4.10.25

Zweigstelle

Deutsche Bürokratie ist die Hölle – aber was wäre, wenn auch der Himmel piefig deutsch und bürokratisch arbeiten würde? Julius Grimm unterhält in seinem Langfilmdebüt, der Komödie „Zweigstelle", mit vielen netten und schrägen Ideen.

Resis Trennungsgesprächs-Übung mit ihrer Freundin war ziemlich überflüssig, denn Beziehungspartner Michi Wagner kommt ihr mit der Offenlegung eines tödlichen Tumors zuvor. Drei Jahre später ist Resi (Sarah Mahita) genau da, wo sie auf keinen Fall sein wollte. Auf dem Dorf als Teil des bäuerlichen Familienbetriebs Wagner. Aber endlich frei, denn Michi (Julian Gutmann) ist inzwischen gestorben. Es bleibt nur noch ein letzter Wunsch: seine Asche oben auf einem Berg zu verstreuen – gegen den Willen seiner Eltern. Und so geht es komödiantisch weiter: Die Urne kippt um und die Überreste werden mit dem Handstaubsauger aufgesaugt. Nach dem Diebstahl eines Plastikbeutels voller Überreste ihres ehemaligen Verlobten starten vier Freunde ins übliche Roadmovie, um den letzten Wunsch zu erfüllen. Am Steuer dieser illegalen Aktion sitzt die Polizistin Sophie (Nhung Hong). Bis zur nächsten Kreuzung, an der ein Laster und ein alberner Unfall dem Film eine neue Richtung geben ...

Den vier Freunden dämmert langsam, dass die verstaubte bayerische Bürokratie, in der sie in Feinripp-Unterwäsche stehen, die „Zweigstelle Süddeutschland", die Vorstufe von Himmel oder Hölle ist. Am sehr menschlichen Empfang gibt es überarbeitete Engel, Bürokratinnen im Woll-Kostümchen und sehr viele Regeln. Die Einrichtung ist irgendwie in den Sechzigern steckengeblieben – nicht nur ästhetisch mit Pastellgelb und -grün zwischen der Holzvertäfelung, sondern auch vom Servicecharakter her. Obwohl hier die Erfahrung einer Ewigkeit vorliegen sollte, funktioniert nicht viel: Der Automat für Bearbeitungsnummern ist bei 999.999 ans Ende seiner Zahlen gekommen und wird unendlich langsam von Hand zurückgedreht. Mel (Beritan Bali), die gerade wiederbelebt wird, verschwindet immer wieder aus dem Amt. Das Nichts als Zielort für alle Ungläubigen befindet sich hinter einer der vielen Türen der Bürogänge, ist aber gerade defekt. Dafür wird hier sehr auf den korrekten Gebrauch des Genitivs geachtet und „von dem Genitiv" sofort korrigiert.

Auch wenn wir uns eigentlich schon in der Hölle der deutschen Bürokratie befinden, geht es um die Weiterleitung der Seele, nachdem der Glaube geprüft wurde. „Das Nichts" droht allen, die an nichts geglaubt haben. Dabei reicht es, an den Film „In einem Land vor unserer Zeit" zu glauben. Philipps Behauptung, Buddhist zu sein, wird in der Unterabteilung mit dem defekten Drucker bald als Lüge enttarnt. Während Resi auf ihre Bearbeitungsnummer 0 wartet, bewirbt sie sich derweil als Praktikantin beim netten Hausmeister Rainer Bock, immer mit einem Auge auf den Schlüsselbund, der vielleicht zu einem guten Ausgang führt. Mit seinem goldenen Kugelschreiber bewirkt er kleine Wunder.

