazekamp Schwab, mit Crispin Glover, Sunnyi Melles, Fionnula Flanagan, 96 Min., FSK: ab 12.
31.8.25
Das deutsche Volk
„Das deutsche Volk", benannt in Anlehnung an die Inschrift im Grimm-Denkmal, lässt anfangs die Opfer aufleben und macht aus Statistiken wieder Menschen. Zudem liefert die Dokumentation ein eindrucksvolles Beispiel zivilgesellschaftlichen Handelns, wenn einige der Angehörigen unter dem Hashtag „SayTheirNames" aktiv werden und eigene kriminologische Untersuchungen anstellen. Die Schwarzweiß-Ästhetik vermittelt Ernsthaftigkeit. „Das deutsche Volk" ist aber vor allem deshalb gut, weil dem Regisseur mit enormer Offenheit begegnet wird. Einerseits ist es positiv, dass der Fokus bei den Opfern bleibt. Andererseits scheinen in dieser Konstruktion alle anderen Schuld zu haben, nur der Täter nicht. Generell wären trotz der überwältigenden Ansammlung unglaublicher staatlicher Vorgehensweisen die Meinungen der Gegenseite interessant gewesen. Im Verlauf des über zweistündigen Films verwässert er seinen politischen Ansatz durch die sehr detaillierte Beobachtung der Trauer- und Verarbeitungsprozesse.
(Deutschland 2025) Regie: Marcin Wierzchowski, 138 Min., FSK: ab 6.
14.8.25
Willkommen um zu bleiben
Der Originaltitel „Mr. K" verweist ganz eindeutig auf Kafkas Figur Herr K. Kafkaesk ist vieles in diesem Film. Je mehr sich das Hotel mit tropfender Textiltapete, eigenwilligen Rohren und Lichtern zu einem lebendigen Organismus wandelt, desto mystischer wird es. Dass die Wände immer näher rücken und das Zimmer von Flüchtlingen belebt wird, könnte eine gesellschaftspolitische Aussage sein. Doch die von Tykwers Kameramann Frank Griebe wunderbar in Szene gesetzte Absurdität verliert sich im aussichtslosen Chaos. Das liegt auch daran, dass unter all den kuriosen Figuren kein Charakter mehr ist, der Crispin Glovers Magier als Gegenspieler gegenübertreten könnte. Die Hauptrolle steht Glover jedoch sehr gut, der als treudoofer General in „Alice im Wunderland" und als allmächtiger Gegenspieler in „American Gods" zu sehen war. Großartige Gesichter des europäischen Kinos wie Sunnyi Melles („Triangle of Sadness"), Fionnula Flanagan („The Others") und Sam Louwyck („Bullhead") erinnern an ähnlich verrückte Werke der 80er Jahre wie „Delicatessen" von Marc Caro und Jean-Pierre Jeunet oder „Der Illusionist" von Freek de Jonge.
„Willkommen um zu bleiben"
(Belgien, Finnland, Niederlande, Norwegen 2024) Regie: Tallulah Hazekamp Schwab, mit Crispin Glover, Sunnyi Melles, Fionnula Flanagan, 96 Min., FSK: ab 12.
25.7.25
Oxana - Mein Leben für Freiheit
Danach wird der Kampf gegen patriarchale Strukturen immer wieder auf den Spruch „Unsere Brüste, unsere Waffen" verkürzt. Allerdings nehmen die Frauen auch Prügel und Folter im Kampf gegen Wahlmanipulationen in Russland und Belarus in Kauf. Mit gebrochenen Armen erhält Oxana Asyl in Frankreich. Dies könnte symbolisch für die Blockade ihrer Kreativität und den Verlust an Eingriffsmöglichkeiten sein. Mit der internationalen Ausbreitung von Femen ergibt sich ein Streit um die Führung. Die sensible Kreative – „Femen in Paris ist eine Mode" – bleibt im fremden Land auf sich allein gestellt.
Trotz der ansprechenden Darstellung von Albina Korzh als Oxana, der man den kecken, rebellischen Blick, die Verletzlichkeit ebenso wie die Melancholie am Ende glaubt, kann die Biografie nicht überzeugen. Der Film ist fortwährend und umständlich bemüht, die Persönlichkeit der politischen Ikone zu definieren. Ein verfilmtes Manifest, das verpasst, eine starke eigenständige und dynamische Geschichte zu erzählen. Das interessante und eine Weile lang erfolgreiche Konzept des Widerstands mit nackten Brüsten wird pflichtgemäß durchdiskutiert. Oxanas Kunst, bei der sie Ikonen in feministische Statements verwandelt, indem sie Maria mit einer Burka oder Jesus in sexuellen Kontexten malt, ist nur am Rande zu sehen.
