11.3.25
Bird
Die burschikose Bailey lebt mit ihrem heftig tätowierten Vater Bug (Barry Keoghan) in einem besetzten Haus in Kent. Zwischen Rebellion und Träumereien trifft sie in den Wiesen vor der heruntergekommenen Siedlung auf einen ungewöhnlich freundlichen Mann mit Rock. Bailey ist fasziniert von Bird (Franz Rogowski) und begleitet ihn auf der Suche nach seinem Vater. Währenddessen werden Baileys Geschwister und ihre Mutter von deren neuem, gewalttätigen Liebhaber bedroht.
Die 1961 geborene Andrea Arnold wurde nach einer Karriere als Schauspielerin 2006 in Cannes mit „Red Road" als Regisseurin international bekannt und gewann dort dreimal den Jury-Preis („Red Road", „Fish Tank" 2009, „American Honey" 2016), eine Besonderheit. Auch „Bird" feierte seine Weltpremiere im Wettbewerb von Cannes. Arnolds Filme zeichnen sich oft durch einen realistischen, sozialkritischen Stil und starke weibliche Charaktere aus.
„Bird" zeigt heruntergekommene Wohnsiedlungen und Momente seltsamer Schönheit darin. Bailey, grandios gespielt von der Newcomerin Nykiya Adams, erlebt herzzerreißende Lebenssituationen für Kinder, Gewalt und Armut, verliert aber nie Optimismus und Mut. Immer begleiten sie Tiere im Bild. Erst eine Möwe, dann, wenn sie sich die Augen schwarz schminkt, ein Rabe, der auf märchenhafte Weise hilfreich wird. Fantastisch, wunderbar und einzigartig schließlich das traumhafte Finale. Eine stimmige und bezaubernd schöne Tiermetaphorik begleitet Baileys Erwachsenwerden. Andrea Arnold, die selbst aus Kent stammt, beweist mit dem teilweise autobiografischen „Bird" ein großes Herz für Menschen und Filmkunst.
„Bird" (Großbritannien/Frankreich/Deutschland/USA 2024), Regie: Andrea Arnold, mit Nykiya Adams, Barry Keoghan, Franz Rogowski 119 Min., FSK: ab 16.
September & July
Bestimmend - und der Originaltitel - ist das immer wieder mal sadistische Spiel „September Says": Die große Schwester September sagt etwas und July muss es tun. Das ist mal ein bizarrer Tanz, mal ein Messerschnitt am Hals. Der witzige und skurrile Ton dieses ungewöhnlichen Psychodramas ändert sich im letzten Teil: Die Handlung gewinnt an Intensität, als July ihre ersten sexuellen Erfahrungen macht und sich heftig von ihrer dominanten Schwester löst. Nicht jede Szene bis dahin war zwingend, doch die finale Überraschung für Nicht-Leser der Vorlage gibt dem intensiven Drama zusätzliches Gewicht.
Das Regiedebüt der französisch-griechischen Schauspielerin Ariane Labed („Attenberg", „The Lobster", „Assassin's Creed") basiert auf dem Roman „Die Schwestern" von Daisy Johnson. Typisch für Labed seit ihren ersten Filmen sind körperlich sehr expressive Einlagen, die sie nun an ihre jungen Figuren weitergibt. Der Stil erinnert mit unkonventionellen Erzähltechniken und surrealen Elementen an die griechische New Wave. Diese wurde auch von Labeds heutigem Ehemann Giorgos Lanthimos („The Lobster", „Poor Things") geprägt. In der Gleichzeitigkeit von Figuren wie Themen in fremden und eigenen Filmen ähnelt Labed der angesagten Starregisseurin Greta Gerwig („Barbie").
„September Says" (USA 2024), Regie: Ariane Labed, mit Pascale Kann, Mia Tharia, Rakhee Thakrar 100 Min., FSK: ab 16.
