21.12.25

Die jüngste Tochter

„Die jüngste Tochter" der Regisseurin Hafsia Herzi ist ein stilles, präzises Porträt einer jungen Frau. Der Film wurde in Cannes 2025 mit dem Preis für die beste weibliche Darstellung und der Queer Palm ausgezeichnet. Herzi, die selbst als 19-Jährige mit ihrer Rolle in „Couscous mit Fisch" das französische Kino aufrüttelte, beweist hier erneut ihr Gespür für intime Figurenstudien. Ihr dritter Langfilm entzieht sich jeder einfachen Inhaltsangabe. Er beobachtet statt zu erklären und gewinnt dadurch eine enorme emotionale Tiefe.

Im Zentrum der Verfilmung des autofiktionalen Debütromans von Fatima Daas steht Fatima, gespielt von der beeindruckenden Debütantin Nadia Melliti, die den Film mit einer stillen, unaufdringlichen Präsenz trägt. Fatima wächst als jüngste Tochter einer französisch-algerischen Familie in den Pariser Vororten auf. Ihre Clique besteht aus Jungs, die mit erfundenen sexuellen Abenteuern prahlen. In der Schule wird Romantik durchgenommen und Oscar Wilde homophob verspottet. Fatima weiß längst, dass sie an Jungen nicht interessiert ist. Als ein Mitschüler sie jedoch als Lesbe bezeichnet, bricht ein innerer Konflikt auf, den die Regisseurin ohne jede Dramatik, aber mit großer Sensibilität inszeniert.

Zu Hause findet Fatima ein stabiles, liebevolles Umfeld vor. Ihre Mutter ist eine ruhige, unterstützende Kraft, ihr Vater ist zwar patriarchalisch, aber kaum präsent. Einer der bewegendsten Momente des Films ist kein Streit, sondern ein warmes Gespräch zwischen Mutter und Tochter – ein bewusster Gegenentwurf zu den gängigen Coming-out-Dramen. Herzi vermeidet konsequent die Klischees des Banlieue-Films: Alle drei Töchter haben das Baccalauréat, den französischen Schulabschluss, geschafft und Fatima wird Philosophie studieren.

Das Nesthäkchen der Familie ist cool, bestimmend, spielt Fußball, raucht. Als sie sich in die asiatischstämmige medizinische Assistentin Ji-Na (Ji-Min Park) verliebt, die sie in einer Dating-App wiedererkennt, beginnt ein neues Kapitel. Nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht folgt ein Gebet – ein leiser Hinweis auf den Zwiespalt zwischen Religion und Begehren, der Fatima begleitet, ohne dass der Film ihn je plakativ ausstellt. Der Imam ihrer Gemeinde spricht offener über Homosexualität, als Fatima erwartet hätte, und doch bleibt das Thema vor allem ein innerer Kampf.

Fatima ist ernst, fast verschlossen; erst spät im Film lacht sie zum ersten Mal. Bei einem frühen Date erhält sie von einer älteren Frau pragmatische Tipps für Sex zwischen Frauen – eine Szene, die Herzi mit Humor, aber ohne Voyeurismus inszeniert. Melliti ist in jeder Szene präsent und trägt den Film mit einer Intensität, die an Herzis eigene frühe Karriere erinnert. Die damals 19-jährige Hafsia Herzi spielte 2007 in „Couscous mit Fisch" des französischen Regisseurs Abdellatif Kechiche, der 2008 den Karlspreis für Medien in Aachen erhielt, die Bauchtänzerin Rym. Sie rettet ihren Stiefvater, als das titelgebende Couscous bei einer großen Feier nicht serviert werden kann. Mit ihrer charismatischen Präsenz hielt sie die Gäste und das Publikum in Atem. Nach über 60 Filmrollen ist Hafsia Herzi mittlerweile auch eine erfolgreiche Regisseurin. Neben der persönlichen Geschichte zeichnet „Die jüngste Tochter" ein atmosphärisches Bild der modernen, multikulturellen Großstadt: ägyptische, deutsche und koreanische Geliebte, eine fröhliche Pride-Demonstration.

„Die jüngste Tochter" ist ein Liebesfilm, jedoch keiner der großen Gesten. Er steht neben anderen Queer-Filmen wie Abdellatif Kechiches „Blau ist eine warme Farbe", Céline Sciammas „Porträt einer jungen Frau in Flammen" und Barry Jenkins „Moonlight", zärtlich, beobachtend, tief berührend. Herzi zeigt, wie Coming-out, Religion und Identität miteinander ringen können, ohne dass daraus zwangsläufig ein Kampf entsteht. Man erlebt Fatimas emotionale Achterbahn mit, weil der Film ihr Raum gibt, ohne sie zu erklären. Ein kleines, großes Werk – und ein weiterer Beweis dafür, dass Hafsia Herzi zu den wichtigsten Stimmen des europäischen Autorenkinos gehört.

„Die jüngste Tochter" (Frankreich/Deutschland 2000), Regie: Hafsia Herzi, mit Nadia Melliti, Ji-Min Park, Amina Ben Mohamed, 107 Minuten, FSK: ab 12