28.2.17

Silence

USA, Taiwan, Mexiko, 2016 Regie: Martin Scorsese mit Andrew Garfield, Adam Driver, Liam Neeson, Tadanobu Asano 162 Min. FSK: ab 12

Martin Scorsese bekam „Schweigen", den Roman des katholisch japanischen Schriftstellers Shûsaku Endô, 1988 in die Hände, nach seinem Film „Die letzte Versuchung Christi". Fast drei Jahrzehnte lang arbeitete der italienisch-stämmige Katholik an diesem Projekt und es ist sicher kein Zufall, dass der Film nun in Zeiten des Wiederaufkommens religiösen Wahns an die Öffentlichkeit kommt. Man kann sich eine Stunde lang aufregen über die portugiesischen Missionare, die sich nicht anders verhalten als heutzutage Salafisten in Deutschland. Die werden ja auch nicht freundlich aufgenommen. Die Jesuiten Sebastião Rodrigues (Spider-Man Andrew Garfield) und Francisco Garupe („Paterson" Adam Driver) lassen sich 1638 in das hermetisch abgeschlossene Japan schmuggeln, um dem Verbleib des legendären Priesters Pater Ferreira (Liam Neeson) nachzuforschen. Und es scheint, als wenn die armen japanischen Bauern und Fischer nichts sehnlicher brauchen als endlich mal wieder eine anständige Beichte. Die selbstverständlich streng verfolgt wird: Priester werden verbrüht, Gläubige verbrannt und geköpft. Da ist der gemeine Japaner nicht zimperlich. Damit ist man aber schon reingefallen auf die selbstverständlich verzerrte Erzähl-Perspektive der engstirnigen Gottesmänner.

In seinen überraschenden und intensiven Entwicklungen lässt Scorsese Pater Rodrigues nicht mit der Versuchung kämpfen, wie einst Ferreira, unter grausamer seelischer Folter seinem Gott abzuschwören. Die Verführung, der dieser so abschreckend selbstgewisse Gläubige erliegt, liegt darin, dass er die recht einfältigen Schäfchen für sich leiden und sterben lässt. Und sich tatsächlich in einem Wahn, der an Herzog/Kinskis schwüle Tropen-Visionen erinnert, mit Jesus vergleicht. Ebenso ähnelt auch das Gesicht vom unfassbar eindrucksvollen Liam Neeson zu Beginn des Films dem von Willem Dafoe als Jesus in „Die letzte Versuchung Christi".

Vielschichtig in jeder Hinsicht entwickelt sich nicht nur die religiöse Diskussion zwischen dem buddhistischen Inquisitor und Rodrigues. In wunderbaren Bilder und Melodien, mit Topshots und anderen tolle Aufnahmen, die schon Gemälde sind, wird historisch der Beginn der kompletten Abschottung Japans rekonstruiert. Begnadete junge Schauspieler bewegen sich auf den psychologisch komplexen Abwegen der Religionen. Denn selbstverständlich darf in den immer religiös zu interpretierenden Werken Scorseses „Kundun" über den 14. Dalai Lama nicht vergessen werden. Prallvoll mit geistreichen Spitzfindigkeiten und tiefen spirituellen Fragen lässt sich auch „Silence", dessen Titel das Schweigen Gottes meint, längst nicht in einem Blick erfassen. Ein großes, vielschichtiges Kunstwerk, so genial gemacht, dass man fast gläubig werden könnte. Ein Anbetender der Kunst von Martin Scorsese.

Logan

USA 2017 Regie: James Mangold mit Hugh Jackman, Patrick Stewart, Richard E. Grant, Dafne Keen 135 Min.