10.2.25
Hundreds of Beavers
Flauschig schräger Humor
Ein besoffenes Musicalstück zu Beginn zeigt Jean Kayak im Mittleren Westen der USA inmitten einer animierten Werbung für Apfelschnaps. Bis unserer Hauptfigur seine Cidre-Brennerei und der ganze Apfelhain wegen Biber-Knabbereien abbrennt. In den verschneiten Trümmern seines vergangenen Glücks beginnt ein Kampf mit den Elementen. Kayak erleidet fast alles, was das Slapstick-Archiv der Filmgeschichte hergibt: umstürzende Bäume, lebensgefährliche Eiszapfen oder Fallen, die den Erbauer selbst überlisten.
Der „fur trapping fotoplan“ „Hundreds of Beavers“ bietet etwas Einzigartiges: Regisseur Mike Cheslik lässt seine Figuren vor animierten Hintergründen agieren und mit Hunderten von Statisten in mannshohen Plüschkostümen von Hasen, Bibern, Waschbären und Stinktieren interagieren - auf ihren Hinterbeinen. Das schlichte Spektakel im Stil alter Stummfilme mit Schwarzweiß, Lochblenden und Schrifttafeln soll nur 150.000 Dollar gekostet haben. Doch es ist kein stummer, sondern ein wortloser, aber manchmal recht lauter Film. Dabei ist die lässige Haltung der Schauspieler im Hasenplüsch ebenso komisch wie die riesigen Zähne der Biber oder die schwarzen Kreuze auf den Knopfaugen der toten Tiere.
Weil Kayak Nahrung braucht, macht er Jagd auf (Riesen-) Hasen und scheitert dabei ebenso beharrlich wie der Trapper Elmer Fudd an Bugs Bunny in der Zeichentrickserie „Looney Tunes“. Doch Kayaks eigentlicher Endgegner ist der Biber, was zu vielen weiteren peinlichen Niederlagen führt. Weil ständiges Scheitern über eine Stunde lang nicht mehr lustig wäre, kommt noch eine Liebesgeschichte mit der Tochter eines Pelzhändlers hinzu. Deren eifersüchtiger Vater ausgerechnet die titelgebenden hundert Biber als Brautgabe fordert.
Mike Chesliks Nobudget-Spaß ist eine schwarz-weiße Stummfilm-Slapstick-Komödie im Stil von Buster Keaton und Charlie Chaplin, im Geiste der Regisseure David Lynch („Eraserhead“) und Guy Maddin („Careful“), mit dem Humor von Monty Pythons Trickfilmgenie Terry Gilliam oder Studio Ghiblis verrückt-wilden Marderhunden (Tanuki) in „Pom Poko“. „Hundreds of Beavers“ steckt voller verrückter, bescheuerter und auch genialer Ideen, aber zeitweise geriet die Handlung doch dünn, wenn lange Strecken vor dem surrealen Aktion-Finale mit der großen Biberverschwörung wie ein Computerspiel namens Biberfang ablaufen. Das ist mehr Kunst als Kino, mehr Quatsch als Comedy, lässt einen aber auf jeden Fall schmunzelnd zurück.
In der Hauptrolle brilliert Ryland Brickson Cole Tews, der gemeinsam mit Regisseur Mike Cheslik auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet.
„Hundreds of Beavers“ (USA 2022), Regie: Mike Cheslik, mit Ryland Brickson Cole Tews, Olivia Graves, Doug Mancheski 108 Min., FSK: ab 12.
4.2.25
Könige des Sommers
Der schlaksige Totone (Clément Faveau) ist 18, wirkt aber mit seinem unschuldigen Gesicht und den strubbligen blonden Haaren wesentlich jünger. Er ist ein typischer Junge mit Faszination für alles laut Übermotorisierte; wie die anderen Menschen aus dem Dorf eher wortkarg. Auf dem Dorffest feiert und säuft er wie sein Vater, tanzt dann nackt auf dem Tisch. Übermütig legt er sich wegen eines Mädchens mit größeren und deutlich kräftigeren Jungs aus der Nachbarschaft an. Am nächsten Morgen will er seine siebenjährige Schwester Claire (Luna Garret) nicht zur Schule bringen. Doch ganz plötzlich muss er es, weil sein alleinerziehender Vater - wieder mal besoffen - mit dem Auto gegen einen Baum fuhr.
