5.9.23

Daliland


(USA, Frankreich, Großbritannien 2023) Regie: Mary Harron, mit Ben Kingsley, Barbara Sukowa, Christopher Briney, 97 Min., FSK: ab 12

Ein Dalí-Film ohne einen einzigen originalen Dalí! Nur Ben Kingsley, der die Rolle als alter skurriler Kauz gibt! So misslingt die Künstler-Biografie in der Hand der erfahrenen Regisseurin Mary Harron („American Psycho", „I shot Andy Warhol").

„Was bin ich?", fragt sich Dalí (Ben Kingsley) 1974 in New York. Seit 20 Jahren verbringt er den Winter dort. Mittlerweile ist der 70-jährige spanische Surrealist über den Höhepunkt seines Schaffens hinaus. Sein Ziel für die letzten Lebensjahre lautet, sich mit Schönheit zu umgeben. Mit vielen Partys sowie jungen Frauen und Männern hält er im St. Regis Hotel Hof und versorgt gierige Galeristen mühsam mit neuem Material.

Um Dalís Finanzen kümmert sich seine Frau und Muse Gala (Barbara Sukowa), während sie gleichzeitig eine Affäre mit dem jungen Hauptdarsteller des Broadway-Musicals „Jesus Christ Superstar" hat. Der unerfahrene James (Christopher Briney) gerät als gescheiterter Maler und Dalí-Fan in diese Welt namens Daliland, als ihm sein Chef, der Galerist Christoffe (Alexander Beyer), an den Künstler ausleiht, um die Produktion für die nächste Ausstellung in wenigen Wochen zu überwachen. Dalí selbst, dessen rechte Hand mittlerweile zittert, taucht auf seinen Partys in irren Kostümen auf. Es gibt viel Koks und Sex. Seine aktuelle Begleiterin ist eine noch unbekannte Amanda Lear mit tiefer Stimme und Gerüchten um ihre Transsexualität. Der junge Alice Cooper trinkt eine Dose Bier und redet über Hologramme.

Spät kommen einige Entdeckungen um illegale Kunstgeschäfte wie das Signieren weißer Blätter auf - was dann wieder stimmig ist: So wie limitierte Serien inflationär auf dem Markt auftauchten, so benutzte Dalí die gleichen Namen wie San Sebastián oder Lucy in Serie für immer neue junge Männer und Frauen.

Wie in „Almost Famous - Fast berühmt" von Cameron Crowe taucht ein junger Mensch staunend in die Szene seiner Idole ein, verliert und verliebt sich, entdeckt die Schattenseiten und lernt fürs Leben. Nur das dies in Crowes Meisterwerk von 2000 rund um die Musikszene viel lebendiger passierte. Christopher Briney ist als Dalís Assistent James fast eine Nullnummer. Kingsley („Schindler's List", „Gandhi") spielt meist wieder Kingsley und auch Barbara Sukowa („Gloria Bell", „Hannah Arendt") wirkt mehr wie eine verkleidete Schauspielerin als eine legendäre Muse. Kurze Erinnerungen an die Zeit des Kennenlernens des berühmten Paares wirken geradezu albern. Am stärksten ist noch der Versuch, des alten Dalís Schaffenskraft aus der unzerstörbaren Liebe und der kompensierten Eifersucht zu erklären. 

Es geht in „Daliland" erschreckend wenig um Dalís Kunst. Keines seiner Werke ist zu sehen, höchstens mal eine kurze Animation der berühmten zerfließenden Uhr. Erst am Ende zeigt Regisseurin Mary Harron etwas visionäre Filmkunst, wenn sich die alten und jungen Figuren in mehreren Szenen begegnen. Es ist schade, dass gerade der Surrealist Dalí mit so einer konventionellen Biografie porträtiert werden soll.


7.8.23

Hypnotic

(USA 2023) Regie: Robert Rodriguez, mit Ben Affleck, Alice Braga, William Fichtner, 94 Min., FSK: ab 16

Der anerkannte Regie-Rowdy Roberto Rodriguez („El Mariachi", „From Dusk Till Dawn") wandelt auf den Pfaden von Christopher Nolan: „Hypnotic" ist hochspannende „Inception"-Täuschung mit Ben Affleck anstelle von Leo DiCaprio.