„Oxana - Mein Leben für Freiheit"
(Frankreich, Ukraine, Ungarn 2024) Regie: Charlène Favier, mit lbina Korzh, Maryna Koshkina, Lada Korovai, 104 Min., FSK: ab 16.
18.7.25
Vermiglio

9.7.25
Chaos und Stille
Dieses außergewöhnliche Ereignis wird vom jungen Komponisten Jean (Anton von Lucke) beobachtet und berichtet. Seine Frau Helena (Maria Spanring) ist Pianistin und gerade Mutter geworden. Jean arbeitet an neuer Musik und befragt dafür gehörlose Schüler zum Thema Stille – eine poetische Verschränkung der Handlungsstränge. Zwischen utopischer Verträumtheit und Gesellschaftskritik wandelt sich Klaras leere Wohnung zur freien Musikschule. Die Geburt einer Utopie, die schnell von der Ökonomie eingeholt wird.
Anatol Schusters reizvoll verspielter Film mit märchenhaftem Ende erforscht Stille konkret und als Metapher für Aufmerksamkeit und Menschlichkeit. Das ruhige Werk des Vierzigers ist durchflochten von Gedanken zur Situation der Musik und der Kultur in der heutigen Gesellschaft. Sabine Timoteo („Der freie Wille") verkörpert diese „aus der Welt gefallene" Figur mit ihrer typischen Präsenz, die gerade durch Zurückhaltung besticht. Ihr verschmitztes Lächeln, als sie spontan mit ihrem Chef schläft und danach kündigt, deutet bereits die folgende radikale Transformation an. So zeigt sich der humorvolle und poetische „Chaos und Stille" selbst als das Neue, das die Figuren im Film fordern.
„Chaos und Stille"
(Deutschland 2024) Regie: Anatol Schuster mit Sabine Timoteo, Anton von Lucke, Maria Spanring, 83 Min. FSK: ab 12
Black Tea
Der schöne Sprung mit Aya von den Straßen Abidschans, der Stadt an der Elfenbeinküste, nach Guangzhou zu Nina Simones Zeilen „It's a new day, it's a new dawn" („Ein neuer Tag, ein neuer Morgen" in einer Coverversion von „Feeling Good" durch Fatoumata Diawara in der westafrikanischen Sprache Bambara) lässt die Hoffnung dieser und anderer Frauen spüren. Migration und Integration sind hier keine Probleme, sondern neue Chancen und eine Öffnung zur Welt. Die romantische Begegnung ereignet sich vor dem Hintergrund eines großen kulturellen Austauschs entlang der „Neuen Seidenstraße", den wir in unserer europäischen Fixierung auf imaginäre Einwanderungsprobleme überhaupt nicht wahrnehmen. Der mauretanische Regisseur Abderrahmane Sissako, der mit seinem großartigen, aber aufgrund islamistischer Gewalt schwer erträglichen Film „Timbuktu" (2014) auf internationalen Festivals gefeiert wurde, erzählt nun eine zarte, stille und kunstvoll inszenierte Liebesgeschichte.
„Black Tea"
(Frankreich, Mauretanien, Luxemburg, Taiwan, Elfenbeinküste 2024) Regie: Abderrahmane Sissako, mit Nina Mélo, Chang Han, Wu Ke-Xi, 111 Min., FSK: ab 6.
Agent of Happiness
148 Fragen in neun Kategorien ergründen die Anzahl der Kühe oder Esel, das Vertrauen in die Nachbarn, aber auch Schlaf, Konzentration und Wut. Zwar wird der daraus resultierende Glücksindex von 1 bis 10 bei jeder Person eingeblendet, doch schnell wird klar, dass es um mehr geht. „Agent of Happiness" konzentriert sich auf die befragten Menschen. Da ist Dechen Selden, Transvestit einer Varieté-Show, der sich auf der Glücksskala sehr depressiv fühlt und erstaunlich offenherzige Gespräche mit seiner Mutter führt. Oder die junge Frau, die ihre kleinere Schwester aufzieht und unter ihrer alkoholkranken Mutter leidet. In seiner Einfachheit rührend der Witwer, der in seiner Einsamkeit über hundert hohe, weiße Gebetsfahnen aufstellte und im Schlussbild glücklich mit seinem neu geborenen Enkel zu sehen ist. Komisch wirkt der alte Architekt (Glückslevel: 10), der mit drei Frauen zusammenlebt. Diese sagen zunächst nichts, machen sich aber später untereinander aufschlussreich über ihn lustig.