Schnell wird der Besitz des kleinen Hofs verkauft, Vollwaise Totone hat keine Zeit mehr, wie die anderen Jugendlichen zu reifen. Nun muss die Schwester ihn wecken, da er abends getrunken hat. Mit dem Moped rasen sie zur Schule, bevor er einen Job in der großen Käserei beginnt. Den verliert er aber wieder, weil die Söhne des Chefs ausgerechnet die Dumpfschädel sind, mit denen er sich beim Dorffest geprügelt hat. Doch durch sie kommt ihm die Idee, dass man mit gutem regionalem Käse in einem Wettbewerb 30.000 Euro Preisgeld verdienen kann.
Mit seinen zwei Freunden holt er aus einer verlassenen Scheune einen alten Kupferkessel, um die beliebte Spezialität Compté zu produzieren. Der eine tauscht für das Projekt seinen selbst aufgebauten Stockcar-Wagen gegen den alten Traktor von Totones Vater ein. Der Junge verführt Marie-Lise (Maïwene Barthelemy), das sympathische Mädchen vom großen Hof, um bei ihr Milch zu klauen. Ausgerechnet die Schwester seiner Dauerfeinde!
Die Freunde lernen mit vielen Rückschlägen eine Menge über das Käsemachen und das Leben. Mühsam finden sie die richtige Temperatur für die Milch, vergessen aber, das Lab hineinzugeben. Dann verbrennen sie sich die Arme beim Versuch, den Käse aus dem Kessel zu holen. Und noch einmal muss in der Nacht Milch stibitzt werden. Letztlich studieren sie mit den Touristen bei einer Käserin die Geheimnisse des Handwerks. Doch um als ausgezeichnete und kontrollierte regionale Spezialität das französische Schutzsiegel AOP-Siegel (Appellation d'Origine Protegée) zu bekommen, müssten Futter und Milch zertifiziert sein. Wenn zum Abschluss die ununterbrochene Plansequenz des Anfangs mit einem langen Gang übers Festgelände wiederholt wird, hat Totone seine Reifeprüfung erfolgreich abgeschlossen.
Die schöne und einfühlsame Komödie „Könige des Sommers" ist mit ihren jungen Helden mehr als ein üblicher Coming of Age-Film. Es geht ums zwar ums „Erwachsenwerden", wie der Genrename übersetzt wird – Totone lernt schließlich, Verantwortung zu übernehmen. Der Debütfilm von Louise Courvoisier, geboren 1994, ist auch ein stimmiges Porträt der Jura-Region, in der sie aufwuchs, bevor sie an der Cinéfabrique in Lyon Film studierte. In jeder Faser frisch und lebendig, erinnert „Könige des Sommers" gleichzeitig an die Lausbuben-Geschichten von François Truffauts Figur Antoine Doinel („Sie küssten und sie schlugen ihn", 1959) und an die japanischen Sozialdramen um entwurzelte Kinder von Hirokazu Koreeda („Shoplifters – Familienbande", 2018). Auch Totone und seine Schwester holen sich Lebensmittel aus den Containern von Supermärkten.
Gemeinsam ist diesen Filmen, dass sie die jungen Menschen ernst nehmen. So betrachtet die Regisseurin Louise Courvoisier ihre Helden mit großer Zärtlichkeit und Zuneigung, auch wenn Totone einige Schwächen hat. Eine Besonderheit liegt in der authentischen Verwurzelung des Films: Für Charaktere und die Geschichte, hat sich Courvoisier „von den Menschen inspirieren lassen, die mich umgeben und die ich seit meiner Kindheit beobachte. Totone und seine Freunde sind ein bisschen wie die Jugendlichen in meinem Heimatdorf. Viele von ihnen haben ihre Ausbildung früh abgebrochen, um mit ihren Eltern in deren landwirtschaftlichen Betrieben zu arbeiten. Viele kennen schwierige familiäre Situationen. Ich wollte diese Jugendlichen, die im Kino nur selten auf der Leinwand zu sehen sind und mit weniger Chancen ins Leben starten als viele andere, in einem positiven und differenzierten Porträt zeigen." Sie wollte ihre „Figuren in ihrer Rauheit zeigen, die aber nicht ausschließt, dass sie sehr sensibel sind und gewisse Schwächen haben. Aber ohne sie auf eine pathetische Art und Weise darzustellen, die nicht zu ihnen passt."