„Zweigstelle" erzählt eine nette Geschichte und begeistert mit einem Feuerwerk schräger Ideen. Das Drehbuch von Regisseur Julius Grimm und Koautor Fabian Krebs besticht durch einen skurrilen Humor, wie man ihn eher in skandinavischen oder niederländischen Filmen sieht, in deutschen jedoch selten. Als Maßstab wäre Wes Anderson für dieses Langfilmdebüt nach einigen Kurzfilmen allerdings zu hoch gegriffen, auch wenn die Ausstattungslinie gelungen ist. Irgendwie geht es um Resis Entscheidung zwischen einem aufopferungsvollen Leben und Selbsterfüllung. Resi wollte und will nur ihr eigenes Leben leben. Allzu tiefe Erkenntnisse liefert das nicht. Dafür ist alles gut inszeniert und gespielt und zudem unterhaltsam flott geschnitten. Generell muss man tolerieren, dass der Dialekt sehr bayerisch ist und die Handlung allein im katholischen Denksystem funktioniert.

Rick Kavanian („Der Schuh des Manitu") als Bestattungsunternehmer zeigt, wo der mal alberne, mal skurrile Humor einzuordnen ist. Diese „Zweigstelle" macht viel Spaß, weil den Machern in schneller Folge immer wieder etwas Witziges und Originelles eingefallen ist. Im Schauspielteam sind Kabarettisten wie Maximilian Schafroth oder Luise Kinseher. Rainer Bock, den man aus „Karla" als einfühlsamen Richter kennt, spielt hier einen freundlichen und hilfsbereiten Hausmeister der Himmels-Bürokratie. Dazu gibt es Live-Musik der komödiantischen Italo-Band „Roy Biancho & Die Abbrunzati Boys".

Zweigstelle
(Deutschland 2025), Regie: Julius Grimm, mit Sarah Mahita, Nhung Hong, David Ali Rashed, 98 Minuten, FSK: ab 6

30.9.25

Karla

Bei einem Sommerausflug der Familie nutzt die zwölfjährige Karla das Versteckspiel, um wegzulaufen. Damit will sie das Verstecken des Missbrauchs durch den Vater beenden. Inspiriert von einem wahren Fall erzählt das feinfühlige und bewegende Drama „Karla" vom kaum vorstellbaren Kampf eines Mädchens um Gerechtigkeit und ein gutes Leben.

Mitten in einer Nacht des Jahres 1962 steht das stille, aber entschlossene Mädchen Karla Ebel (Elise Krieps) in einem Polizeirevier und verlangt, den Richter zu sprechen. Sie zeigt ihren eigenen Vater wegen Vergewaltigung an. Ihr Wissen über die Rechtssituation und sogar den Wortlaut der Paragrafen hat sie in der Bibliothek erworben. Karla fragt zudem, ob Artikel 2 des Grundgesetzes – „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" – auch für Kinder gilt. Glücklicherweise landet der Fall bei dem verständnisvollen Richter Lamy (Rainer Bock), der zwar gutwillig, aber überarbeitet ist. Seine Sekretärin Erika Steinberg (Imogen Kogge) muss ihm erst zureden, damit er sich um diesen bis dahin einmaligen Fall kümmert. Sie macht dem verschlossenen Einzelgänger klar, dass es für Karla um ihre Würde geht. Und sie zitiert die Dichterin Mascha Kaléko: „Man braucht nur eine Insel allein im weiten Meer. Man braucht nur einen Menschen, den aber sehr."

So machen sich die beiden Geschundenen auf den schwierigen gemeinsamen Weg, eine Anklageschrift zu erstellen. Eine Situation, die noch heute unvorstellbar fordernd ist, ganz zu schweigen von den Sechzigern im schwarz-konservativen Deutschland Adenauers. Die Anzeige wurde damals ohne Anwesenheit einer Frau oder psychologischer Betreuung aufgenommen. Nach dem ersten Gespräch mit Lamy kommt Karla in einem von Nonnen geleiteten Heim unter und freundet sich mit einem Mädchen an, das früher als Prostituierte gearbeitet hat. Die Erinnerungen kommen im Büro des Richters und im Film nur ganz zögerlich zurück. Karla übergibt sich, wenn sie an die Vergewaltigungen denkt. Daraufhin gibt Lamy ihr eine Stimmgabel, die sie in den Momenten einsetzen soll, in denen sie nicht sprechen kann. Gleichzeitig stellt das aufbegehrende, vergewaltigte Kind mit seinem Verlangen nach Gehör und Ehrlichkeit das Rechtssystem auf die Probe.