Es beginnt klassisch wie bei anderen Psycho-Spielchen – ein Auge öffnet sich in Großaufnahme, der Held wacht aus einer Träumerei auf. Polizist Danny Rourke (Ben Affleck) erinnert sich während einer Therapiesitzung daran, wie seine kleine Tochter rätselhafterweise vom Spielplatz verschwand. Bevor er sich zu sehr damit beschäftigen kann, was dieses Trauma mit ihm gemacht hat, ruft der nächste Einsatz - der Film wird sehr schnell sehr spannend und geheimnisvoll. Eine Bank soll überfallen werden und so knallig wie die Explosionen sind die sonderbaren Ereignisse. Eine Frau beginnt mitten auf der Straße, sich auszuziehen. Danny findet im begehrten Schließfach ein Polaroid seiner Tochter. Und durchs Zentrum des Chaos wandelt völlig ruhig der vermeintliche Bankräuber (William Fichtner), der mit nur ein paar Worten Menschen sogar dazu bringt, sich gegenseitig zu erschießen.

Auf der Suche nach Antworten trifft Danny die Wahrsagerin und Hypnotiseurin Diana Cruz (Alice Braga). Noch sind wir allerdings auf der ersten Ebene dieses vielschichtigen Thrillers. Wenn der Polizist auf der Flucht zwischen langen Güterzügen plötzlich sieht, wie sich der Horizont krümmt und der Bahnhof über seinem Kopf weitergeht, ist der Hinweis auf Christopher Nolans „Inception" mit seinen frei konstruierten fantastischen Räumen unübersehbar.

„‚Hypnotic' war schon immer meine Lieblingsgeschichte", sagte Autor und Regisseur Robert Rodriguez („El Mariachi", „From Dusk Till Dawn"), „weil sie genau das tut, was wir als Filmemacher zu tun versuchen. Man bringt ein Publikum in einen dunklen Raum und versucht, es glauben zu lassen, dass das, was es sieht, absolut real ist – zumindest real genug, um emotional involviert zu sein. Man erschafft ein hypnotisches Konstrukt aus Bildern, Ton und Musik, um sie glauben zu lassen, dass sie etwas Bestimmtes fühlen."

So ist „Hypnotic" ein im Action-Thriller versteckter Autorenfilm um Manipulation und Täuschung, gleichzeitig Rodriguez' Hitchcock-Hommage zu „Der Mann, der zuviel wusste". Wobei Ben Afflecks Danny gar nicht weiß, was er einst wusste und vergessen hat. Und um an diesen mehrfach verschlossenen Tresor im Inneren seines Kopfes – siehe „Inception" – zu gelangen, hilft selbst die mächtigste Hypnose nicht.

Raffiniert wie die verschachtelte Handlung ist auch die Besetzung von „Hypnotic": Die Action mit doppeltem Boden ist eine typische Geschichte für Ben Affleck, der schon in John Woos Science-Fiction „Paycheck - Die Abrechnung" (2003) – nach einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick seinen eigenen vergessenen Hinweisen hinterherjagte. Selbstverständlich ist der neue Rodriguez auch verwandt mit Paul Verhoevens trashiger Philip K. Dick-Verfilmung „Total Recall" mit Arnold Schwarzenegger. Sehr eindrucksvoll in der Nebenrolle des mysteriösen Gegenspielers ist William Fichtner („The Dark Knight", „Elysium"). Diesem Gesicht traut man sofort besondere mentale Macht zu und besonders wahnsinnige Gedanken. Auch er macht „Hypnotic" sehenswert – samt Nachklatsch im Abspann, der auf einen zweiten Teil neugierig macht.

