14.8.25

Willkommen um zu bleiben

„You can check in any time, but you can never leave" (Du kannst jederzeit einchecken, aber du kommst nie mehr raus), diese rätselhafte Zeile aus dem Eagles-Klassiker „Hotel California" bringt das absurde und mysteriöse Drama „Willkommen um zu bleiben" auf den Punkt: Ein Magier (Crispin Glover) checkt zwischen zwei Auftritten in einem viktorianischen Hotel ein. Die einäugige Rezeptionistin mit dem blaffenden Boxer wirkt schon seltsam. Dann versteckt sich auch noch Personal in dem grau-bräunlichen Zimmer. Am nächsten Morgen kann der Magier den Ausgang aus einem Labyrinth aus Gängen – siehe „Brazil" oder „Severance" – nicht mehr finden. Stattdessen schlüpft eine Blaskapelle aus den Lüftungsschächten und drängt ihn in andere Zimmer mit schillernden Figuren und Gesellschaften. In der Suite der Gaga genannten, Zigarre rauchenden Dame (Sunnyi Melles) erwartet ihn Dinner und Modenschau. Fionnula Flanagan spielt eine elegante Gesellschaftsdame. Der Flame Sam Louwyck gibt einen geheimnisvollen Verfolger und Anführer des Pöbels. Wieder draußen, treibt es den Magier in eine riesige Küche, die einen rasanten Karriereaufstieg in die Schaumschlägerabteilung als Ausweg anbietet.

Der Originaltitel „Mr. K" verweist ganz eindeutig auf Kafkas Figur Herr K. Kafkaesk ist vieles in diesem Film. Je mehr sich das Hotel mit tropfender Textiltapete, eigenwilligen Rohren und Lichtern zu einem lebendigen Organismus wandelt, desto mystischer wird es. Dass die Wände immer näher rücken und das Zimmer von Flüchtlingen belebt wird, könnte eine gesellschaftspolitische Aussage sein. Doch die von Tykwers Kameramann Frank Griebe wunderbar in Szene gesetzte Absurdität verliert sich im aussichtslosen Chaos. Das liegt auch daran, dass unter all den kuriosen Figuren kein Charakter mehr ist, der Crispin Glovers Magier als Gegenspieler gegenübertreten könnte. Die Hauptrolle steht Glover jedoch sehr gut, der als treudoofer General in „Alice im Wunderland" und als allmächtiger Gegenspieler in „American Gods" zu sehen war. Großartige Gesichter des europäischen Kinos wie Sunnyi Melles („Triangle of Sadness"), Fionnula Flanagan („The Others") und Sam Louwyck („Bullhead") erinnern an ähnlich verrückte Werke der 80er Jahre wie „Delicatessen" von Marc Caro und Jean-Pierre Jeunet oder „Der Illusionist" von Freek de Jonge.

„Willkommen um zu bleiben"
(Belgien, Finnland, Niederlande, Norwegen 2024) Regie: Tallulah Hazekamp Schwab, mit Crispin Glover, Sunnyi Melles, Fionnula Flanagan, 96 Min., FSK: ab 12.

25.7.25

Oxana - Mein Leben für Freiheit

Die fiktionale Biografie der Femen-Mitgründerin Oxana Schatschko (1987-2018) blickt vom Todestag der Künstlerin und Aktivistin am 23. Juli 2018 zurück auf ein sehr bewegtes Leben. Mit viel Wut im angewiderten Blick antwortet die Ukrainerin auf eine lange Liste von Ungerechtigkeiten gegen Frauen. Sie ist eine Künstlerin, die gut mit dem Malen von Ikonen verdient. Doch der Mann der Kirche zahlt weniger als vereinbart. Ihr alkoholkranker Vater fackelt das Häuschen der Familie ab. Kein Einzelfall, wie der Austausch mit anderen Studentinnen zeigt. In Kiew richtet sich ihr Protest mit traditionellem Blumenkranz auf dem Kopf gegen die Prostitution in der Ukraine. Ein historischer Moment ist erreicht, als Oxana als Erste der entstehenden Femen-Bewegung ihre Brüste zeigt, um die Aufmerksamkeit der Journalisten zu bekommen.