Titelheld ist jedoch der romantische Vierziger Amber, der sich zwischen den Befragungen als „Agent des Glücks" sehr pragmatisch mit Partnersuche beschäftigt. Er gehört zu den nicht registrierten Einwanderern aus dem von politischen Unruhen und Naturkatastrophen erschütterten Nepal, bittet seit Jahrzehnten um Staatsangehörigkeit. Er gibt ein TikTok-Tänzchen für die Frau, die er datet, aber die ohne ihn nach Australien fliegt. Die Gespräche der beiden „Agenten", der kleine Amber und sein langer Kollege, kippen oft ins Komische, wenn sie in ihrem orangefarbenen Kleinwagen durch die eindrucksvolle Landschaft reisen. Doch „Agent of Happiness" beschert vor allem wunderschöne Porträts in Bild und Erzählung – von interessanten Menschen und dem Land Bhutan an sich. So beginnt man unweigerlich, über die Bedeutung von Glück nachzudenken, ohne dass der thematisch wie handwerklich gelungene Film selbst Antworten liefert.
„Agent of Happiness"
(Bhutan, Ungarn 2024) Regie: Arun Bhattarai, Dorottya Zurbó, mit Amber Gurung, Yangka, Dechen Selden, 97 Min., FSK: ab 6.
25.5.25
Die Vorkosterinnen
Kurz nachdem die junge Rosa Sauer (Elisa Schlott) im November 1943 aus dem zerbombten Berlin bei ihren Schwiegereltern in Ostpreußen angekommen ist, wird sie zusammen mit anderen hungernden Frauen ahnungslos von der SS verschleppt. In einem hochgesicherten Komplex können sie sich an einem gut gedeckten Tisch satt essen. Doch die Freude schlägt schnell in Entsetzen um, als sie erfahren, dass sie Vorkosterinnen für Hitler in seinem Versteck „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ sind. Zunächst wird Rosa von ihren Leidensgenossinnen als feine Berlinerin verspottet. Doch als auch ihr Mann an der Ostfront vermisst wird, entstehen Freundschaften und Geheimnisse werden geteilt. Rosa selbst hat eine Affäre mit dem gefürchteten SS-Obersturmführer Albert Ziegler (Max Riemelt).
Das Historiendrama „Die Vorkosterinnen“ wurde vom italienischen Regisseur Silvio Soldini („Brot und Tulpen“) mit deutschsprachiger Besetzung gedreht. Es basiert auf dem italienischen Roman „Le Assaggiatrici“ von Rosella Postorino (bisher nicht auf Deutsch erschienen). Die Autorin ließ sich von der Biografie der Margot Woelk (1917 - 2014) inspirieren, die erst im Alter von 95 Jahren enthüllte, dass sie zur Gruppe der Vorkosterinnen gehörte, die ab 1942 Hitlers Essen vorkosteten.
Die vielen Themen - von Terrorherrschaft über Abtreibung und Verführung durch grausame Machtmenschen bis zur Judenverfolgung - bleiben in der interessanten Geschichte trotz guten Spiels vor allem von Elisa Schlott („Das Boot“) oberflächlich. Zudem raubt ein unglücklicher Schnitt mit Schwarzblenden der Dramaturgie Intensität. Ein generelles Unbehagen an Stoffen, die sich Terrorherrschaften über scheinbar unschuldige Nebenfiguren nähern, beschwört auch diese subjektive Erzählung herauf. Eine ähnliche Perspektive wie die von Hitlers Sekretärin in „Der Untergang“ bleibt weit hinter einem heutigen Verständnis wie in „The Zone of Interest“ (über das Privatleben des Auschwitz-Kommandanten Höß) zurück.
„Die Vorkosterinnen“
(Italien, Belgien, Schweiz 2025) Regie: Silvio Soldini, mit Elisa Schlott, Max Riemelt, Alma Hasun, 123 Min., FSK: ab 12.