Nahezu prophetisch kommt das Finale des „X-Men"-Ablegers „Logan" daher: In naher Zukunft versuchen die faschistischen Cyborg-Schergen eines militärisch-pharmazeutischen Komplexes, eine Gruppe verfolgter Kinder nicht nach Kanada fliehen zu lassen. Mit dem erstaunlich zeitgemäß düsteren Ausblick für die USA gibt Hugh Jackman nach „Wolverine" erneut den populärsten Superhelden aus der Spielekiste der X-Men, und verleiht ihm in dem ebenso bewegenden wie eindrucksvollen Spektakel eine enorme Charaktertiefe.

Wir treffen Logan (Jackman) in der Zukunft ganz unten: Gealtert und mit abnehmenden Selbstheilungskräften. So, wie wir Superhelden endlich wieder ertragen können, verletzlich und reuevoll. Voller Alkohol auch gerne, ein paar Pillen gegen die Schmerzen hinterher. Trotzdem kümmert sich Logan, der als Limousinen-Chauffeur arbeitet, weiterhin. Der altersschwache Charles Xavier (Patrick Stewart) kann seine telepathischen Fähigkeiten längst nicht mehr kontrollieren und muss mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Der gemeinsame Ruhestand der ehemaligen Helden in einer düsteren Welt ohne X-Men rückt allerdings in weite Ferne als doch eine junge Mutantin auftaucht. Laura Kinney (Dafne Keen) ist ein gefährliches Mädchen, das wie Wolverine die Krallen ausfährt und mit abgeschnittenen Köpfen kegelt. Ein Naturereignis in Sachen eindrucksvoller Action und faszinierend in der Kombination von mörderischer Verletzlichkeit.

Wie der albern flache Comic-Held Batman in der Graphic Novel „Arkham Asylum: A Serious House on Serious Earth" 1989 als gebrochene Gestalt wiedergeboren wurde, so tauchen auch die fast vergessenen Legenden Wolverine und Charles Xavier in „Logan" aus der Zukunft auf. Er heißt programmatisch auch nicht mehr Wolverine wie in den beiden Filmen „X-Men Origins: Wolverine" und „Wolverine – Der Weg des Kriegers", sondern nimmt wieder seinen ursprünglichen Namen an. Basis sind teilweise die „Old Man Logan"-Comics. Wegen des Superhelden-Krieges zwischen Disney und Marvel dürfen einige Figuren nicht auftauchen, was dem Film nur gut tut.

Wenn sich der Held gleich mit Kind und 90-Jährigem im Rollstuhl auf die „Road" macht, könnte das gewaltig schief gehen. Doch mit hohem Splatter-Faktor und gewaltiger Dystopie-Stimmung besteht niemals Kitsch-Gefahr. „Logan" ist einer der seltenen Boxoffice-Ereignisse, in denen die Figuren-Zeichnung ebenso packend und spannend ausfällt, wie die großartigen Action-Einlagen. Xaviers unkontrollierte telepathischen Anfälle, das „Alzheimer in der Welt gefährlichstem Gehirn", erschüttert das Kino ebenso wie die Verbrechen der Pharma-Industrie an Laura und anderen Kindern. Der Gegenspieler ist dann auch nicht der eiskalte und coole Killer, sondern Richard E. Grant als moderner Dr. Mengele. Als Referenz zu einer noch heilen Welt läuft George Stevens' Western-Klassiker „Mein großer Freund Shane" im Fernsehen, eine Farmer-Familie bietet Unterschlupf, doch das friedliche Leben ist nur ein kurzer Traum mit bitterem Erwachen. So sieht man das Zeitalter der Superhelden im Kino gerne untergehen.

Der junge Karl Marx

Frankreich, BRD, Belgien, 2016 Regie: Raoul Peck mit August Diehl, Stefan Konarske, Vicky Krieps, Olivier Gourmet 118 Min.