Filmisch bleibt dieses Langfilmdebüt der Deutsch-Griechin Christina Tournatzés ebenfalls meist zurückhaltend und verzichtet beispielsweise fast ganz auf Musik. Dafür wirken die seltenen, expressiveren Stilmittel umso stärker und bauen von Anfang an Spannung auf. Einmal legt der Vater Karla nahe, sich im See umzubringen, was die vielen Bilder unter Wasser nachträglich erklärt. Ansonsten besticht die dezente Kameraarbeit des ausgezeichneten Florian Emmerich mit gedeckten, dunklen Farben. Im Interview erzählte die Regisseurin, dass sie ihren Film „ganz aus Karlas Perspektive – und immer auf Augenhöhe mit ihr" gestaltet hat.

Dass „Karla" sein schwieriges Thema auf derart sensible Weise meistert, liegt auch am fesselnden Spiel der Debütantin Elise Krieps, sichtbar die Tochter von Wiebke Krieps („Der seidene Faden" 2017, „Bergman Island" 2021, „Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste" 2023). Sie verkörpert Karla mit einer stillen Kraft, die besonders intensiv wirkt, wenn sie nichts sagt, nichts sagen kann. Rainer Bock beeindruckt als verständnisvoller Richter. Seine eindrucksvolle Figur zeigt, wie sich ein Mann ohne spezifische psychologische Ausbildung von Empathie leiten lassen kann. Imogen Kogge unterstützt als resolute Sekretärin mit tragischer KZ-Geschichte den Kampf um Gerechtigkeit.

Der letzte Teil ist dann als Epilog der spannenden emotionalen Abläufe ein Gerichtsfilm, in dem das Offensichtliche von allen Zeugen, von Täter, Mutter und Brüdern geleugnet und verschwiegen wird. „Karla" erinnert wegen des großen Schrittes für die Gerechtigkeit an „Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) über den ersten Auschwitz-Prozess unter Staatsanwalt Fritz Bauer. Auch bei „Karla" erinnert erst der Abspann an das unfassbare Ausmaß der Verbrechen. Bei Vergewaltigungen von Minderjährigen wird geschätzt, dass noch heute jedes fünfte Kind Opfer wird.

„Karla"
(Deutschland 2025), Regie: Christina Tournatzés, mit Elise Krieps, Rainer Bock, Imogen Kogge, 104 Minuten, FSK: ab 12

29.9.25

Nur für einen Tag

„Wenn du singst, vergesse ich meine Sorgen", trällert der Automechaniker Raphaël (Bastien Bouillon) seiner Jugendliebe Cécile auf der Eisbahn zu. Aus den Boxen erklingt das Chanson Femme Like U von K.Maro. Vielleicht hören aber auch nur die beiden diese Musik für ihr romantisches Duett auf der Eislauffläche. Denn „Nur für einen Tag" ist eines dieser wunderbaren Filmmusicals, in denen Menschen unvermittelt zu singen beginnen. Meist, wenn sie nicht mehr wissen, was sie sagen sollen.

Cécile (Juliette Armanet) weiß wirklich nicht weiter: Nach ihrem großen Erfolg in einer nationalen Fernsehkochshow fehlt der Gourmetköchin für ihr bald zu eröffnendes Restaurant in Paris noch das durchschlagende Rezept, das „Signature Dish". Aus ihrem erdrückenden Dauerstress kann sie ihr Freund Sofiane (Tewfik Jallab) nur mit einer lebensfrohen Tanzeinlage zu „Alors on danse" von Stromae befreien. Dabei ist Cécile die geborene Köchin: Aufgewachsen in der provinziellen Fernfahrer-Gaststätte ihrer Eltern, heißt sogar ihr alter Hund Bocuse nach dem berühmten Sternekoch. Doch nun muss sie „nur für einen Tag" in das Nest ihrer Kindheit zurückkehren, weil ihr Vater Gérard (François Rollin) auch nach dem dritten Herzinfarkt die Küche nicht verlassen will. Zudem ist die junge Frau schwanger und hat ihrem Partner Sofiane nichts von der bevorstehenden Abtreibung erzählt. Da passt es perfekt, dass kurz nach ihrer Rückkehr und dem ersten Streit mit dem Vater Céciles Jugendliebe Raphaël (Bastien Bouillon) auftaucht und es noch deutlich spürbar zwischen beiden knistert. Aus dem geplanten Kurzbesuch wird eine wilde Reise in die Vergangenheit ihrer Teenagerzeit.

