9.7.25

Chaos und Stille

Die Frau, die auf dem Flachdach eines Hochhauses erwacht, ist Klara Hermann (Sabine Timoteo). Aus diffusen Gründen hat sie beschlossen, der Gesellschaft den Rücken zu kehren. Versonnen sitzt die ehemalige Vermieterin nun über den Dingen, scheint sich schweigend in einen Guru zu verwandeln und wird von den Bewohnern ihrer Wohnungen mit Essen versorgt. Dann macht das Foto auf der Titelseite der Zeitung Klara zum Objekt der Beobachtung und bald stehen selbsternannte Jünger unten auf der Straße. Wutbürger („Sie muss weg!") stellen sich den Esoterikern entgegen, welche die Finger als Zeichen des Schweigens vor dem Mund kreuzen. Klaras persönliche Verweigerung entwickelt sich zu einem gesellschaftlichen Phänomen, bis der erste Nachfolger vom Dach stürzt und man die selige Aussteigerin in die Psychiatrie einweist.

Dieses außergewöhnliche Ereignis wird vom jungen Komponisten Jean (Anton von Lucke) beobachtet und berichtet. Seine Frau Helena (Maria Spanring) ist Pianistin und gerade Mutter geworden. Jean arbeitet an neuer Musik und befragt dafür gehörlose Schüler zum Thema Stille – eine poetische Verschränkung der Handlungsstränge. Zwischen utopischer Verträumtheit und Gesellschaftskritik wandelt sich Klaras leere Wohnung zur freien Musikschule. Die Geburt einer Utopie, die schnell von der Ökonomie eingeholt wird.

Anatol Schusters reizvoll verspielter Film mit märchenhaftem Ende erforscht Stille konkret und als Metapher für Aufmerksamkeit und Menschlichkeit. Das ruhige Werk des Vierzigers ist durchflochten von Gedanken zur Situation der Musik und der Kultur in der heutigen Gesellschaft. Sabine Timoteo („Der freie Wille") verkörpert diese „aus der Welt gefallene" Figur mit ihrer typischen Präsenz, die gerade durch Zurückhaltung besticht. Ihr verschmitztes Lächeln, als sie spontan mit ihrem Chef schläft und danach kündigt, deutet bereits die folgende radikale Transformation an. So zeigt sich der humorvolle und poetische „Chaos und Stille" selbst als das Neue, das die Figuren im Film fordern.

„Chaos und Stille"
(Deutschland 2024) Regie: Anatol Schuster mit Sabine Timoteo, Anton von Lucke, Maria Spanring, 83 Min. FSK: ab 12