18.7.23

Barbie

USA 2023, Regie: Greta Gerwig, mit Margot Robbie & Ryan Gosling, America Ferrera, Kate McKinnon, Michael Cera, Ariana Greenblatt, Issa Rae, Rhea Perlman und Will Ferrell, 115 Min., FSK: ab 6

Barbie wird Greta

Das unübersehbar beworbene Mattel-Marketing für das Produkt Barbie-Puppe erweist sich erfreulicherweise als geniale Mogelpackung von Regisseurin Greta Gerwig („Little Women", „Lady Bird") und Autor Noah Baumbach („Marriage Story", „Der Tintenfisch und der Wal"): Anfangen mit einem herrlichen „2001"-Zitat, bei dem die Erscheinung Barbie die triste Kindersteinzeit nur mit Baby-Puppen beendet. Die heile Barbie-Welt im Barbie-Haus mit den Barbie-Klamotten dauert drei Szenen und zwei Songs, bevor Barbie (Margot Robbie) düstere Gedanken, Selbstzweifel, Zellulitis und - als Höhepunkt des Schreckens – flache Füße bekommt. Um diese Makel auszumerzen, muss sie von Barbie-Land in die Reale Welt reisen und die Barbie-Mutter finden, die gerade mit ihr spielt. Was bei Disney ein kitschiges und mit Harmonie zugekleistertes Märchen geworden wäre, ist bei der großen Greta Gerwig eine zeitweise ziemlich verrückte Bespiegelung von Feminismus und Matriarchat, von Geschlechterrollen und der Produktionsgeschichte von Barbie – samt gecancelter Modelle wie schwangerer Barbie und der mit wachsenden Brüsten. Da gibt es schrägste Tanznummern, D-Day am Malibu-Beach mit Tennis-Schlägern und Frisbee-Scheiben sowie unzählige Details, die ebenso clever wie bescheuert sind. Mattel nimmt sich mit den Firmenregeln und Will Ferrell als Chef selbst auf den Arm. Ken (Ryan Gosling) bleibt trotz einiger Tränchen eine Witzfigur am Rande, nachdem sein Versuch scheitert, das Patriarchat im Barbie-Land einzuführen. Wessen Familie bereits mit dem pinken Virus infiziert ist, muss nun ganz stark sein: Kleine Kinder können mit dieser Satire so gut wie nichts anfangen. Höchstens Wörter aufschnappen, die später schwieriger Erklärungen bedürfen.

Running against the Wind

(Äthiopien, Deutschland 2019) Regie: Jan Philipp Weyl, mit Ashenafi Nigusu, Mikiyas Wolde, Joseph Reta Belay, 120 Min., FSK: ab 12

Abdi und Solomon wachsen in einem abgelegenen Dorf Äthiopiens auf. Als die Zwölfjährigen auf einen weißen Entwicklungshelfer treffen, finden sie ihren Traum: Abdi will ein berühmter Läufer werden - wie das Idol des Landes Haile Gebrselassie. Solomon klaut eine Kamera und haut nach Addis Abeba ab. Als junger Mann kommt auch Abdi (Ashenafi Nigusu) in die große Stadt und findet den alten Freund wieder. Solomon (Mikias Wolde) wird zwar noch „Photo" genannt, arbeitet aber als Müllsammler, um seine kleine Familie im Slum zu ernähren. Sein Fotoapparat hat mittlerweile einen Riss in der Linse. Zudem wird er immer wieder von der Gang des Kriminellen Blondie bedrängt. Auch als er durch Vermittlung zum Fotografen für die äthiopische Laufnationalmannschaft wird.

„Running against the Wind" war Äthiopiens Oscar-Beitrag 2020 in der Kategorie „Bester Internationaler Film" und folgt dem Traum vieler junger Menschen in diesem Land, durch Sport aufzusteigen. Aber das bildstarke Drama ist nicht nur Sportfilm oder Geschichte vom Aufstieg eines Benachteiligten, es geht vor allem um Freundschaft und die Kraft des authentischen Blicks. Solomon wird mit seinen ehrlichen Fotos über die Menschen im Slum Erfolg haben. Regisseur und Koautor Jan Philipp Weyl spielt sich in seinem Debütfilm selbst als weißer Fotograf und Mentor, der lange in Äthiopien lebt. Weyl selbst war drei Jahre im Land. Das Ergebnis ist eine klassische Geschichte, die immer wieder eindrucksvoll nur mit Bildern (Kamera: Mateusz Smolka) erzählt wird. Das beginnt mit dem Weg eines Jungen durch faszinierende Landschaften und setzt sich fort in den kraftvollen Porträts ausdrucksstarker Gesichter. Auch die guten Darsteller der Kinder- und jugendlichen Figuren machen „Running against the Wind" (Gegen den Wind rennen) sehenswert. Gedreht wurde an Originalschauplätzen sowie mit einem Gastauftritt von Olympia-Legende Haile Gebrselassie.