„Nur für einen Tag" ist selbstverständlich nicht der erste Film, der große Lebensentscheidungen mit einem Rückblick auf scheinbar freiere Zeiten verbindet. Das wunderschön leichte Filmmusical ist jedoch etwas Besonderes, weil es einem Geheimnis von Céciles Familie folgt. Vater Gérard, der seiner Tochter kritisch jeden frechen Spruch aus der Fernsehshow gegen die einfache Küche vorhält, versöhnt sich schließlich mit dem einfachsten Rezept fürs Glück seit früher Kindheit: Er taucht einen Zuckerwürfel in Kaffee, bevor er knackend im Mund verschwindet. So könnte man auch das Rezept für diesen wunderbaren Film beschreiben: schwierige Lebenssituationen mit bitter-süßen Chansons vermischen und einen spontanen Schuss Glück verspüren. Bewundernswert ist die scheinbare Leichtigkeit, mit welcher der Film gleich mehrere schwere Entscheidungen jongliert.

Mit Klassikern und modernen Hits setzt „Nur für einen Tag" die lange und schöne Tradition französischer Filmmusicals fort. Allerdings ist er alltäglicher als die Werke von Altmeister Jacques Demy („Die Regenschirme von Cherbourg", 1964) oder die rührenden Playbacks von Alain Resnais in „Das Leben ist ein Chanson" (1997). Und eben nicht im Stil von „La La Land" (2016) mit perfekter Choreografie, sondern scheinbar mitten aus dem Leben wird hier gesungen. (Zuletzt gab es auch noch den Drogen- und Trans-Thriller „Emilia Pérez" von Jacques Audiard.)

Wie es sich für das Musical gehört, brechen Musik und Bewegung – beginnend mit dem Tanz zu Stromae – immer wieder unvermittelt in den Film ein. Dabei hüpft und tanzt das Herz mit. Neben dem wunderbaren Schauspiel auf hohem Niveau von allen Hauptfiguren machen auch die selbst gesungenen Musikeinlagen den Film unbedingt sehenswert. Herrlich, wenn Juliette Armanet als Cécile mit tiefer Stimme den Sprechgesang von Alain Delon bei „Parole, Parole, Parole" gibt und ihre Filmmutter, die legendäre Dominique Blanc, den Part von Dalida singt. Im kongenialen Zusammenspiel von Handlung und Songs macht das letzte Lied, der Titelsong „Partir un jour", beim gänzlich offenen Ende deutlich, dass Cécile nun mit sich im Reinen ist – was auch immer passieren wird.

„Nur für einen Tag" war dieses Jahr Eröffnungsfilm des Filmfestivals von Cannes und der erste Debütfilm überhaupt, dem diese Ehre zuteilwurde. Allerdings ist Regisseurin und Drehbuchautorin Amélie Bonnin keineswegs Debütantin. Sie inszenierte diese Geschichte bereits in einem Kurzfilm, der 2023 bei den Césars als „Bester Kurzfilm" ausgezeichnet wurde. Zudem war sie als Illustratorin und Musikvideo-Regisseurin tätig. Die mit Natürlichkeit gewinnende Hauptdarstellerin, die französische Musikerin Juliette Armanet, ist erfolgreich im französischen Pop unterwegs. Sie hatte einen spektakulären Auftritt bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris, als sie auf einem Boot die Seine hinabfuhr, vor einem brennenden Klavier stand und John Lennons „Imagine" sang.

„Nur für einen Tag"
(Frankreich 2025), Regie: Amélie Bonnin, mit Juliette Armanet, Bastien Bouillon, François Rollin, 96 Minuten, FSK: ab 12

20.9.25

Maria Reiche

Die Deutschperuanerin Maria Reiche restaurierte in den 1930er Jahren die sagenhaften Nazca-Linien in der peruanischen Wüste und rettete sie so vor dem Verfall. Ihre faszinierende Biografie verbindet die Einzigartigkeit dieses Kulturphänomens mit dem Porträt einer unabhängigen Frau.