Danach wird der Kampf gegen patriarchale Strukturen immer wieder auf den Spruch „Unsere Brüste, unsere Waffen" verkürzt. Allerdings nehmen die Frauen auch Prügel und Folter im Kampf gegen Wahlmanipulationen in Russland und Belarus in Kauf. Mit gebrochenen Armen erhält Oxana Asyl in Frankreich. Dies könnte symbolisch für die Blockade ihrer Kreativität und den Verlust an Eingriffsmöglichkeiten sein. Mit der internationalen Ausbreitung von Femen ergibt sich ein Streit um die Führung. Die sensible Kreative – „Femen in Paris ist eine Mode" – bleibt im fremden Land auf sich allein gestellt.

Trotz der ansprechenden Darstellung von Albina Korzh als Oxana, der man den kecken, rebellischen Blick, die Verletzlichkeit ebenso wie die Melancholie am Ende glaubt, kann die Biografie nicht überzeugen. Der Film ist fortwährend und umständlich bemüht, die Persönlichkeit der politischen Ikone zu definieren. Ein verfilmtes Manifest, das verpasst, eine starke eigenständige und dynamische Geschichte zu erzählen. Das interessante und eine Weile lang erfolgreiche Konzept des Widerstands mit nackten Brüsten wird pflichtgemäß durchdiskutiert. Oxanas Kunst, bei der sie Ikonen in feministische Statements verwandelt, indem sie Maria mit einer Burka oder Jesus in sexuellen Kontexten malt, ist nur am Rande zu sehen.

„Oxana - Mein Leben für Freiheit"
(Frankreich, Ukraine, Ungarn 2024) Regie: Charlène Favier, mit lbina Korzh, Maryna Koshkina, Lada Korovai, 104 Min., FSK: ab 16.

18.7.25

Vermiglio


Im verschneiten Trentiner Bergdorf Vermiglio scheint die Zeit stillzustehen. Der strenge Dorflehrer Cesare Graziadei (Tommaso Ragno) begeistert seine Zöglinge, die bei Wind und Wetter zur Dorfschule ziehen, mit anspruchsvoller Literatur sowie Grammophonaufnahmen von Chopin und Vivaldi. Den großen Krieg bemerkt man nur durch die Abwesenheit der jungen Männer. Der Rhythmus der Jahreszeiten wird 1944 gestört von der Ankunft zweier Deserteure: Der Sizilianer Pietro Riso (Giuseppe De Domenico) trägt Cesares Neffe Attilio (Santiago Fondevila Sancet) ins Dorf. Bald verliebt sich die älteste Tochter Lucia (Martina Scrinzi) in den stillen Fremden. Da er die heimlich ausgetauschten Liebesbriefe nicht lesen kann, gesellt sich Pietro in die Erwachsenenklasse von Cesare. Mit ihren Schwestern Ada und Flavia teilt Lucia das Bett und ihre Geheimnisse. Doch auch der strenge Vater verheimlicht etwas in seinem Studierzimmer, in das er sich immer wieder einschließt.

„Vermiglio" ist eine betörend schöne Liebesgeschichte mit einem dramatischen Ende, das die Triebfeder dieses fesselnden Familien- und Dorfporträts ist. Neben dem Drama um Lucia wird die Vernachlässigung der anderen Tochter, die ebenfalls gerne zur weiterführenden Schule gehen möchte, und des ältesten Sohnes, der als Versager abgestempelt leben muss, unter einem Mantel des Schweigens gehalten. Regisseurin Maura Delpero, die mit „Vermiglio" ihre persönliche Geschichte mit ethnografischer Genauigkeit und filmischer Zärtlichkeit umsetzte, stammt aus diesem Bergdorf. Sie wurde durch einen Traum mit ihrem kürzlich verstorbenen Vater zu dem Film inspiriert und nennt ihn „eine Seelenlandschaft, ein Familienlexikon, das in mir lebt, an der Schwelle zum Unbewussten".