6.6.23

Nostalgia

Italien 2022, Regie: Mario Martone, mit Pierfrancesco Favino, Tommaso Ragno, Francesco Di Leva, 118 Min., FSK: ab 12

Vierzig Jahre ist es her, seit Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) als Teenager seine Heimatstadt Neapel verlassen musste. In Kairo wurde er erfolgreicher Bauunternehmer und lebt glücklich verheiratet. Nun kehrt er erstmals zurück, um seine gebrechliche Mutter zu pflegen. Fürsorglich hebt er sie nackt ins Bad, nachdem er ihr vorher erklärte, dass er immer noch ihr kleiner Junge sei. Dann besorgt er eine bessere Wohnung mit mehr Licht, während er allabendlich durch die Stadt streift. Auch als die Mutter gestorben ist, verliert sich der Heimkehrer mit schwer nachvollziehbarer und gefährlicher Nostalgie im verwinkelten Stadtteil Sanità. Abends verunsichern dort schießende Gangs auf Motorrädern die Gassen, durch die auch er einst mit seinem Jugendfreund Oreste fuhr. Dies zeigen nostalgisch verfärbte Erinnerungs-Filme im quadratischen Bildformat.

Jetzt versucht Felice seinen alten Freund (Tommaso Ragno) wiederzusehen, der mittlerweile zum gefürchtetsten Camorra-Boss aufgestiegen ist. Die Leute werden still, wenn sein Name erwähnt wird. Bei einem umständlich arrangierten Treffen, wie man es von (Film-) Gangstern kennt, ergibt sich eine höchst spannende Aussprache über zwei unterschiedliche Lebenswege und eine alte Schuld. Während der Suche lernt Felice auch Don Luigi Rega (Francesco Di Leva) kennen, einen gegen die Camorra aufbegehrenden Priester. Er verkörpert die Hoffnung, indem er sich um Jugendliche und Immigranten kümmert. Und ihm öffnet sich der mittlerweile zum Islam Konvertierte in einer Art Beichte, bevor viel Wut aus ihm hochkommt: Als der Priester ihm einen Sandsack anbietet und schlägt er wild darauf los.

Regisseur Mario Martone macht aus der gleichnamigen Buchvorlage von Ermanno Rea ein Doppel-Porträt aus Stadt und Flaneur. Immer wieder sieht man Felice bei seinen langen Spaziergängen vor dem Panorama aus Stadt, Gassen und Häuser. Der populäre und auch international bekannte Pierfrancesco Favino („Auf alles, was uns glücklich macht", „Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra", „Illuminati") ist der ideale Darsteller für diese stille und sensible Hauptfigur. Der verlorene Sohn lernt in Begleitung des Priesters unterschiedliche Menschen in verschiedensten Situationen kennen. Da ist die Familie, in der jeder dealt und der Sohn nicht mehr zum kirchlichen Geigenspielen darf. Und der alte Schneider, der einst seine Mutter liebte und ihn davor warnt, hierzubleiben. „Nostalgia" - nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls in Italien spielende Klassiker „Nostalghia" von Tarkowski aus dem Jahre 1983 – war der italienische Beitrag für den Oscar 2023 und lief im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes. Er nimmt im ruhigen Rhythmus mit in ein faszinierendes und abgründiges Labyrinth aus Sehnsucht und Erinnerung.

30.5.23

Pearl

USA 2022, Regie: Ti West, mit Mia Goth, David Corenswet, Tandi Wright, 103 Min., FSK: ab 18

In überkandidelten Hollywood-Musicals wie „Der Zauberer von Oz" schlummerte schon immer die Saat des Wahnsinns. So ist es nur konsequent, dass Regisseur Ti West in der Vorgeschichte seines überraschend erfolgreichen Independent-Horrors „X" eine Judy Garland-Figur zum blutrünstigen Monster werden lässt. Im Texas des Jahres 1918 lebt die junge Pearl (Mia Goth) auf einer kleinen Farm mit ihren deutschstämmigen Eltern. Ihr Mann kämpft im fernen europäischen Krieg. Raus aus dem Zwang der puritanischen Mutter (mit einem furchtbar „deutschen" Dialekt) träumt Pearl sich in Rollen von Judy Garland und anderen Kinostars. Die Süßlichkeit dieser Tagträume wird allerdings heftig kontrastiert von ihren Wutausbrüchen. Zuerst wird eine Gans aufgespießt und an Pearls Lieblingskrokodil verfüttert. Später folgen Menschen, die an ihr zweifeln. Große Hoffnung legt die eigenwillige Frau in ein Tanz-Casting in der Stadt, die nicht nur wegen der Spanischen Grippe gefährlich ist. (Corona lässt mit Masken grüßen.) Ein Kinovorführer unterstützt sie, will sie mit nach Europa nehmen, schreckt aber vor Pearls Ausbrüchen zurück.