„Der junge Karl Marx" müsste eigentlich heißen: „Als das Kommunistische Manifest noch jung war"! Raoul Peck („Haiti: Tödliche Hilfe", „Lumumba - Der Tod des Propheten") ist ein exzellenter Regisseur mit klarer linker Agenda. So beginnt der Film 1843 mit armen Menschen, die im Wald ein paar Äste einsammeln und dafür von berittenen Horden brutal niedergeknüppelt werden. Karl Marx (August Diehl) kommentiert im Off, dass das Volk vor allem das Unrecht der Gesetze, die dies Sammeln als Diebstahl bezeichnen, trifft. Das ist Teil des sozialen Bewusstseins des 26-jährigen Marx (August Diehl), der darüber in der Rheinischen Zeitung schreibt und deswegen im Gefängnis landet. 1844, im Pariser Exil, erhofft er sich mit seiner Frau Jenny (Vicky Krieps) etwas mehr (Presse-) Freiheit und trifft dort den jungen Friedrich Engels (Stefan Konarske). Der ständig klamme Familienvater verachtet den Sohn eines Fabrikbesitzers aus Manchester, der mit Goldknöpfen Kommunismus preist. Aber seine Einsichten in die Lebenssituation des englischen Proletariats sind „kolossal". Einsichten, zu denen Engels auch über seine geliebte kämpferische Irin Mary Burns (Hannah Steele) kommt, die Baumwollspinnerin, die sein Vater entlassen hat.

Einige Zwischen-Szenen vermitteln das Elend des Proletariats, andere die Brutalität seiner Unterdrückung. Wie Karl und Jenny auch aus Frankreich verbannt werden und in Brüssel ärmlich Unterschlupf finden, ist Teil der Geschichte, die etwas holpert. Da treffen die beiden Freunde und Ko-Autoren das Wer-ist-wer der internationalen sozialistischen Bewegung, den angesehenen Franzosen Pierre Proudhon (Olivier Gourmet), den russischen Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin. Man intrigiert, redet vor schäbigen Häuflein von gerade mal zwanzig Leutchen. Doch im Finale greifen die Autoren Marx und Engel zur Tat, kapern eine internationale Bruderschaft und legen mit dem „Kommunistischen Manifest" die Grundlage zum Aufstieg des Kommunismus. Erst der Abspann macht dann die Bedeutung dieser Gedanken bis hin zu den heutigen Banken-Krisen deutlich.

Raoul Peck ist politischer als dieser Film zunächst wirkt und bricht im Vorbeifilmen die philosophischen Diskussionen und Streitereien der linken Vordenker auf dieses Bio-Pic runter. Ein Gefühl für die Zeit kommt bei den vielen Studioaufnahmen nicht wirklich rüber. Zu leicht wirken Briefwechsel, das Schreiben von Artikeln und Büchern ist nur in einer Szene bei Kerzenlicht viel aufwändiger als in computer-unterstützten Zeiten. Hier muss der Film über seine Dialoge wirken und kann das oft vor allem dank des überragenden Spiels von August Diehl. Vicky Krieps stellt daneben packend eine einflussreiche Frau und Mutter dar, wenn es ihnen auch schwer gemacht wird, weil sie ihre Szenen deutsch synchronisieren mussten und das nicht immer gelingt.

22.2.17

A Cure for Wellness

USA, BRD, 2017 Regie: Gore Verbinski mit Dane DeHaan, Mia Goth, Jason Isaacs 146 Min. FSK: ab 16

Bevor Gore Verbinski sich dem „Fluch der Karibik" verschrieb, macht er 2002 mit „Rings", einem J-Horror- Remake, auf sich aufmerksam. Deshalb macht es neugierig, wie der Regisseur auch von „Mäusejagd" (1997) und „The Mexican" (2001) erneut mit dem Horror-Genre spielt: Er schickt den neuen „Spiderman" Dane DeHaan als glatten, selbstsicheren und ehrgeizigen Manager in ein Schweizer Spital. Statt aber den Vorstandsvorsitzenden seiner US-Firma aus dem ‚Wellness-Center' in einem alten Schloss mit dunkler Vergangenheit abzuholen, landet der smarte Lockhart nach einem Unfall selbst in der Klinik. Seine Gesundheit verschlechtert sich bei dieser Kur zusehends, im Stile von „Marathon Man" wird ihm auf den Zahn gefühlt.