Die überaus berührende Geschichte mit atemberaubenden Bildern und einer intensiven, authentischen Atmosphäre zieht den Zuschauer in eine abgelegene Welt hinein, in eine vergangene Zeit, die selbst zeitlos scheint. Maura Delperos zweiter Spielfilm erhielt beim Filmfestival Venedig einen Silbernen Löwen und wurde mit sieben Auszeichnungen zum großen Sieger der italienischen Filmpreise 2025. Delpero ist die erste Frau, die den Preis für die beste Regie gewann, und die dritte Preisträgerin überhaupt in der Kategorie „Bester Film". Auch ihr Originaldrehbuch bekam die höchste Auszeichnung. Ebenfalls prämiert wurde das Sounddesign (Dana Farzanehpour, Hervé Guyader, Emmanuel de Boisseau), dem das Kunststück gelingt, Stille hörbar zu machen.

„Vermiglio"
(Italien, Frankreich, Belgien 2024) Regie: Maura Delpero, mit Tommaso Ragno, Martina Scrinzi, Giuseppe De Domenico, 119 Min., FSK: ab 12.

9.7.25

Chaos und Stille

Die Frau, die auf dem Flachdach eines Hochhauses erwacht, ist Klara Hermann (Sabine Timoteo). Aus diffusen Gründen hat sie beschlossen, der Gesellschaft den Rücken zu kehren. Versonnen sitzt die ehemalige Vermieterin nun über den Dingen, scheint sich schweigend in einen Guru zu verwandeln und wird von den Bewohnern ihrer Wohnungen mit Essen versorgt. Dann macht das Foto auf der Titelseite der Zeitung Klara zum Objekt der Beobachtung und bald stehen selbsternannte Jünger unten auf der Straße. Wutbürger („Sie muss weg!") stellen sich den Esoterikern entgegen, welche die Finger als Zeichen des Schweigens vor dem Mund kreuzen. Klaras persönliche Verweigerung entwickelt sich zu einem gesellschaftlichen Phänomen, bis der erste Nachfolger vom Dach stürzt und man die selige Aussteigerin in die Psychiatrie einweist.

Dieses außergewöhnliche Ereignis wird vom jungen Komponisten Jean (Anton von Lucke) beobachtet und berichtet. Seine Frau Helena (Maria Spanring) ist Pianistin und gerade Mutter geworden. Jean arbeitet an neuer Musik und befragt dafür gehörlose Schüler zum Thema Stille – eine poetische Verschränkung der Handlungsstränge. Zwischen utopischer Verträumtheit und Gesellschaftskritik wandelt sich Klaras leere Wohnung zur freien Musikschule. Die Geburt einer Utopie, die schnell von der Ökonomie eingeholt wird.

Anatol Schusters reizvoll verspielter Film mit märchenhaftem Ende erforscht Stille konkret und als Metapher für Aufmerksamkeit und Menschlichkeit. Das ruhige Werk des Vierzigers ist durchflochten von Gedanken zur Situation der Musik und der Kultur in der heutigen Gesellschaft. Sabine Timoteo („Der freie Wille") verkörpert diese „aus der Welt gefallene" Figur mit ihrer typischen Präsenz, die gerade durch Zurückhaltung besticht. Ihr verschmitztes Lächeln, als sie spontan mit ihrem Chef schläft und danach kündigt, deutet bereits die folgende radikale Transformation an. So zeigt sich der humorvolle und poetische „Chaos und Stille" selbst als das Neue, das die Figuren im Film fordern.

„Chaos und Stille"
(Deutschland 2024) Regie: Anatol Schuster mit Sabine Timoteo, Anton von Lucke, Maria Spanring, 83 Min. FSK: ab 12

Black Tea

„Black Tea" folgt der jungen Ivorerin Aya (Nina Mélo), die sich am Hochzeitstag gegen ihren untreuen Verlobten entscheidet und in der südchinesischen Millionenstadt Guangzhou im afrikanischen Viertel „Chocolate City" ein neues Leben beginnt. Zwischen all den Händlern, für die der Friseursalon ein sozialer Treffpunkt ist, lernt Aya mit ihrem Chef Caï (Han Chang) die Geheimnisse der Teezeremonie kennen. Das persönliche Kennenlernen ist, wie einst in „Chocolat" mit Juliette Binoche, geprägt von sinnlichen Momenten: der Berührung einer handschmeichelnden Teekanne, dem Duft der Blätter, dem rituellen Genuss des Getränks. Wenn sich der Blick auf einer weiten Teeplantage in den Hügeln öffnet, deutet der scheue Caï sogar ein Liebesgeständnis an. Entgegen den Erwartungen werden die zarten Knospen der Annäherung nicht von kulturellen Differenzen gekappt – erst in den letzten zwanzig Minuten taucht ein rassistischer Schwiegervater auf. Es ist Caï mit einer ganzen Menge alter Beziehungsbaustellen und einer unbekannten Tochter auf den Kapverden, der zukunftszugewandten Frauen im Wege steht.