Mia Goth, die schon in Ti Wests „X" die Hauptrolle spielte, kann hervorragend eine wahnsinnige junge Frau geben. Das bewies sie erst kürzlich mit „Infinity Pool". Sie hat sich die Rolle der Pearl als Koautorin zusammen mit dem Regisseur und als ausführende Produzentin auf den Leib geschrieben. Auch wenn „Pearl" sein „FSK ab 18" mit heftigem Splatter verdient, liegt der Fokus auf einer faszinierend irren Psyche. Pearls „Gothic"-Horror ist ein erschreckendes Vergnügen, wenn die Bestandteile von „Der Zauberer von Oz", die unheimliche Vogelscheuche und die knalligen Technicolor-Farben, zu Szenen voller Sex und Gewalt kippen. Genauso fesselnd ist ein sehr langer Monolog als Geständnis und Seelen-Striptease. Hängen bleiben nicht die Gewalttaten, sondern die Gesichtsausdrücke Mia Goths von ekstatischer Freude und mörderischer Wut. Ganz gegenwärtig wird die alte Geschichte mit ihrem verzweifelten Aufschrei „No, I am a star!" – Nein, ich bin ein Star!

Das Rätsel

Frankreich, Belgien 2019 (Les Traducteurs) Regie: Régis Roinsard, mit Lambert Wilson, Olga Kurylenko, Alex Lawther, 105 Min., FSK: ab 16

Auf der Frankfurter Buchmesse kündigt Verleger Eric Angstrom (Lambert Wilson) „Daedalus" an, den letzten Teil der Erfolgstrilogie des geheimnisvollen Autors Oscar Brach. Von Cover und der Werbe-Kampagne her ein Dan Brown-Nachfolger. Im nächsten Schritt der Vermarktung werden neun Übersetzer für die wichtigsten Märkte in einem Luxus-Bunker unter einer Villa für zwei Monate ohne Internet oder sonstigen Kontakt zur Außenwelt eingeschlossen. Bewaffnete Russen kümmern sich um die „Sicherheit". Jeden Tag erhalten die Lohn-Schreiber nur zwanzig Seiten des französischen Originaltextes, um zu verhindern, dass das Buch vorzeitig veröffentlicht wird. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen wird Angstrom bald erpresst: Die ersten zehn Seiten des Werkes wurden ins Netz gestellt, nur mit Zahlung von Millionen kann er vermeiden, dass die nächsten hundert folgen. Die Situation im Bunker eskaliert unter den übergriffigen und brutalen Versuchen des eiskalten Verlegers, den Verräter zu finden. Und auch die „Traducteurs", wie sie im Originaltitel heißen, verdächtigen sich gegenseitig.

Dem griechischen Kapitalismus-Kritiker Konstantinos Kedrinos (Manolis Mavromatakis) ist das ganze Verfahren zuwider. Die Russin Katarina Anisinova (Olga Kurylenko) kleidet und sieht sich als tragische Roman-Heldin Rebecca. Der junge idealistische Brite Alex Goodman (Alex Lawther) hat die beiden ersten Bände illegal übersetzt und veröffentlicht. Die Portugiesin Telma Alves (Maria Leite) sieht schon äußerlich nach Rebellin aus. Und was ist vom Italiener Dario Farelli (Riccardo Scamarcio) zu halten, der sich unkritisch und jovial bei Angstrom anbiedert. Die literaturliebende Sekretärin Rose-Marie (Sara Giraudeau) erfüllt devot die unmenschlichen Anweisungen Angstroms. Wie die Übersetzer im Gespräch untereinander, diskutiert auch der Film über Schundliteratur und den Buchmarkt. Hat „Daedalus" Anleihen bei Proust und Joyce oder ist es nur ein trivialer Krimi?