Die einfühlsame Filmmusik stammt vom Bruder und der Mutter der Regisseurin, Charlie und Linda Courvoisier. Sie haben nach schlichter und ausdruckstarker Musik gesucht, die für einen Western typisch ist. Aus der Region kommen auch viele LaiendarstellerInnen. So lebt die Darstellerin der Käserin im Dorf der Regisseurin und ist im wirklichen Leben Gefängniswärterin. Die authentische Umgebung des Jura wurde mit großartigen Bildern im Cinemascope-Format des Westerns inszeniert. Kameramann Elio Balézeaux gelang eine tolle Fotografie des Landlebens mit schönen Farbakzenten auf Hof und Scholle. Wir sehen fasziniert ein Kalb in einem stillgelegten Auto und Stillleben mit Traktor.
Das Filmdebüt von Regisseurin Louise Courvoisier verzichtet auf das große Drama und schenkt uns dafür eine beglückende, leichte Erzählung mit genauem Blick auf kleine Gesten. Sie begeisterte beim Filmfestival in Cannes, gewann den „Prix de la Jeunesse" in der Reihe „Un Certain Regard". Bei den französischen „Lumiere Awards" gab es den Preis des besten Nachwuchs-Schauspielers für Clément Faveau, den Darsteller des Totone, und den Preis für das beste Debüt. Auch die Herzen des französischen Kinopublikums eroberte der moderne Heimatfilm. Dieser ist nicht spektakulär, zeigt dafür echtes Leben und nahe Gefühle.
(Der französische Originaltitel „Vingt Dieux" ist ein Ausdruck des Erstaunens von Totone und bedeutet wortwörtlich übersetzt „Zwanzig Götter".)
(Aachen: Apollo) 4 von 5 Sternen
„Könige des Sommers" (Frankreich 2024), Regie: Louise Courvoisier, mit Clément Faveau, Luna Garret, Mathis Bernard 90 Min., FSK: ab 12.
28.1.25
Star Trek: Section 31
Wer nicht hören will ... muss sich so was anschauen ...
Ich wollte den negativen Ankündigungen zu „Star Trek: Section 31" ja nicht glauben, weil doch alles, was zuletzt im Star Trek-Universum rundflog, so gut war … Vor allem „Star Trek: Discovery" mit schwindelerregender Science Fiction, Dualität in fast jeder Figur und toller Frauen-Power. (Und mit „Star Trek: Picard" als melancholisches Alterswerk der Truppe.)
Nun habe ich „Star Trek: Section 31" tatsächlich gesehen, sogar bis zum Ende und das sehr bereut: Diese Anbiederung an „Guardians of the Galaxy" mit nicht nur humanoiden Figuren, simpelster Handlung und sehr schlechten Witzchen erzählt zwar etwas von der Herkunft der extrem bösartigen Tyrannin Philippa Georgiou (hier lächerlich harmlos als galaktische Barbesitzerin), hat aber überhaupt nichts vom hoffnungsvollen und humanistischen Geist des ganzen Star Trek-Universums. Die Handlung beschränkt sich darauf, dass die titelgebende geheime Abteilung „Section 31" der Sternenflotte Georgiou anheuert, um die übliche Maschine zu finden, welche die ganze Welt zerstört. Oder zumindest einen Teil eines Parallel-Universums.
„Star Trek: Section 31" gehört dabei eindeutig ins Universums des Weltraumschrotts. Ein Trauerspiel vor allem auch für die unterforderte und nur für etwas Action-Gehaue eingesetzte Hauptdarstellerin Michelle Yeoh („Tiger and Dragon"), die noch Jamie Lee Curtis aus ihrem Oscarfilm „Everything Everywhere All at Once" mitbrachte.
Das Debakel sollte unübersehbar eine Serie werden - nach diesem Fehlstart hoffentlich nicht mehr!
Seit dem 24. Januar 2025 bei Paramount+ als Video-on-Demand verfügbar.