Der schöne Sprung mit Aya von den Straßen Abidschans, der Stadt an der Elfenbeinküste, nach Guangzhou zu Nina Simones Zeilen „It's a new day, it's a new dawn" („Ein neuer Tag, ein neuer Morgen" in einer Coverversion von „Feeling Good" durch Fatoumata Diawara in der westafrikanischen Sprache Bambara) lässt die Hoffnung dieser und anderer Frauen spüren. Migration und Integration sind hier keine Probleme, sondern neue Chancen und eine Öffnung zur Welt. Die romantische Begegnung ereignet sich vor dem Hintergrund eines großen kulturellen Austauschs entlang der „Neuen Seidenstraße", den wir in unserer europäischen Fixierung auf imaginäre Einwanderungsprobleme überhaupt nicht wahrnehmen. Der mauretanische Regisseur Abderrahmane Sissako, der mit seinem großartigen, aber aufgrund islamistischer Gewalt schwer erträglichen Film „Timbuktu" (2014) auf internationalen Festivals gefeiert wurde, erzählt nun eine zarte, stille und kunstvoll inszenierte Liebesgeschichte.

„Black Tea"
(Frankreich, Mauretanien, Luxemburg, Taiwan, Elfenbeinküste 2024) Regie: Abderrahmane Sissako, mit Nina Mélo, Chang Han, Wu Ke-Xi, 111 Min., FSK: ab 6.

Copa 71

Agent of Happiness

Die beglückende Dokumentation rund um die Politik des Bruttonationalglücks (BNG) in Bhutan überzeugt durch ihre Mischung aus filmischer Fernreise, Humor und Nachdenklichkeit. Zwei „Agenten des Glücks" bereisen mit Fragebögen bewaffnet die abgelegensten Winkel der bhutanischen Himalaya-Täler, um das subjektive Wohlbefinden der Bevölkerung zu erfassen. Diese Praxis bildet die Grundlage des Konzepts des Bruttonationalglücks, das es nur in Bhutan gibt.

148 Fragen in neun Kategorien ergründen die Anzahl der Kühe oder Esel, das Vertrauen in die Nachbarn, aber auch Schlaf, Konzentration und Wut. Zwar wird der daraus resultierende Glücksindex von 1 bis 10 bei jeder Person eingeblendet, doch schnell wird klar, dass es um mehr geht. „Agent of Happiness" konzentriert sich auf die befragten Menschen. Da ist Dechen Selden, Transvestit einer Varieté-Show, der sich auf der Glücksskala sehr depressiv fühlt und erstaunlich offenherzige Gespräche mit seiner Mutter führt. Oder die junge Frau, die ihre kleinere Schwester aufzieht und unter ihrer alkoholkranken Mutter leidet. In seiner Einfachheit rührend der Witwer, der in seiner Einsamkeit über hundert hohe, weiße Gebetsfahnen aufstellte und im Schlussbild glücklich mit seinem neu geborenen Enkel zu sehen ist. Komisch wirkt der alte Architekt (Glückslevel: 10), der mit drei Frauen zusammenlebt. Diese sagen zunächst nichts, machen sich aber später untereinander aufschlussreich über ihn lustig.

Titelheld ist jedoch der romantische Vierziger Amber, der sich zwischen den Befragungen als „Agent des Glücks" sehr pragmatisch mit Partnersuche beschäftigt. Er gehört zu den nicht registrierten Einwanderern aus dem von politischen Unruhen und Naturkatastrophen erschütterten Nepal, bittet seit Jahrzehnten um Staatsangehörigkeit. Er gibt ein TikTok-Tänzchen für die Frau, die er datet, aber die ohne ihn nach Australien fliegt. Die Gespräche der beiden „Agenten", der kleine Amber und sein langer Kollege, kippen oft ins Komische, wenn sie in ihrem orangefarbenen Kleinwagen durch die eindrucksvolle Landschaft reisen. Doch „Agent of Happiness" beschert vor allem wunderschöne Porträts in Bild und Erzählung – von interessanten Menschen und dem Land Bhutan an sich. So beginnt man unweigerlich, über die Bedeutung von Glück nachzudenken, ohne dass der thematisch wie handwerklich gelungene Film selbst Antworten liefert.

