Diese teils fiktive Biografie der realen und lauten irischen Hip-Hop-Band Kneecap kommt filmisch wie musikalisch wild und frech daher. Als irisches „Trainspotting" machen die Gefechte um Erfolg und die irische Sprache enorm Spaß. Neben bunten Drogenkicks gibt es viel Hintergrund zu den Problemen Nordirlands Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg.
In einer Verhörzelle in West-Belfast begegnen sich im Jahr 2019 der Irischlehrer JJ Ó Dochartaigh und der junge Liam Óg, der sich nach einer exzessiven Partynacht weigert, Englisch zu sprechen. JJ soll übersetzen, wendet aber ein paar juristische Kniffe an, die den unangepassten Drogendealer vor größerem Ärger bewahren. Nachdem der unfreiwillige Übersetzer ein Notizbuch voller LSD-Sticker aus der Polizeistation herausschmuggelt, entdeckt er darin noch mehr Berauschendes: Die Texte von Liam Óg und seinem Kumpel Naoise über Drogen, Sex und den Widerstand gegen das britische Establishment lassen im frustrierten Irischlehrer seine Musiker-Vergangenheit aufleben. In der Garage mixt er ein paar Beats dazu und ist hellauf begeistert.
Die nächste Begegnung der beiden ist eine jener herrlich wilden und mitreißenden Film-Szenen, die „Kneecap" zu einem irischen „Trainspotting" machen: Liam provoziert eine der typischen orangefarbenen Marschkapellen der britischen Unionisten und flieht zu harten Techno-Beats von The Prodigys „Firestarter". Die Bilder zeigen abwechselnd eine slapstickartige Verfolgungsjagd und große Panoramen eines absurden Konflikts. JJ rettet ihn mit seinem Auto vor den Verfolgern und überredet die beiden etwas einfältigen Jungs in ihren hässlich poppigen Trainingsjacken, die irischen Verse einzusingen, bis sie völlig eingeräuchert und mit Koks bepudert aus dem Amateur-Studio in der Garage taumeln.
Der Rest ist teils erfundene Erfolgs- und Musikgeschichte, welche die drei Musiker von Kneecap zusammen mit dem Regisseur Rich Peppiatt geschrieben haben. Nach peinlichen Auftritten in leeren Pubs vor alten Männern verbreitet sich die Neuigkeit vom gälischen Rap wie ein Lauffeuer. Das überrascht sogar den bislang braven Lehrer JJ Ó Dochartaigh, der fortan anonym als DJ Próvaí mit einer Skimütze in irischen Nationalfarben auftritt.
Laut singend und wütend zeigen die drei Männer auf der Bühne auch schon mal ihre nackten Hintern mit den Worten „Brits out" drauf. Nicht nur deshalb geraten sie zwischen alle Fronten: Liams neue Freundin Georgia ist Unionistin und ihre Tante ausgerechnet die verhasste Polizeichefin. Eher ernst geht es in dem Drama um Naoises Vater Arló (Michael Fassbender) und die durch seinen Widerstandskampf zerrüttete Familie zu, in der sich die vermeintliche Witwe Dolores (Simon Kirby) nicht mehr aus dem Haus traut. Eheprobleme gibt es auch beim Lehrer, dessen aktivistische Frau den heimlichen Erfolg ihres Mannes mit der Band nicht als Unterstützung für die Sache der irischen Sprache sieht. Die Frage, ob eine lebendige Sprache auch deftig fluchen darf, entzweit unterschiedliche Befürworter des Irischen im Moment als Sinn Féin, der politische Arm der IRA, den „Irish Language Act" vorschlägt: Irisch soll offiziell den gleichen Rang bekommen wie Englisch. Damit es mit nur noch 80.000 SprecherInnen nicht bald zur toten Sprache wird. In diesem Film ist Irisch auf jeden Fall quicklebendig und präsent: In der Originalfassung sind die irischen Passagen untertitelt.
Wie die Band ist auch der Film inzwischen ein Riesenerfolg: Peppiatts teilweise irischsprachiges Werk, wurde sechs Mal für den britischen Filmpreis BAFTA nominiert, darunter als bester britischer Film und bestes Drehbuch. Schon zur Weltpremiere beim letztjährigen Sundance Film Festival gewann „Kneecap" den Publikumspreis. Er wurde von Irland als Beitrag für die Oscarverleihung 2025 als Bester Internationaler Film eingereicht.
Wenn Liam und Naoise als junge Messdiener Marihuana statt Weihrauch in der Kirche verräuchern und damit die Zahl der Gottesdienstbesucher verdoppeln oder Liam auf der Flucht vor der Polizei vollgepumpt mit Drogen in einen Bus einsteigt und alle Passagiere das Muster eines dieser unfassbar bunten Sitzbezüge tragen, dann ist „Kneecap" herrlich wild und verrückt, macht mit viel Mittelfinger und Fluchen Spaß. Halt „Trainspotting" nur auf irisch statt auf schottisch.
Gleichzeitig ist die Band-Biografie eindeutig politisch: So verweist der Titel von Band und Film auf das „Kneecaping", das „Schießen ins Knie", als brutale „Bestrafung" von Drogendealern durch die brutalen, selbsternannten „Freiheitskämpfer" während des Bürgerkriegs. Im Film gibt es auch eine lächerliche republikanische Splittergruppe gegen Drogen. Der wichtigste Satz im Film lautet: „Jedes irisch gesprochene Wort ist eine Kugel für die irische Freiheit."
Michael Fassbender hat eine großartige, überlebensgroße Rolle, die eine kleine Hommage an seinen Durchbruch in „Hunger" (2008) als inhaftierter irischer Widerstandskämpfer Bobby Sands ist. Der zweifache Oscar-Preisträger spielt Naoises Vater, der sich für eine Serie spektakulärer Bombenattentate von der Familie verabschiedete und für immer verschwand - zumindest offiziell. Tatsächlich lebt er seit zehn Jahren unerkannt als Yoga-Lehrer am Strand.
„Kneecap" (Irland/Großbritannien 2024), Regie: Payal Kapadia, mit Liam Óg, Naoise Ó Cairealláin, JJ Ó Dochartaigh, Michael Fassbender 105 Min., FSK: ab 16.