Zu den fantastischen Nazca-Linien, den sogenannten Scharrbildern, gehören unweigerlich eindrucksvoll weite Landschaften. Wie bei „Lawrence von Arabien" schimmert auch bei „Maria Reiche" eine Figur am flirrenden Horizont. Doch diesmal nähert sich kein stolzer Scheich, sondern eine Frau, die in der Wüste Staub fegt. Eine grandiose erste Szene!

Von dort geht es zurück in ein dunkles Klassenzimmer, in dem die Dresdnerin Maria Reiche (Devrim Lingnau) von ihren Schülern genervt ist. Im Gegensatz zu ihrer mondänen, US-amerikanischen Freundin Amy (Olivia Ross), die in Lima in der 30er Jahre ein Caféhaus betreibt, sind der stets schlicht gekleideten Aushilfslehrerin gesellschaftliche Abende ein Graus. Sie spricht gut Spanisch, Englisch und Französisch und nimmt das Angebot des Archäologen Paul D'Harcourt (Guillaume Gallienne), die Aufzeichnungen eines deutschen Kollegen zu übersetzen, spontan an. Vor Ort in der Wüste bei Nazca sieht Maria Reiche eine ewig lange Linie am Boden: Kieselsteine wurden zur Seite geschoben und gaben die weiße Gipsschicht frei. Die Frau, die Mathematik, Physik und Geografie studiert hat, ist direkt fasziniert. Nichts hält sie von nun an davon ab, allein in der Wüste zu forschen. Sie campt in der Nähe von Einheimischen und läuft Tag für Tag den langen Linien nach. Fotos von kleinen Hügeln und einer wackeligen Leiter vermitteln nur einen ungefähren Eindruck von den riesigen, in den Staub gezeichneten Figuren von Kolibris, Affen oder Spinnen. Es wird schnell klar, dass diese Phänomene durch einen Menschen eigentlich nicht fassbar sind. Unermüdlich versucht Maria Reiche, das Jahrtausende alte Menschheitsrätsel zu entschlüsseln. Die Besessene sagt Paul, dass die Figuren restauriert werden müssen, stößt aber auf Desinteresse. Also kauft sie drei Besen und fegt eigenhändig eine erste Spirale und dann weitere Figuren frei. Als ein lokaler Großfarmer die Linien zerstört, um Baumwolle anzubauen, kämpft sie, bis das peruanische Parlament für den Erhalt seines kulturellen Erbes stimmt.

Die zwischen 200 v. Chr. und 600 n. Chr. von der indigenen Nazca-Kultur erschaffenen Geoglyphen wurden 1994 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. In der Region im Südosten von Peru existieren mehr als 1500 dieser Bilder. Ihre Wiederentdeckung ist auch die Geschichte einer beinahe verlorenen, durch den Kolonialismus zerstörten einheimischen Kultur. Die Biografie ihrer Wiederentdeckerin, der deutsch-peruanischen Altamerikanistin Reiche, ist eher unspektakulär. Es gibt keine Fieberträume mit Peyote und animierten Nazca-Wesen. Doch der Film ist darstellerisch und fotografisch sehr gut in Szene gesetzt. In der Hauptrolle brilliert European Shooting Star Devrim Lingnau, bekannt aus der Netflix-Serie „Die Kaiserin". Sie spielt eine getriebene Einzelgängerin, die in der Wüste ihre Bestimmung findet. Aber auch in den Wahnsinn abzudriften droht. Da passt es, dass „Lady Nazca", so der englische Titel, mehr als 40 Jahre in einer Hütte am Rande der Wüste bei „ihren" Linien verbrachte und sich letztlich auch neben ihnen begraben ließ.