10.5.25
Caught by the Tides
Bereits Jia Zhang-Kes Debütfilm „Pickpocket" wurde mehrfach ausgezeichnet, 2006 gewann „Still Life" den Goldenen Löwen in Venedig und 2013 wurde „A Touch of Sin" in Cannes für das beste Drehbuch prämiert. „Caught by the Tides" zeigt nun Zhao Tao als Qiao mit „Resten" aus den letzten beiden Filmen als Sängerin in ihrem Heimatdorf, bei der Begegnung mit Bin (Zhubin Li) und auf der Suche nach ihm rund um die Arbeiten am Drei-Schluchten-Damm, dem größten Stausee der Welt. Im dritten, neu gedrehten und deutlich von Corona beeinflussten Teil kehrt Bin zurück.
Diese fragmentarische Handlung bleibt schon deshalb nebensächlich, weil Qiao nie ein Wort spricht. Auffälliger sind die Musiknummern aus chinesischem Rock, traditionellen Liedern und Popsongs verschiedener Epochen, darunter eine Coverversion von „Dschingis Khan". Der Drei-Schluchten-Damm oder Feiern rund um die Vergabe der Olympischen Spiele an Beijing stellen historische Eckpunkte dieser zwei Jahrzehnte dar. Die Entwicklung wird in poetischen Momenten verdichtet, wie die lange Zeitlupenfahrt von der Rikscha zum modernen Auto.
„Caught by the Tides" ist eines jener filmischen Langzeitprojekte, die trotz fiktionalen Kerns immer stark dokumentarisch sind. Vergleichbar mit Richard Linklaters „Before..."-Trilogie oder seinem „Boyhood", der seinen Protagonisten 12 Jahre lang begleitet. Faszinierend, weil man der Zeit bei der Arbeit in den Gesichtern zusieht. Stückwerk ist Jia Zhang-kes Remix aus altem Spielfilmmaterial und dokumentarischen Szenen für Fans seiner Filme reizvoll und in der realen Alterung der Darsteller sogar anrührend, interessant als Dokument eines rasanten Wandels in China, aber nur bruchstückhaft als Geschichte einer resilienten Frau im Strom der Zeit.
„Caught by the Tides" (China 2024) Regie: Jia Zhang-Ke, mit Zhao Tao, Zhubin Li, Pan Jianlin, 111 Min., FSK: ab 12.
7.5.25
Kein Tier. So wild.
Fünf Jahre nach seiner furiosen Adaption von „Berlin Alexanderplatz" begeistert der Berliner Regisseur Burhan Qurbani erneut. Jetzt mit seiner Version von William Shakespeares Königsdrama „Richard III" um kriminelle Clans in der Hauptstadt und die eiskalte, gnadenlose Rashida York als Hauptfigur. Die Inszenierung ist ein filmisches Erdbeben, das grandiose Spiel von Kenda Hmeidan als Rashida eine atemberaubende Entdeckung.
„Und so schaff' ich die Hölle, die eure Welt mir ohnehin schon ist"
Mit dem Ruf „Freiheit" beginnt vor Gericht die Handlung um die Anwältin Rashida York (Kenda Hmeidan). Die jüngste Tochter der Familie verteidigt ihren Bruder Imad York (Mehdi Nebbou) gegen den Lancaster-Clan. Dann beobachtet sie lächelnd von einem Balkon aus, wie ihre in schwarze Gewänder gehüllte Frauenbande die beiden Anführer der Lancasters ersticht. Das ist der Sieg nach jahrelangem Kampf, aber diese Frau will mehr, gegen alle Regeln. „Betrogen durch Geburt um jeden Vorteil, verformt, unfertig", bespuckt sie sich im Spiegel, während sie ihre Brüste befühlt. Nicht die Missgestalt von Richards Körper ist hier die Behinderung als Grundlage von Wut und Hass, es ist der weibliche Körper an sich. Eine Frau zu sein, sei in dieser Gesellschaft wie eine Behinderung. Im Aufbegehren dagegen beginnt Rashida ihre Mordserie: Erst stirbt der naive junge Bruder Ghazi (Camill Jammal), dann der Clanchef Imad. Im Kampf mit dessen Frau Elisabet Müller-York (Verena Altenberger) müssen die beiden Neffen dran glauben. Rashida, die als Kind mit ansehen musste, wie ihr Dorf von Kampffliegern bombardiert wurde, lässt der Kindermord kalt. Sie wird zur oft zitierten „Sonne Yorks", nur eine der vielen reizvollen Reibungen mit Shakespeares Vorlage.