„Agent of Happiness"
(Bhutan, Ungarn 2024) Regie: Arun Bhattarai, Dorottya Zurbó, mit Amber Gurung, Yangka, Dechen Selden, 97 Min., FSK: ab 6.

25.5.25

Die Vorkosterinnen

 

Kurz nachdem die junge Rosa Sauer (Elisa Schlott) im November 1943 aus dem zerbombten Berlin bei ihren Schwiegereltern in Ostpreußen angekommen ist, wird sie zusammen mit anderen hungernden Frauen ahnungslos von der SS verschleppt. In einem hochgesicherten Komplex können sie sich an einem gut gedeckten Tisch satt essen. Doch die Freude schlägt schnell in Entsetzen um, als sie erfahren, dass sie Vorkosterinnen für Hitler in seinem Versteck „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ sind. Zunächst wird Rosa von ihren Leidensgenossinnen als feine Berlinerin verspottet. Doch als auch ihr Mann an der Ostfront vermisst wird, entstehen Freundschaften und Geheimnisse werden geteilt. Rosa selbst hat eine Affäre mit dem gefürchteten SS-Obersturmführer Albert Ziegler (Max Riemelt).

 

Das Historiendrama „Die Vorkosterinnen“ wurde vom italienischen Regisseur Silvio Soldini („Brot und Tulpen“) mit deutschsprachiger Besetzung gedreht. Es basiert auf dem italienischen Roman „Le Assaggiatrici“ von Rosella Postorino (bisher nicht auf Deutsch erschienen). Die Autorin ließ sich von der Biografie der Margot Woelk (1917 - 2014) inspirieren, die erst im Alter von 95 Jahren enthüllte, dass sie zur Gruppe der Vorkosterinnen gehörte, die ab 1942 Hitlers Essen vorkosteten.

 

Die vielen Themen - von Terrorherrschaft über Abtreibung und Verführung durch grausame Machtmenschen bis zur Judenverfolgung - bleiben in der interessanten Geschichte trotz guten Spiels vor allem von Elisa Schlott („Das Boot“) oberflächlich. Zudem raubt ein unglücklicher Schnitt mit Schwarzblenden der Dramaturgie Intensität. Ein generelles Unbehagen an Stoffen, die sich Terrorherrschaften über scheinbar unschuldige Nebenfiguren nähern, beschwört auch diese subjektive Erzählung herauf. Eine ähnliche Perspektive wie die von Hitlers Sekretärin in „Der Untergang“ bleibt weit hinter einem heutigen Verständnis wie in „The Zone of Interest“ (über das Privatleben des Auschwitz-Kommandanten Höß) zurück.

 

„Die Vorkosterinnen“

(Italien, Belgien, Schweiz 2025) Regie: Silvio Soldini, mit Elisa Schlott, Max Riemelt, Alma Hasun, 123 Min., FSK: ab 12.

10.5.25

Caught by the Tides

Der international gefeierte chinesische Regisseur Jia Zhang-Ke kehrt vier Jahre nach seinem letzten Spielfilm mit einem Remix von zum Teil 20 Jahre altem Filmmaterial ins Kino zurück. Die lose Handlung um seine Lieblingsschauspielerin und Ehefrau Zhao Tao zeigt vor allem dokumentarisch den rasanten Wandel Chinas.

Bereits Jia Zhang-Kes Debütfilm „Pickpocket" wurde mehrfach ausgezeichnet, 2006 gewann „Still Life" den Goldenen Löwen in Venedig und 2013 wurde „A Touch of Sin" in Cannes für das beste Drehbuch prämiert. „Caught by the Tides" zeigt nun Zhao Tao als Qiao mit „Resten" aus den letzten beiden Filmen als Sängerin in ihrem Heimatdorf, bei der Begegnung mit Bin (Zhubin Li) und auf der Suche nach ihm rund um die Arbeiten am Drei-Schluchten-Damm, dem größten Stausee der Welt. Im dritten, neu gedrehten und deutlich von Corona beeinflussten Teil kehrt Bin zurück.