Tatsächlich waren einige Dinge anders als die Film-Biografie „Maria Reiche" zusammenfasst. So ließ sich die Forscherin – bereits im Auftrag eines amerikanischen Historikers – an die Kufen eines Hubschraubers binden, um erste Luftaufnahmen der Figuren zu machen. Weitergehende Beziehungen zu Frauen werden nur angedeutet. Doch auch wenn nicht alle Details stimmen, spricht etwas anderes für eine besondere Authentizität: Regisseur und Autor Damien Dorsaz hat Maria Reiche zwei Jahre vor ihrem Tod im Jahr 1998 noch persönlich getroffen und bereits 2006 den Dokumentarfilm „Maria Reiche, la Dame de Nasca" gedreht.

(Deutschland 2025), Regie: Damien Dorsaz, mit Devrim Lingnau, Olivia Ross, Guillaume Gallienne, 99 Min., FSK: ab 6

11.9.25

Demon Slayer: Kimetsu no Yaiba Infinity Castle

„Demon Slayer" basiert auf der ab 2016 erschienenen, 23-bändigen Manga-Serie von Koyoharu Gotōge und ist seit dem Start der Verfilmungen im Jahr 2019 als TV- und Kinoserie ein weltweites Phänomen. „Demon Slayer: Kimetsu no Yaiba – Infinity Train", der erste Teil einer Trilogie, die als Manga bereits abgeschlossen ist, brach im Juli beim Kinostart in Japan alle Rekorde. Wie sein Vorgänger „Demon Slayer: Kimetsu no Yaiba: Mugen Train", der 2020 den romantisch-fantastischen Anime „Your Name" und alle Trickfilme des Studio Ghibli von der Spitze verdrängte.

Die Geschichte dreht sich um den gutherzigen jungen Köhler Tanjirō Kamado, dessen gesamte Familie im Japan der Taisho-Ära von einem blutrünstigen Dämon getötet wird. Nur seine kleine Schwester Nezuko überlebt, verwandelt in eines dieser vampirartigen Monster. Über mehrere Erzählungen schließt sich Tanjiro den Dämonenjägern an, um die Ungeheuer zu bekämpfen. Jetzt geht es gegen den Oberdämon Muzan dort weiter, wo die vierte Staffel endete. Im freien Fall durch das Hauptquartier des Bösen, das Infinity Castle, eine architektonisch faszinierende Mischung aus Escher und Piranesi.

Die animierte Erzählung folgt einer simplen Struktur aus blutigen Schwertkämpfen und ist technisch exzellent umgesetzt. Es ist ein Abfeiern all dieser Superhelden und -Schurken in ausufernden Duellen der traumatisierten Überlebenden gegen die Oberdämonen. Die Überlänge von 155 Minuten ist für alle anderen als die Hardcore-Fans schwer erträglich, da sich der Film an die Abfolge der TV-Serien hält. Der Film unterbricht die Action immer wieder mit Backstorys um die persönlichen Entscheidungen der Figuren zwischen Gut und Böse und ist daher erzählerisch überdehnt. Ein völlig freilaufendes Zwischenspiel, das keine ernsthaften Mühen unternimmt, um Außenstehende in das geschlossene Universum hereinzulassen. Er ist sogar schlimmer als die berüchtigten zweiten Teile von Filmfinalen wie „Harry Potter" oder „Herr der Ringe".

Dabei ist die Kombination aus Handzeichnungen und Computeranimation trotz der typischen, auf expressive Mimik reduzierten Gesichtszüge faszinierend. Vor allem die aufwendigen Welten um die Figuren herum sind ein großes Sehvergnügen.

„Demon Slayer: Kimetsu no Yaiba Infinity Castle" (Japan 2025) Regie: Haruo Sotozaki, 155 Min., FSK: ab 16

9.9.25

Superkräfte mit Köpfchen

„Superkräfte mit Köpfchen" begeistert nicht nur als toller Kinderfilm aus den Niederlanden, die in diesem Genre herausragen. Er ist auch die filmische Fortsetzung der großartigen, gleichnamigen Buchidee von Autor und (Cameo-) Darsteller Wouter de Jong. Weil Lev seit einem Unfall hinkt, fühlt er sich in der Schule unsicher und wird zu Hause von seinen extrem überfürsorglichen Eltern eingeengt. Er flüchtet sich in Tagträume, in denen ihm der Superheld Healix (was im Englischen wie „heilen" klingt) gegen den mit Schnodder schießenden Schurken Snotman (Regisseur Dylan Haegens) und das Mobbing der Mitschüler hilft. Erst der Besuch seiner wilden, angstfreien Oma gibt Lev die Chance, am „Superkräfte Catwalk-Wettbewerb" der niederländischen „Comic Con" teilzunehmen und dort vielleicht die anonyme Gamerin Supermeis kennenzulernen.