Es sind immer noch die Familien York und Lancaster, wie schon im 16. Jahrhundert beim Königsdrama „Richard III", das auf dem historischen „Rosenkrieg" (1455 bis 1485) in England basiert. Allerdings wird der Schauplatz durch Off-Kommentare aus dem Fernsehen nach Berlin verlegt: Auf der Baustelle einer Moschee verhandelt der Clan Rashidas ungewollte Heirat mit Ali Lancaster. Später wird der Hintergrund immer abstrakter, zu einer Seelenlandschaft: vom Feldlager in einem riesigen Zelt auf Sandboden bis zu nebligen Traumlandschaften wie beim Hexensabbat in Roman Polanskis Film „Macbeth" (1971). Doch das sagenhafte Schauspiel zieht einen immer wieder in seinen Bann. Der sensationelle Film kommt ohne ausufernde Schießereien, Verfolgungsjagden und dergleichen aus, allein die Kraft der Worte und des Ausdrucks machen „Kein Tier. So wild" allein hochspannend. Das Drehbuch nach Shakespeares Vorlage haben Enis Maci und Qubani eng am Originaltext und dennoch zeitgemäß deftig geschrieben. Neben Kenda Hmeidan, die in der Hauptrolle fast schon tyrannisch dominiert, begeistert Weltstar Hiam Abbass („Die syrische Braut") als Rashidas treuergebene Ziehmutter und mit Rasierklinge die mörderischste Gefährtin.
Dazu starke Bilder, wie ein See aus Blut um Rashida, die einem den Atem rauben. „Kein Tier. So wild." ist eine Mischung aus den realistischen Gesellschaftsdramen eines Rainer Werner Fassbinder und den Historienepen eines Pier Paolo Pasolini. Das Können von Regisseur und Co-Autor Burhan Qurbani ist tatsächlich so groß, dass man ihn neben solche Namen stellen kann. Der Ausruf „Wir sind hier keine Bittsteller mehr" bringt die durchgehend klare Aussage zum Stand der Integration in Deutschland auf den Punkt. Wobei Burhan Qurbani dies über den gesamten Film hinweg differenziert darstellt. Sonst könnte man sich ohne „Kein Tier. So wild." gesehen zu haben, fälschlicherweise darüber aufregen, dass nur arabische Clanmitglieder zu sehen sind. Mit dem herrlichen Witz, dass auch die „Kartoffeln" namens Müller zum Clan gehören: Elisabet Müller-York.
Die gebrochene Figur des Richard hat schon immer fasziniert, auch das Kino: 1955 spielte ihn die britische Theater- und Filmlegende Laurence Olivier in seiner eigenen Inszenierung. Unvergessen ist auch Ian McKellens Interpretation von 1995 unter der Regie von Richard Loncraine. Dieser verlegte das Drama in ein England der 1930er Jahre voller Neonazis. 1996 drehte Al Pacino den Dokumentar- und Erklärfilm „Looking for Richard" über Shakespeares Hit. Und natürlich ist er auch auf deutschen Bühnen ein Dauerbrenner, man denke nur an Thomas Ostermeiers Version an der Berliner Schaubühne mit Lars Eidinger in der Titelrolle.
Nun also Burhan Qurbani, der bereits 2013 mit dem packenden und aufrüttelnden Spielfilm Wir sind jung. Wir sind stark." begeisterte. In einer grandiosen Inszenierung rekonstruierte er die dramatischen Tage von Rostock-Lichtenhagen, als 1992 ein rechter Mob ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter belagerte. Ein historischer Sündenfall der neuen, wiedervereinigten Bundesrepublik. In „Berlin Alexanderplatz" zeigte Qurbani 2020 den „Untergang eines Mannes, der gut sein wollte", also die Geschichte von Döblins Franz Biberkopf, der jetzt Francis B. heißt und Bootsflüchtling aus Afrika ist. Der Regisseur machte aus Döblins innovativem Roman der 20er Jahre (1929) ein zeitgemäßes, kraftvolles Drama mit eigener Bildsprache. „Berlin Alexanderplatz" war beim Deutschen Filmpreis 2020 für 11 Lolas nominiert und gewann fünf davon. Burhan lebt und arbeitet in Berlin, dem Drehort von „Kein Tier. So wild."
„Kein Tier. So wild." (Deutschland/Frankreich/Polen 2024), Regie: Kenda Hmeidan, Verena Altenberger, Hiam Abbass 142 Min., FSK: ab 16.