„Das Rätsel" hat ein reizvolles internationales Ensemble mit Olga Kurylenko („Black Widow", „James Bond: Ein Quantum Trost"), Lambert Wilson („Matrix Resurrections", „Benedetta"), Sidse Babett Knudsen (TV-Serie „Borgen", Dan Browns „Inferno"), Riccardo Scamarcio („John Wick 2", „Im Rausch der Sterne"), Alex Lawther („The Last Duel", „The French Dispatch") und der deutschen Schauspielerin Anna Maria Sturm („Wackersdorf", „Beste Chance").

Die „Whodunit"-Frage nach dem Verräter ist nur eine Ebene dieses Krimis mit einigen Rätseln und noch mehr Überraschungen: Auf einer Schiene erzählt Angstrom selbst aus einem Besuchszimmer im Gefängnis und wir sehen nicht, mit welchem Gegenüber er spricht. Und dann gibt es auch noch die fast schon vergessene brennende Buchhandlung der ersten Szene. Für das Publikum werden Hinweise ausgestreut. Hier eine angebrannte Kopie von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", dort eine Erwähnung von Agatha Christies „Mord im Orient-Express". So wird „Das Rätsel" zum komplexen Krimi im Stil von „Ocean's 11" mit ein wenig Hochspannung vor dem Hintergrund der Literatur-Diskussion um Kunst oder Kommerz. Der interessante Regisseur und Koautor Régis Roinsard („Mademoiselle Populaire", „Warten auf Bojangles") hat seine Geschichte so raffiniert verschachtelt, dass es manchmal unübersichtlich wird, aber immer packend bleibt.

22.5.23

Renfield

USA 2023, Regie: Chris McKay, mit Nicholas Hoult, Nicolas Cage, Awkwafina, 94 Min., FSK: ab 16

„Renfield" bringt Bram Stokers klassischen Dracula-Stoff als deftige Horrorkomödie, in der Nicolas Cage den Fürst der Finsternis mit vielen spitzen Zähnen wieder grandios trashig spielen darf. Draculas im wahrsten Sinne „abhängig" beschäftigter Diener Renfield versucht mit Hilfe einer Selbsthilfegruppe, den bissigen Boss loszuwerden.

„Dracula" erzählt aus der Perspektive von dessen Diener und Essens-Lieferant Renfield, der im New Orleans von heute eine Selbsthilfegruppe für abhängige Beziehungen aufsucht. Während die anderen berichten, wie sie die Partner, die sie aussaugen, nicht loswerden, verklausuliert Renfield seine „toxic relationship" mit dem Herrscher der Dunkelheit. Ein erster positiver Effekt, quasi ein Beifang der Sitzungen, sind die narzisstischen Übeltäter, von denen er hier hört. Renfield liefert sie als Frisch-Fleisch und -Blut bei seinem Chef ab und löst gleichzeitig einige Beziehungsprobleme. Derweil lungert dieser als lebendige Leiche in sehr schlechtem Zustand in einer Bruchbude rum. Die letzte Begegnung mit dem Vampir-Jäger Van Helsing und zu viel Sonnenlicht sind ihm schlecht bekommen.

Es ist herrlich komisch, wie die Beschreibungen der ungleichen Beziehungen auf das jahrhundertelange ungute Verhältnis zwischen Renfield und dem Über-Narzissten Dracula zutreffen. Richtig überzeugt, endlich für sich selbst einzustehen, wird Renfield erst, als er auf die ruppige Streifenpolizistin Rebecca (Awkwafina) trifft. Mitten in einem Drogenkrieg, den er mit seiner Mahlzeit-Wahl lostrat, kämpft sie als einziger unbestechlicher Cop auf der gleichen Seite. Sie will endlich den Drogenboss und Mörder ihres Vaters der Gerechtigkeit zuführen. Das führt zu flott inszenierter und recht heftiger Action, bei der Gliedmaßen und Köpfe abgerissen werden sowie reichlich Blut spritzt. Denn Renfield ist dank Dracula nicht nur auch unsterblich, er hat immer, wenn er Käfer isst, selbst ein paar Vampir-Superkräfte.