Oma rülpst, fährt Motorrad mit Beiwagen, lügt und trickst. Vor allem hat sie sich geschworen, alles zu tun, wovor sie Angst hat. Den biederen Schwiegersohn, der bei einer Versicherung Risikoanalysen betreibt, warnt sie: „Das Risiko für ein unglückliches Leben liegt bei 100 Prozent!" Auch für Lev hat sie eine Lebensweisheit parat: „Wenn du dich weniger schämen willst, musst du einfach etwas sehr Unangenehmes machen. Dann merkst du, dass jeder sowieso mit sich selbst beschäftigt ist."

Der Familienfilm „Superkräfte mit Köpfchen" erfreut nicht nur mit comic-artigem Spaß. Im berührenden Finale entdeckt Lev, dass seine Superkraft darin liegt, zu sagen, was er wirklich fühlt. Und die ganze Comic-Messe folgt ihm darin. Die Buchvorlage stammt vom Multitalent Wouter de Jong, der bei der Comic Con kurz in der Rolle des männlichen Supermeis zu sehen ist. Er nahm bereits eine Platte mit niederländischen ABBA-Songs für Kinder auf. Und schrieb eben dieses „Mind Gym", die „mentale Sportschule für Kinder", die für ihre Übungen zum Umgang mit Gefühlen wie Angst, Traurigkeit und Ärger sehr gelobt wurde. Ein Beispiel liest man im Vorspann: „Wenn du während des Films nicht aufs Handy kuckst, bekommst du heute Abend dein Lieblingsessen. Wenn deine Eltern aufs Handy schauen, müssen sie dir zweimal das Lieblingsessen machen!" Auf humorvolle, liebenswerte und leicht zugängliche Weise wird emotionale Widerstandskraft eingeübt und die begleitenden Eltern lernen loszulassen.

„Superkräfte mit Köpfchen" (Superkrachten voor je hoofd, Niederlande 2024), Regie: Dylan Haegens, mit Finn Vogels, Elise Schaap, Joke Tjalsma, 92 Min., FSK: ab 6.

Willkommen um zu bleiben

„You can check in any time, but you can never leave" (Du kannst jederzeit einchecken, aber du kommst nie mehr raus), diese rätselhafte Zeile aus dem Eagles-Klassiker „Hotel California" bringt das absurde und mysteriöse Drama „Willkommen um zu bleiben" auf den Punkt: Ein Magier (Crispin Glover) checkt zwischen zwei Auftritten in einem viktorianischen Hotel ein. Die einäugige Rezeptionistin mit dem blaffenden Boxer wirkt schon seltsam. Dann versteckt sich auch noch Personal in dem grau-bräunlichen Zimmer. Am nächsten Morgen kann der Magier den Ausgang aus einem Labyrinth aus Gängen – siehe „Brazil" oder „Severance" – nicht mehr finden. Stattdessen schlüpft eine Blaskapelle aus den Lüftungsschächten und drängt ihn in andere Zimmer mit schillernden Figuren und Gesellschaften. In der Suite der Gaga genannten, Zigarre rauchenden Dame (Sunnyi Melles) erwartet ihn Dinner und Modenschau. Fionnula Flanagan spielt eine elegante Gesellschaftsdame. Der Flame Sam Louwyck gibt einen geheimnisvollen Verfolger und Anführer des Pöbels. Wieder draußen, treibt es den Magier in eine riesige Küche, die einen rasanten Karriereaufstieg in die Schaumschlägerabteilung als Ausweg anbietet.