Diese fragmentarische Handlung bleibt schon deshalb nebensächlich, weil Qiao nie ein Wort spricht. Auffälliger sind die Musiknummern aus chinesischem Rock, traditionellen Liedern und Popsongs verschiedener Epochen, darunter eine Coverversion von „Dschingis Khan". Der Drei-Schluchten-Damm oder Feiern rund um die Vergabe der Olympischen Spiele an Beijing stellen historische Eckpunkte dieser zwei Jahrzehnte dar. Die Entwicklung wird in poetischen Momenten verdichtet, wie die lange Zeitlupenfahrt von der Rikscha zum modernen Auto.

„Caught by the Tides" ist eines jener filmischen Langzeitprojekte, die trotz fiktionalen Kerns immer stark dokumentarisch sind. Vergleichbar mit Richard Linklaters „Before..."-Trilogie oder seinem „Boyhood", der seinen Protagonisten 12 Jahre lang begleitet. Faszinierend, weil man der Zeit bei der Arbeit in den Gesichtern zusieht. Stückwerk ist Jia Zhang-kes Remix aus altem Spielfilmmaterial und dokumentarischen Szenen für Fans seiner Filme reizvoll und in der realen Alterung der Darsteller sogar anrührend, interessant als Dokument eines rasanten Wandels in China, aber nur bruchstückhaft als Geschichte einer resilienten Frau im Strom der Zeit.

„Caught by the Tides" (China 2024) Regie: Jia Zhang-Ke, mit Zhao Tao, Zhubin Li, Pan Jianlin, 111 Min., FSK: ab 12.

7.5.25

Kein Tier. So wild.

„Ein Königreich für meinen Jaguar"

Fünf Jahre nach seiner furiosen Adaption von „Berlin Alexanderplatz" begeistert der Berliner Regisseur Burhan Qurbani erneut. Jetzt mit seiner Version von William Shakespeares Königsdrama „Richard III" um kriminelle Clans in der Hauptstadt und die eiskalte, gnadenlose Rashida York als Hauptfigur. Die Inszenierung ist ein filmisches Erdbeben, das grandiose Spiel von Kenda Hmeidan als Rashida eine atemberaubende Entdeckung.

„Und so schaff' ich die Hölle, die eure Welt mir ohnehin schon ist"

Mit dem Ruf „Freiheit" beginnt vor Gericht die Handlung um die Anwältin Rashida York (Kenda Hmeidan). Die jüngste Tochter der Familie verteidigt ihren Bruder Imad York (Mehdi Nebbou) gegen den Lancaster-Clan. Dann beobachtet sie lächelnd von einem Balkon aus, wie ihre in schwarze Gewänder gehüllte Frauenbande die beiden Anführer der Lancasters ersticht. Das ist der Sieg nach jahrelangem Kampf, aber diese Frau will mehr, gegen alle Regeln. „Betrogen durch Geburt um jeden Vorteil, verformt, unfertig", bespuckt sie sich im Spiegel, während sie ihre Brüste befühlt. Nicht die Missgestalt von Richards Körper ist hier die Behinderung als Grundlage von Wut und Hass, es ist der weibliche Körper an sich. Eine Frau zu sein, sei in dieser Gesellschaft wie eine Behinderung. Im Aufbegehren dagegen beginnt Rashida ihre Mordserie: Erst stirbt der naive junge Bruder Ghazi (Camill Jammal), dann der Clanchef Imad. Im Kampf mit dessen Frau Elisabet Müller-York (Verena Altenberger) müssen die beiden Neffen dran glauben. Rashida, die als Kind mit ansehen musste, wie ihr Dorf von Kampffliegern bombardiert wurde, lässt der Kindermord kalt. Sie wird zur oft zitierten „Sonne Yorks", nur eine der vielen reizvollen Reibungen mit Shakespeares Vorlage.