23.1.25
Kneecap
In einer Verhörzelle in West-Belfast begegnen sich im Jahr 2019 der Irischlehrer JJ Ó Dochartaigh und der junge Liam Óg, der sich nach einer exzessiven Partynacht weigert, Englisch zu sprechen. JJ soll übersetzen, wendet aber ein paar juristische Kniffe an, die den unangepassten Drogendealer vor größerem Ärger bewahren. Nachdem der unfreiwillige Übersetzer ein Notizbuch voller LSD-Sticker aus der Polizeistation herausschmuggelt, entdeckt er darin noch mehr Berauschendes: Die Texte von Liam Óg und seinem Kumpel Naoise über Drogen, Sex und den Widerstand gegen das britische Establishment lassen im frustrierten Irischlehrer seine Musiker-Vergangenheit aufleben. In der Garage mixt er ein paar Beats dazu und ist hellauf begeistert.
Die nächste Begegnung der beiden ist eine jener herrlich wilden und mitreißenden Film-Szenen, die „Kneecap" zu einem irischen „Trainspotting" machen: Liam provoziert eine der typischen orangefarbenen Marschkapellen der britischen Unionisten und flieht zu harten Techno-Beats von The Prodigys „Firestarter". Die Bilder zeigen abwechselnd eine slapstickartige Verfolgungsjagd und große Panoramen eines absurden Konflikts. JJ rettet ihn mit seinem Auto vor den Verfolgern und überredet die beiden etwas einfältigen Jungs in ihren hässlich poppigen Trainingsjacken, die irischen Verse einzusingen, bis sie völlig eingeräuchert und mit Koks bepudert aus dem Amateur-Studio in der Garage taumeln.
Der Rest ist teils erfundene Erfolgs- und Musikgeschichte, welche die drei Musiker von Kneecap zusammen mit dem Regisseur Rich Peppiatt geschrieben haben. Nach peinlichen Auftritten in leeren Pubs vor alten Männern verbreitet sich die Neuigkeit vom gälischen Rap wie ein Lauffeuer. Das überrascht sogar den bislang braven Lehrer JJ Ó Dochartaigh, der fortan anonym als DJ Próvaí mit einer Skimütze in irischen Nationalfarben auftritt.
Laut singend und wütend zeigen die drei Männer auf der Bühne auch schon mal ihre nackten Hintern mit den Worten „Brits out" drauf. Nicht nur deshalb geraten sie zwischen alle Fronten: Liams neue Freundin Georgia ist Unionistin und ihre Tante ausgerechnet die verhasste Polizeichefin. Eher ernst geht es in dem Drama um Naoises Vater Arló (Michael Fassbender) und die durch seinen Widerstandskampf zerrüttete Familie zu, in der sich die vermeintliche Witwe Dolores (Simon Kirby) nicht mehr aus dem Haus traut. Eheprobleme gibt es auch beim Lehrer, dessen aktivistische Frau den heimlichen Erfolg ihres Mannes mit der Band nicht als Unterstützung für die Sache der irischen Sprache sieht. Die Frage, ob eine lebendige Sprache auch deftig fluchen darf, entzweit unterschiedliche Befürworter des Irischen im Moment als Sinn Féin, der politische Arm der IRA, den „Irish Language Act" vorschlägt: Irisch soll offiziell den gleichen Rang bekommen wie Englisch. Damit es mit nur noch 80.000 SprecherInnen nicht bald zur toten Sprache wird. In diesem Film ist Irisch auf jeden Fall quicklebendig und präsent: In der Originalfassung sind die irischen Passagen untertitelt.
Wie die Band ist auch der Film inzwischen ein Riesenerfolg: Peppiatts teilweise irischsprachiges Werk, wurde sechs Mal für den britischen Filmpreis BAFTA nominiert, darunter als bester britischer Film und bestes Drehbuch. Schon zur Weltpremiere beim letztjährigen Sundance Film Festival gewann „Kneecap" den Publikumspreis. Er wurde von Irland als Beitrag für die Oscarverleihung 2025 als Bester Internationaler Film eingereicht.
Wenn Liam und Naoise als junge Messdiener Marihuana statt Weihrauch in der Kirche verräuchern und damit die Zahl der Gottesdienstbesucher verdoppeln oder Liam auf der Flucht vor der Polizei vollgepumpt mit Drogen in einen Bus einsteigt und alle Passagiere das Muster eines dieser unfassbar bunten Sitzbezüge tragen, dann ist „Kneecap" herrlich wild und verrückt, macht mit viel Mittelfinger und Fluchen Spaß. Halt „Trainspotting" nur auf irisch statt auf schottisch.
