26.12.25

Der Fremde (2025)


Es ist ein Wagnis, sich an Albert Camus' „Der Fremde" zu versuchen – einem Klassiker der modernen Literatur. François Ozon, einer der vielseitigsten Regisseure des europäischen Kinos verwandelt den Stoff in ein streng komponiertes, ästhetisch reduziertes Schwarzweißdrama. Bekannt für prominent besetzte psychologische Meisterwerke wie „Unter dem Sand" oder „Swimming Pool" und für historische Stoffe wie „Frantz", gibt Ozon dem Camus-Klassiker seine eigene Form. Sein „Fremder" ist nach Viscontis Film von 1967 keine treue Literaturverfilmung, sondern ein Werk, das die glühende Sonne Algiers mit kühler Distanz betrachtet.

„Der Fremde" beginnt mit dem Telegramm über den Tod der Mutter des Angestellten Meursault (Benjamin Voisin). Totenwache und Beerdigung sind in statische Schwarzweißbilder gefasst, die Archivmaterial aus der ehemaligen französischen Kolonie folgen. Während alle anderen im Altersheim trauern, bleibt Meursaults Gesicht eine unbewegte Maske. Seine Augen registrieren die Umgebung, doch jede Regung scheint ihm fremd. Selbst als ein alter Freund der Mutter auf dem Weg zur Kirche unter der Sonne zusammenbricht. Im Gottesdienst bleibt der junge Mann gedankenverloren sitzen, während sich die Gemeinde erhebt. Diese frühen Szenen legen den Grundton fest: ein Mann, der nicht fühlt oder nicht fühlen will.

Zurück in Algier beginnt Meursault im Strandbad eine Affäre mit Marie (Rebecca Marder), die überrascht ist, wie schnell er nach dem Tod seiner Mutter wieder ins Kino gehen möchte. Er lacht jedoch nicht über den Komödianten Fernandel, und als sie fragt, ob er sie liebt, antwortet er, dass es keine Rolle spiele. Heiraten? Belanglos. Ozon zeigt Meursault als Beobachter, dessen Passivität ihn zugleich faszinierend und verstörend macht. Oft ist das, was um ihn herum geschieht, interessanter als er selbst: Der Nachbar Raymond (Pierre Lottin) verprügelt seine arabische Geliebte, bekommt Probleme mit deren Bruder und zieht Meursault in seine Machenschaften hinein. Schließlich kommt es am Strand zu jenem schicksalhaften Moment, der den Roman berühmt gemacht hat: Meursault erschießt den Araber – ein Akt, der im Film ebenso rätselhaft bleibt wie bei Camus.

Der zweite Teil des Films verschiebt den Fokus. Vor Gericht wird weniger die Tat verhandelt als Meursaults Charakter philosophisch analysiert. Seine Gefühllosigkeit, seine Gleichgültigkeit, seine Unfähigkeit zu trauern. Die Schwester des Ermordeten sagt unter Tränen: „Nur der Franzose interessiert, das Opfer ist allen egal." Dieser Satz verleiht dem Film eine aktuelle politische Schärfe, die Camus' existenzialistische Vorlage nur andeutet. Nur an zwei zentralen Stellen nutzt Ozon Voice-over mit Camus' Originaltext, was die Distanz zwischen Vorlage und Film noch deutlicher macht. Bemerkenswert ist auch, dass Ozon Djemila (Hajar Bouzaouit) – der Schwester des Ermordeten – eine Stimme gibt. Im Roman bleibt sie namenlos, im Film wird sie zur moralischen Instanz. Ozon macht sichtbar, wie koloniale Machtverhältnisse das Urteil prägen – und wie schnell eine Gesellschaft bereit ist, einen Menschen nicht für seine Tat, sondern für seine Haltung zu verurteilen.

Ästhetisch ist „Der Fremde" ein radikaler Schritt. Ozon entschied sich für Schwarzweiß, weil es „Reinheit, Abstraktion und Konzentration" ermögliche. Die Bilder sind reduziert, fast asketisch, mit wenigen Kamerabewegungen. Algerien erscheint wie ein verlorenes Paradies, zugleich real und entrückt. Diese visuelle Strenge erinnert an die Serie „Ripley" nach Patricia Highsmith: kühl, elegant, moralisch ambivalent. Zugleich verleiht Ozon dem historischen Kontext Tiefe. Sein eigener Großvater war Untersuchungsrichter in Algerien und überlebte ein Attentat, bevor die Familie auf das französische Festland zog – ein biografischer Schatten, der im Film mitschwingt. Ozon wollte Algier zeigen, wie es in den 1930er Jahren war: die Kasbah, den Hafen, die Schönheit und die Spannungen einer kolonialen Gesellschaft.

„Der Fremde" feierte seine Weltpremiere in Venedig, seltsamerweise nicht in Cannes. Es ist ein Film, der fordert, der sich erst mit Hintergrundwissen vollständig erschließt und der die Frage stellt, wie wir Menschen beurteilen: nach ihren Taten oder nach ihrer Weltsicht.

„Der Fremde"
(Frankreich 2025), Regie: François Ozon, mit Benjamin Voisin, Rebecca Marder, Pierre Lottin, 123 Minuten, FSK: ab 12