Der Originaltitel „Mr. K" verweist ganz eindeutig auf Kafkas Figur Herr K. Kafkaesk ist vieles in diesem Film. Je mehr sich das Hotel mit tropfender Textiltapete, eigenwilligen Rohren und Lichtern zu einem lebendigen Organismus wandelt, desto mystischer wird es. Dass die Wände immer näher rücken und das Zimmer von Flüchtlingen belebt wird, könnte eine gesellschaftspolitische Aussage sein. Doch die von Tykwers Kameramann Frank Griebe wunderbar in Szene gesetzte Absurdität verliert sich im aussichtslosen Chaos. Das liegt auch daran, dass unter all den kuriosen Figuren kein Charakter mehr ist, der Crispin Glovers Magier als Gegenspieler gegenübertreten könnte. Die Hauptrolle steht Glover jedoch sehr gut, der als treudoofer General in „Alice im Wunderland" und als allmächtiger Gegenspieler in „American Gods" zu sehen war. Großartige Gesichter des europäischen Kinos wie Sunnyi Melles („Triangle of Sadness"), Fionnula Flanagan („The Others") und Sam Louwyck („Bullhead") erinnern an ähnlich verrückte Werke der 80er Jahre wie „Delicatessen" von Marc Caro und Jean-Pierre Jeunet oder „Der Illusionist" von Freek de Jonge.

„Willkommen um zu bleiben"
(Belgien, Finnland, Niederlande, Norwegen 2024) Regie: Tallulah Hazekamp Schwab, mit Crispin Glover, Sunnyi Melles, Fionnula Flanagan, 96 Min., FSK: ab 12.

31.8.25

Tafiti - Ab durch die Wüste

Das deutsche Volk

Am Abend des 19. Februar 2020 tötete ein Neonazi in Hanau neun junge Menschen aus rassistischen Gründen. Über vier Jahre begleitete Regisseur Marcin Wierzchowski danach einige Angehörige der Opfer und beginnt seine teilweise erschütternde Dokumentation emotional und intelligent. Er lässt spüren, was Rassismus bedeutet, klagt institutionelle Diskriminierung und politische Ignoranz an. Es ist schauerlich, wenn Überlebende, die sich im Nachhinein die Überwachungsvideos anschauen, die Morde an ihren Freunden beschreiben. In diesen Schilderungen klingt schnell das Verhalten der Polizei und der Rettungskräfte seltsam. Ein Notausgang war versperrt, der Notruf war nicht besetzt, die Spezialkräfte waren scheinbar von Rechtsextremen durchsetzt und Sanitäter brachten sich hinter einer Trage mit einem Opfer in Sicherheit. Nach der Tat dauerte es den Verwandten viel zu lange, bis sie Klarheit über den Zustand ihrer Kinder oder Geschwister erhielten. Und dann die Diskussion über den Standort des Mahnmals zum Massaker: Die Angehörigen wollen es auf dem Marktplatz neben dem Denkmal der berühmten Hanauer Gebrüder Grimm sehen. Die Politiker meinen jedoch, dafür keine Zustimmung in der Bevölkerung gehört zu haben.

„Das deutsche Volk", benannt in Anlehnung an die Inschrift im Grimm-Denkmal, lässt anfangs die Opfer aufleben und macht aus Statistiken wieder Menschen. Zudem liefert die Dokumentation ein eindrucksvolles Beispiel zivilgesellschaftlichen Handelns, wenn einige der Angehörigen unter dem Hashtag „SayTheirNames" aktiv werden und eigene kriminologische Untersuchungen anstellen. Die Schwarzweiß-Ästhetik vermittelt Ernsthaftigkeit. „Das deutsche Volk" ist aber vor allem deshalb gut, weil dem Regisseur mit enormer Offenheit begegnet wird. Einerseits ist es positiv, dass der Fokus bei den Opfern bleibt. Andererseits scheinen in dieser Konstruktion alle anderen Schuld zu haben, nur der Täter nicht. Generell wären trotz der überwältigenden Ansammlung unglaublicher staatlicher Vorgehensweisen die Meinungen der Gegenseite interessant gewesen. Im Verlauf des über zweistündigen Films verwässert er seinen politischen Ansatz durch die sehr detaillierte Beobachtung der Trauer- und Verarbeitungsprozesse.

(Deutschland 2025) Regie: Marcin Wierzchowski, 138 Min., FSK: ab 6.