28.12.14

Die Sprache des Herzens: Das Leben der Marie Heurtin

Frankreich 2014 (Marie Heurtin) Regie: Jean-Pierre Améris mit Ariana Rivoire und Isabelle Carré 98 Min.

Es ist schwer vorstellbar, wie man blind, taub und stumm die Welt um sich herum erfahren soll. Regisseur Jean-Pierre Améris („Die anonymen Romantiker") versucht in seiner Geschichte der 1885 geborenen Marie Heurtin deshalb auch gar nicht, das Empfinden des Mädchens filmisch zu simulieren. Wir lernen Marie (Ariana Rivoire) kennen, als ihr Vater sie zu einem Schwestern-Kloster bringt, das verstörte Kind panisch durch den Garten rennt und sich irgendwie auf einen Baum flüchtet. Nur Marguerite (Isabelle Carré) hat unter den aufgeregten Ordensschwestern genügend Geduld, sich vorsichtig zu nähern. Die Verbindung ihrer Hände, das Abtasten des Gesichts sind schon pure Leinwand-Poesie. Und dann ist Marguerite dickköpfig und naiv genug, in biblisch unterlegten Disputen von der Mutter Oberin immer wieder zu fordern, Marie doch neben den anderen Waisenkindern aufzunehmen.

Marguerite, eine zarte, zierliche und kränkelnde Person, ist die eigentliche Heldin des Films. Unerschrocken macht sie sich auf einen tagelangen Fußweg, um die im Haus ihrer Familie gefangene Marie abzuholen. Schon die Rückkehr ist immer wieder unterbrochen von bewegenden sinnlichen Erlebnissen des in sich selbst eingeschlossenen Mädchens, vom Fühlen des Wasser oder einer Kuh. Bei der Ankunft ertastet und beschnüffelt sie auf belustigende Weise die alten und jungen Schwestern.

Ihre Erfahrungen im Lehren der Gebärdensprache will Marguerite mit Marie weiterführen, bekommt aber über eine unerträglich lange Zeit keinen Zugang. Das Kind reagiert auf die angebotenen Handzeichen für das von ihr innig geliebte Taschenmesser mit heftigster Ablehnung. Es ist ein hartes Ringen, beim Anzwingen der Klosteruniform sogar ein tatsächliches. Doch nachdem die nur über das Tasten kommunizierende Schülerin das erste Wort angenommen hat, beginnt ein begieriges und neugieriges Aufsaugen der Begriffe und damit der Welt. Die „Explosion der Sprache" macht selbst vor Adjektiven, Verben und abstrakten Worten nicht halt.

Marguerite erzählt in „Die Sprache des Herzens" mit einer Doppelung des Geschehens selbst aus ihren Tagebuchaufzeichnungen über Mühen, Verzweiflung, Hoffnung, Freude und einen tiefen Glauben. Das Wunder der Sprache beim Entstehen aufzeigen - nicht weniger gelingt Jean-Pierre Améris mit diesem ungemein liebevollen und in vieler Hinsicht wunderschönen Film. Wie er mit zarten Pastellfarben und ganz sparsamen Streicherklängen dieses Wunder erleben lässt, ist unbeschreiblich, sehr bewegend und zu Tränen rührend. Dabei nähert er sich der Geschichte selbst so vorsichtig wie Marguerite auf Marie zuging. Obwohl es um einen auf schreckliche Weise in sich gefangenen Menschen geht, betört die unverstellte Offenheit und Ehrlichkeit der Figuren. Gerade in der Reduktion von Stilmitteln und in der Konzentration auf nur eine Geschichte gelang der Film so wunderbar. Ariana Rivoire, bei deren eindrucksvollem Spiel man hinzufügen muss, dass sie in Wirklichkeit nicht blind ist, und die großartige Isabelle Carré verkörpern ihre Rollen perfekt.

„Die Sprache des Herzens: Das Leben der Marie Heurtin", diese Kaspar Hauser-Geschichte ohne Krimi wurde 2014 in Locarno mit dem „Variety Piazza Grande Award" ausgezeichnet. Es ist tatsächlich ein unbeschreibliches filmisches Wunder, das sich nur mit allen Sinnen erleben lässt.