Es sind immer noch die Familien York und Lancaster, wie schon im 16. Jahrhundert beim Königsdrama „Richard III", das auf dem historischen „Rosenkrieg" (1455 bis 1485) in England basiert. Allerdings wird der Schauplatz durch Off-Kommentare aus dem Fernsehen nach Berlin verlegt: Auf der Baustelle einer Moschee verhandelt der Clan Rashidas ungewollte Heirat mit Ali Lancaster. Später wird der Hintergrund immer abstrakter, zu einer Seelenlandschaft: vom Feldlager in einem riesigen Zelt auf Sandboden bis zu nebligen Traumlandschaften wie beim Hexensabbat in Roman Polanskis Film „Macbeth" (1971). Doch das sagenhafte Schauspiel zieht einen immer wieder in seinen Bann. Der sensationelle Film kommt ohne ausufernde Schießereien, Verfolgungsjagden und dergleichen aus, allein die Kraft der Worte und des Ausdrucks machen „Kein Tier. So wild" allein hochspannend. Das Drehbuch nach Shakespeares Vorlage haben Enis Maci und Qubani eng am Originaltext und dennoch zeitgemäß deftig geschrieben. Neben Kenda Hmeidan, die in der Hauptrolle fast schon tyrannisch dominiert, begeistert Weltstar Hiam Abbass („Die syrische Braut") als Rashidas treuergebene Ziehmutter und mit Rasierklinge die mörderischste Gefährtin.

Dazu starke Bilder, wie ein See aus Blut um Rashida, die einem den Atem rauben. „Kein Tier. So wild." ist eine Mischung aus den realistischen Gesellschaftsdramen eines Rainer Werner Fassbinder und den Historienepen eines Pier Paolo Pasolini. Das Können von Regisseur und Co-Autor Burhan Qurbani ist tatsächlich so groß, dass man ihn neben solche Namen stellen kann. Der Ausruf „Wir sind hier keine Bittsteller mehr" bringt die durchgehend klare Aussage zum Stand der Integration in Deutschland auf den Punkt. Wobei Burhan Qurbani dies über den gesamten Film hinweg differenziert darstellt. Sonst könnte man sich ohne „Kein Tier. So wild." gesehen zu haben, fälschlicherweise darüber aufregen, dass nur arabische Clanmitglieder zu sehen sind. Mit dem herrlichen Witz, dass auch die „Kartoffeln" namens Müller zum Clan gehören: Elisabet Müller-York.

Die gebrochene Figur des Richard hat schon immer fasziniert, auch das Kino: 1955 spielte ihn die britische Theater- und Filmlegende Laurence Olivier in seiner eigenen Inszenierung. Unvergessen ist auch Ian McKellens Interpretation von 1995 unter der Regie von Richard Loncraine. Dieser verlegte das Drama in ein England der 1930er Jahre voller Neonazis. 1996 drehte Al Pacino den Dokumentar- und Erklärfilm „Looking for Richard" über Shakespeares Hit. Und natürlich ist er auch auf deutschen Bühnen ein Dauerbrenner, man denke nur an Thomas Ostermeiers Version an der Berliner Schaubühne mit Lars Eidinger in der Titelrolle.

Nun also Burhan Qurbani, der bereits 2013 mit dem packenden und aufrüttelnden Spielfilm Wir sind jung. Wir sind stark." begeisterte. In einer grandiosen Inszenierung rekonstruierte er die dramatischen Tage von Rostock-Lichtenhagen, als 1992 ein rechter Mob ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter belagerte. Ein historischer Sündenfall der neuen, wiedervereinigten Bundesrepublik. In „Berlin Alexanderplatz" zeigte Qurbani 2020 den „Untergang eines Mannes, der gut sein wollte", also die Geschichte von Döblins Franz Biberkopf, der jetzt Francis B. heißt und Bootsflüchtling aus Afrika ist. Der Regisseur machte aus Döblins innovativem Roman der 20er Jahre (1929) ein zeitgemäßes, kraftvolles Drama mit eigener Bildsprache. „Berlin Alexanderplatz" war beim Deutschen Filmpreis 2020 für 11 Lolas nominiert und gewann fünf davon. Burhan lebt und arbeitet in Berlin, dem Drehort von „Kein Tier. So wild."

„Kein Tier. So wild." (Deutschland/Frankreich/Polen 2024), Regie: Kenda Hmeidan, Verena Altenberger, Hiam Abbass 142 Min., FSK: ab 16.