Das liefert „Renfield" eine gute Dosis deftiger Kampfszenen, wobei der Humor immer die Oberhand behält. Auch Nicolas Cage („Leaving Las Vegas", „Ghost Rider"), an dessen unterschiedlich schlechten Zuständen seines Dracula sich die Maske ausgiebig auslebt, gibt einen eindrucksvollen Fürst der Finsternis, der in der Übertreibung immer wieder mal zur Witzfigur kippen kann. Renfield ist dagegen der einfältige Underdog mit dem Herzen am richtigen Fleck, der von der Polizistin Rebecca lernt, für sich selbst und andere einzustehen. Rebecca selbst, mit hoher Stimme wild schreiend und fluchend, wird mit dem komödiantisch großartigen Einsatz von Schauspielerin und Musikerin Awkwafina („Shang-Chi and the Legend of the Ten Rings", „The Farewell") zur dritten Hauptfigur.

Regisseur Chris McKay („The Lego Batman Movie", „The Tomorrow War") gelingt ein blutiger Spaß mit einer Menge herrlich alberner Wendungen in der Handlung. Dazu viel Spielfreude und fertig ist die sehr unterhaltsame Perle unter vielen schrottigen Remake-Konzepten.

16.5.23

Living - Einmal wirklich leben

Großbritannien, Japan, Schweden 2022, Regie: Oliver Hermanus, mit Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, 103 Min., FSK: ab 6

Bill Nighy brilliert in einer Paraderolle als englischer Gentleman, der sich angesichts des nahen Todes für das Leben öffnet. Frei nach Akira Kurosawas Filmklassiker „Ikiru" schrieb der japanisch-britische Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro („Was vom Tage übrig blieb", „Alles, was wir geben mussten") das Drehbuch für diese zutiefst bewegende Geschichte.

Mit dem Neuling Peter Wakeling (Alex Sharp) nähern wir uns einem extrem verstaubten und steifen Schreibbüro. Den enormen Respekt vor dessen Vorsitzendem Mister Williams (Bill Nighy) erfahren wir schon im morgendlichen Pendlerzug: Die Mitarbeiter fahren zusammen, aber sprechen den abgesonderten Chef niemals an. Im Großbritannien der 1950er-Jahre treten alle uniformiert in Streifenanzug und Melone auf. Auch im engen Amtszimmer wagt niemand ohne Aufforderung von Mister Williams zu sprechen. Doch heute verlässt die Respektsperson seinen erhöhten Platz überraschend vorzeitig. Er sagt keinem, dass er zum Arzt muss, wo er erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat.

Zuhause, wo die Schwiegertochter ihn nicht leiden kann und den Sohn dauernd rumkommandiert, erzählt der alte Mann niemandem von seinem bevorstehenden Tod. Am nächsten Morgen reist er zum Seebad Bournemouth und stürzt sich in dessen hedonistische Vergnügungen der Bars und Spielhallen. Erstmals deutet er sein Schicksal einem Fremden an, dem er die Schlaftabletten gibt, mit denen er sich eigentlich umbringen wollte. Der ehemals stocksteife Mister Williams geht aus sich heraus, betrunken singt er ein schottisches Lied im Angedenken seiner verstorbenen Frau. Doch auch sein lebenslustiger Begleiter (Tom Burke) gewinnt großen Respekt, als er am blutigen Taschentuch sieht, wie ernst es mit dem bevorstehenden Tod ist. Die Strip-Party wird zum schalen Hintergrund.

Zurück in London trifft Rodney Williams zufällig die junge, ehemalige Mitarbeiterin Margaret Harris (Aimee Lou Wood), lädt sie schick zum Essen ein und lacht erstmals. Am nächsten Tag geht er wieder zur Arbeit und wirbelt die Bürokratie auf, um den ewig verschleppten Vorgang eines Kinderspielplatzes in einem sozialen Brennpunkt endlich umzusetzen.