Gleichzeitig ist die Band-Biografie eindeutig politisch: So verweist der Titel von Band und Film auf das „Kneecaping", das „Schießen ins Knie", als brutale „Bestrafung" von Drogendealern durch die brutalen, selbsternannten „Freiheitskämpfer" während des Bürgerkriegs. Im Film gibt es auch eine lächerliche republikanische Splittergruppe gegen Drogen. Der wichtigste Satz im Film lautet: „Jedes irisch gesprochene Wort ist eine Kugel für die irische Freiheit."
Michael Fassbender hat eine großartige, überlebensgroße Rolle, die eine kleine Hommage an seinen Durchbruch in „Hunger" (2008) als inhaftierter irischer Widerstandskämpfer Bobby Sands ist. Der zweifache Oscar-Preisträger spielt Naoises Vater, der sich für eine Serie spektakulärer Bombenattentate von der Familie verabschiedete und für immer verschwand - zumindest offiziell. Tatsächlich lebt er seit zehn Jahren unerkannt als Yoga-Lehrer am Strand.
„Kneecap" (Irland/Großbritannien 2024), Regie: Payal Kapadia, mit Liam Óg, Naoise Ó Cairealláin, JJ Ó Dochartaigh, Michael Fassbender 105 Min., FSK: ab 16.
20.12.24
Serien 2024
Zu den anderen Ausreißern gehören die erste deutsche Serie auf Apple+ „Where's Wanda", den ich sehr, sehr gut fand. Witzig, überraschend und immer wieder originell. Seltsam auch, dass ich eines der Highlights, nämlich „Ridley", immer noch nicht zu Ende gesehen habe. Obwohl es ein derartiger Genuss ist, diese wunderbaren schwarz-weiß Aufnahmen der Highsmith-Verfilmung in Italien zu sehen. „Disclaimer" von Alfonso Cuaròn hatte ich auch noch nicht zu Ende gesehen, obwohl er ungemein intensiv ist. Vielleicht war mir das gerade etwas zu heftig, als ich angefangen habe, es zu sehen. Das wird aber jetzt schnell zu Ende geguckt, auch um das gehässige Rachegesicht von Kevin Kline zu geniessen.
Natürlich gehört in die Reihe der Besten, auch wenn es eine Fortsetzung ist, die vierte Staffel von „Slow Horses" mit Gary Oldman. Absolut das Beste, was es zu sehen gibt. In die Reihe gehört auch das geniale Rassismus-Drama „Lady in the Lake" von Alma Har'el mit Natalie Portman und der ebenso guten Moses Ingram. Genau wie die vierte Auflage von „True Detective" mit Jodie Foster und Kali Reis in krimineller und skurriler Polarnacht. Auch bei Paul Rutmans Londoner Polizei-Serie „Criminal Record" (Apple+) kann ich die Fortsetzung kaum erwarten. Genial und super-spannend dieser Kampf um moralische Bodenhaftung mit Dr. Who Peter Capaldi und Cush Jumbo. Extrem spannend auch „H/Hack" mit Idris Elba als vermeintlichem Sky Marshall und raffiniertem Problemlöser bei einer brutalen Flugzeugentführung.
„Dune" ist als Serie dagegen nur so ein nettes Bilderrauschen: Allein das Schauspiel von Emily Watson und Travis Fimmel als Gegenspieler machen die unübersichtlichen Familienverwicklungen rund um die intrigante Schwesternschaft sehenswert.
Die deutsche Erfolgs-Serie „Discounter" hingegen finde ich mächtig überschätzt. Kann man mal schnell wegkucken und ab und zu lachen, aber das ist nichts Besonderes oder gar Sensationelles. Interessant hier, dass ich als halber Niederländer mit dem niederländischen Original so gar nichts anfangen kann.
Ebenso wie mit den neuen „Time Bandits", obwohl die Serie von Regie-Superstar Taika Waititi („Star Wars") stammt, aber leider nur ganz entfernt an die rebellische Fantasie von Terry Gilliams Original heranreicht.
