Flying Scotsman
GB, BRD 2006 (The Flying Scotsman) Regie: Douglas Mackinnon Jonny Lee Miller, Laura Fraser, Billy Boyd, Brian Cox, Sean Brown (junger Graeme), 96 Min.
"Die Stunde" ist das Härteste! Eddy Merckx gewann fünf Mal die Tour de France, aber "die Stunde" wollte er nie mehr wieder fahren. Am 25. Oktober 1972 legte Eddy Merckx in Mexiko-Stadt in einer Stunde 49,431 km zurück. Der Stundenweltrekord ist eine legendäre Disziplin. Nur die größten Radsportler trauen sich, auf der Bahn innerhalb einer Stunde endlose Runden mit vollem Einsatz zu rasen, um so in 60 Minuten über 50 Kilometer zurückzulegen. Und viele scheiterten daran. Der Schotte Graeme Obree hielt 1993 und 1994 den Stundenweltrekord. Nicht seine Distanz beeindruckte dabei. Der Rekord von Merckx hielt zwölf Jahre; der sagenhafte, mit Hightech erzielte von Francesco Moser zuvor neun Jahre lang. Obree war mehr Individualist als all die anderen einsamen Strampler. Er war Denker, Querdenker. Seine Rekordräder revolutionierten den Sport derart, dass graue Funktionäre seit diesen Jahren den Fortschritt auf alle Ewigkeit untersagt haben. Es gelten nur noch die Zeiten auf "klassischen" Rädern.
"Flying Scotsman" erzählt von diesem besonderen Menschen, von seinen seltenen Höhenflügen und seinen gefährlichen Abgründen. Dass dies nicht der übliche Sportfilm aus der Disney-Serienfabrik ist, lässt schon ein düsterer Beginn spüren: Eine Gestalt in Sport-Klamotten stakst durch dunklen Wald. Das geschulterte Rad, irgendwie außerirdisch wirkend, bleibt am Baum zurück, als sich ein starker Ast anbietet, einen Strick zu halten, der am Ende eine düstere Schlinge zeigt...
Der frühe Verweis auf schwere Depressionen, die den Ausnahme-Sportler Graeme Obree ein Leben lang verfolgten, geht über in keineswegs heitere Kindheitserinnerungen. Graeme wurde von Mitschülern dauernd schikaniert, erst das von den Eltern geschenkte Rennrad ließ ihn dem Drangsal entfliehen. Seit dieser Zeit raste der Junge selbstverloren durchs Leben, als Fahrradbote verdient er sein Geld, der eigene Radladen ist bald wieder pleite. Eine gute Frau liest ihn auf und begleitet ihn, macht auch die schrulligen Basteleien mit Altmetall und Radteilen mit. Denn Graeme fährt nicht nur mit den Beinen, er benutzt auch seinen Kopf und entwickelt eine sehr eigenartige, aber aerodynamischere Sitzposition, die man eher Liegeposition nennen sollte. Mit Hilfe seines komischen Freundes Malky ("Hobbit" Billy Boyd) treibt man eine Sponsor auf und beim offiziellen Rekordversuch in Hamar scheitert Graeme knapp. Nur um direkt am nächsten Morgen - eine unglaubliche Leistung - doch mit 51,596 km den Stundenweltrekord zu brechen. Dieser hält gerade mal sechs Tage, dann löst der Brite Chris Boardman den Schotten ab.
Wer bei Wikipedia Obree sucht, bekommt als zweites Ergebnis Chris Boardman, der letztlich überlegene Rivale machte Geschichte. Dem Schotten bleibt der Kampf mit seinen Dämonen, die immer häufiger auftauchen. Nach autobiographischen Erinnerungen entstand ein ungewöhnliches Stück Sport- und Leidensgeschichte, das allen "Gesunder Geist ..."-Phrasen eine härtere Prüfung als in der härtesten Disziplin entgegenhält: Das Leben an sich.
"Flying Scotsman" wurde gefördert von der Filmstiftung NRW und in Folge gedreht auf der Köln-Müngersdorfer Radrennbahn. Im dortigen Oval fand denn auch zwischen den Steilkurven eine stilvolle Open Air-Premiere statt. Der Auftrags-Regisseur Douglas Mackinnon plapperte ungeschickt drauf los, dass er eher von Autos als von Fahrrädern fasziniert sei. Das mag man dem Film teilweise auch ansehen, doch dessen Stärken liegen bei den Figuren und nicht bei der möglichst authentischen Umsetzung von Geschwindigkeitsgefühl oder der enormen Anstrengung eines Zeitfahrens, der härtesten Disziplin beim Radsport. Wobei der eher schlaksige Hauptdarsteller gar nicht erst versucht, den Athleten zu geben. Beeindruckender als der nicht wirklich herausragend talentierte Jonny Lee Miller spielt Brian Cox einen vielschichtigen Gottesmann.