Mister Williams ist der typische Engländer, den der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro als Kind bestaunt hatte, als er von Japan kommend nach Großbritannien zog. Immer formvollendet, aber nicht wirklich lebendig. Von der jungen Mitarbeiterin erfährt der Bürovorsitzende schmerzlich seinen Spitznamen: Mister Zombie. Ishiguro wandelt die Geschichte des japanischen Kommunalbeamten aus „Ikiru" leicht ab, sehenswert bleibt das Porträt eines stillen Mannes, der seinem Leben spät einen neuen Sinn gibt. Ebenso zurückhaltend wie die sehr sorgfältige Inszenierung der historischen Bilder und der kitsch-freie Umgang mit Emotionen spielt Bill Nighy seine dankenswerte Rolle, mit der er für einen Oscar nominiert wurde. Er verkörpert die stilvolle Noblesse vergangener Zeiten, die strenge Regel, eigene Befindlichkeiten nicht wichtig zu nehmen. Auch der Ausbruch, die Veränderung kommen mit einem dezenten Lächeln aus und berühren so umso mehr.

Die Linie

Schweiz, Frankreich, Belgien 2022 (La Ligne) Regie: Ursula Meier, mit Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, 103 Min., FSK: ab 12

Ein heftiger Wutausbruch bestimmt die ersten Minuten in Zeitlupe zu stiller klassischer Musik: Die 35-jährige Margaret (Stéphanie Blanchoud) attackiert ihre Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi), kann erst von drei Männern gebändigt und aus dem rausgeschmissen werden. Ein Richter verhängt ein Kontaktverbot für drei Monate. Margaret darf nicht näher als hundert Meter ans Haus ihrer Mutter. Um an der Grenze weiterhin von der Exilierten Gesangsunterricht zu erhalten, markiert die zwölfjährige Schwester Marion (Elli Spagnolo) daraufhin mit blauer Farbe den Bannkreis. Das hundert Meter lange Band wird dabei von der Mutter gehalten - eine verlängerte Nabelschnur.

Margaret bleibt selbst mit einer tiefen Wunde im Gesicht weiterhin aggressiv und übergriffig, verständnislos für die Folgen ihrer Taten. Scheinbar war sie in der Vergangenheit schon öfter gewalttätig und hat Narben von Prügeleien. Doch auch die Mutter ist nicht ohne: Sie mäkelt ständig an der jüngsten Tochter herum und lässt sie für ein paar Tage allein, um mit einem neuen, jungen Lover Urlaub zu machen. Im Verlauf des Films erweist sich Christina als die Unerträgliche. Die ehemals erfolgreiche Pianistin wirft ihren Töchtern theatralisch vor, sie hätte für sie die Karriere opfern müssen. Und jetzt hätte ihr Margaret mit dem Gewaltausbruch auch noch das Gehör zerstört. Bei jeder Gelegenheit muss die unreife Frau im Zentrum stehen.

Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier gelingt es wieder, heftige Emotionen in eine klar definierte Raumordnung zu bringen. In „Home" durchschnitt eine Autobahn das Familienleben, in „Winterdieb" trennte ein Skilift arm und reich. Die geniale Idee der Linie bringt nun die emotionale Distanz dieser Familie konkret und sinnbildlich in den Raum. Jeden Tag taucht Margaret an einem Kieshügel außerhalb des Bannkreises auf. Marion setzt die Gesangstunden mit der ausgestoßenen Schwester in der Kälte des Winters fort, obwohl diese an Asthma leidet. Die Kleine ist eigentlicher Dreh- und Angelpunkt, sie sucht Vermittlung zwischen den beiden extremen Charakteren und schließlich verzweifelt Zuflucht im Gottesglauben. Zu Weihnachten treffen sich die Schwestern an der Grenze, aber später wird Blut auf die Linie tropfen. Nur Christina beobachtet alles aus sicherer Entfernung. Dann nähert sich das Ende des Kontaktverbots ...

„Die Linie" ist ein packendes, intensiv gespieltes Familiendrama, das einfache Erklärungen ausspart. Das Dysfunktionale dieser Mutter-Tochter-Beziehung zeigt sich in den getrennten Porträts der beiden Frauen. Der Star Valeria Bruni Tedeschi glänzt als überspannte Egomanin. Stéphanie Blanchoud, die Darstellerin der Margaret, schrieb nicht nur das Drehbuch zusammen mit der Regisseurin. Auch die Musik komponierte sie, unter anderem mit dem bekannten Chansonier Benjamin Biolay, der im Film Margarets Ex-Partner spielt.