Black doves (Netflix)
Erst einmal startet die Netflix-Serie extrem unglaubwürdig wie die Politiker-Gattin Helen Haushalt, Kinder und intensive Spionage-Tätigkeit in den höchsten britischen Regierungskreisen völlig entspannt unter einen Hut und perfekt gestylten Haarschopf bekommt. (Obwohl - wenn man die neuesten Nachrichten vom einflussreichen chinesischen Spion im Bekanntenkreis von Ekel-Prince Andrew liest, wirkt das alles gar nicht mehr so unwahrscheinlich…) Als Helen, Agentin einer mysteriösen Organisation mit selbst noch dunkler Herkunft, dann noch eine Affäre anfängt und ihr Liebhaber einem Attentat zum Opfer fällt, wird es kompliziert. Helen will seinen Tod rächen und weil auch der chinesische Botschafter umgebracht wurde, sind einige Parteien, angefangen bei MI6 und CIA auf der gleichen Spur…
Auf jeden Fall wird „Black Doves" von John Barton ab Folge 3 vor allem so abgründig und spannend, dass alle Unwahrscheinlichkeiten vergessen sind. Es bleibt das Grübeln darüber, was diese durchaus sehenswerte Serie eigentlich sein will: Irgendwo - um in der Tierwelt zu bleiben - zwischen dem realistisch dreckigen und schwarzen „Slow Horses" und den zynischen wie brutalen „Reservoir Dogs". Als dann noch der Wahnsinn einiger psychopathischer Killerinnen reingemischt wird, bleibt Guy Richie als naheste Referenz.
Doch im Gegensatz zu den eiskalten Engeln aus anderen Filmen gibt es in „Black Doves" ziemlich viele intensive Beziehungen und einige der stärksten Szenen bauen auf lebendige Gefühle anstatt stilvollem Töten.
Die größte Attraktion dabei ist nicht der angenehm alternde Romantik-Star Keira Knightley, sondern vor allem und eigentlich nur Ben Whishaw! So viele Lagen zwischen Sensibelchen und gnadenlosen Vollstrecker!
Und immer kommen noch ein paar dazu, Dank dafür ans Drehbuch!
Die ziemlich verwickelte Angelegenheit trumpft mit ein paar genialen Popmusikeinsätzen auf. Am Ende gewinnen Liebesgeschichten … und zu Weihnachts-Gesäusel einige sehr offene Handlungsfäden.
14.12.24
All we imagine as light
Im ersten Teil ist die pulsierende Metropole Mumbai, die Heimatstadt der 38-jährigen Regisseurin Payal Kapadia, eine weitere Hauptfigur. Faszinierend die authentischen Nachtaufnahmen - Kapadias erster Film „A Night of Knowing Nothing" war ein Dokumentarfilm. Auf der Tonspur hören wir Gedanken über das Leben im Moloch: „Manche nennen sie Stadt der Träume", aber das sei sie nicht, sondern „die Stadt der Illusionen". Wie die Frauen von ihren Illusionen Abschied nehmen, erzählen intime, bewegende Geschichten ohne aufgesetzte Dramatik. Immer wieder fließen ihre Gefühle über in Nachtaufnahmen der ruhelosen Stadt.
Im zweiten, ganz anderen Teil sehen wir die Frauen befreit am Meer im alten Haus Parvatys, zu dem sie Prabha und Anu begleiten. Die jungen Liebenden entdecken eine märchenhafte Grotte mit alten Steinfiguren, Prabha erlebt eine traumhafte Aussprache mit ihrem verschwundenen Mann.
„All we imagine as light" erzählt fesselnd mit wunderschön ruhigem Atem, berührt mit stiller weiblicher Solidarität. Dazu fantastische Jazz-Einlagen der legendären Komponistin Emahoy Tsegué-Maryam Guèbrou (1923 - 2023). Das beglückende Meisterwerk begeisterte in Cannes, wo die Regisseurin als erste indische Regisseurin überhaupt im Wettbewerb vertreten war und direkt mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde.
(Aachen: Apollo) 5 von 5 Sternen
„All we imagine as light" (Frankreich/Indien/Luxemburg/Niederlande 2024), Regie: Payal Kapadia, mit Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, 115 Min., FSK: ab 12.