Ungewöhnliche Anwendungen und seltsame Patienten irritieren Lockhart und amüsieren das Publikum. Zwischen „Shining", Scorseses „Shutter Island" und „Zauberberg" bleibt es anfangs vor allem rätselhaft, kafkaesk und nur kurz bedrohlich, wenn sich zu viele Aale an den falschen Orten winden. Nach dem rumänischen Zauberberg in „Sacred Hearts" wird dieses Motiv ganz aktuell ein zweites Mal bemüht. Diesmal steckt allerdings nicht zu viel hinter der düster-glänzenden Oberfläche mit Anleihen beim Gothic Horror. Gore Verbinski tobt sich auch mit deutschem Fördergeld ungehemmt aus. Für die Genre-Fans geht es nur kurz im Finale heftig zur Sache. Denn „A Cure for Wellness" sieht von der Dorfkneipe wie aus den Dreißigern mit Rammstein-Beschallung bis zu gekachelten Keller-Verließen vor allem gut aus. Dieser vermeintliche Mystery-Thriller, erneut geschrieben von Verbinskis „Lone Ranger"-Autor Justin Haythe, ist kein reizvolles B-Movie sondern aufwändiges Hollywood. Das sich erlauben kann, mal zweieinhalb lange Stunden bestens ausgestattet Irrwege zu beschreiten.

21.2.17

Lion

Australien, Großbritannien, USA, 2016 Regie: Garth Davis mit Dev Patel, Rooney Mara, Nicole Kidman, David Wenham , Sunny Pawar 120 Min. FSK: ab 12

Der fünfjährige Inder Saroo (Sunny Pawar) ist ein aufgewecktes Kerlchen. Mit seinem älteren Bruder klaut er Kohlen vom Güterwagon während die Mutter im Steinbruch arbeitet. Und er quengelt so lange, bis der Bruder ihn zu einer Bettel- und Sammeltour in einer größeren Stadt mitnimmt. Doch da muss er sich ausschlafen und soll warten, bis der Bruder zurückkehrt. Was nie passiert. Nun irrt der kleine Saroo herum, wird vertrieben und flüchtet in den falschen Zug, der ihn stundenlang bis nach Kalkutta mitnimmt. Ohne dass ihn jemand versteht, ohne dass er seinen Namen, geschweige den von Mutter oder seinem Heimatdorf nennen kann, beginnt eine Odyssee, die mit viel Glück im Waisenhaus endet. Noch mehr Glück hat der Junge, als ihn ein australisches Paar adoptiert.

Die erste Hälfte von „Lion" ist unheimlich intensiv nicht nur durch die herzergreifende Geschichte sondern auch durch die bildgewaltige Inszenierung von indischen Landschaften und Städten. Regisseur Garth Davis zeigt eine enorme Könnerschaft und wunderschön bittere Momente, wenn beispielsweise Saroo vor einem Café sitzt und pantomimisch einen essenden jungen Mann imitiert.

Nach einer wiederum wunderbaren Überblendung erleben wir den erwachsenen Saroo (Dev Patel) in Australien und in einem anderen Film. Nach seinem „Madelaine"-Erlebnis mit einer fritierten indischen Spezialität verfolgen ihn Träume von seiner Mutter, die er immer wieder als kleines Kind am Steinbruch trifft, und von seinem Bruder der ihn Jahr für Jahr, Nacht für Nacht am Bahnhof sucht. Google Earth und seine neuen Kommilitonen ermutigen ihn, eine Suche zu starten, bei der er sich allerdings fast selbst verliert.

Es ist beachtlich, wie dieser Film ohne viele Worte, nur mit seiner sehr gelungenen, mitreißenden Bildsprache auskommt. Ganz selbstverständlich sehen wir ihn in den beiden Welten zwischen denen Saroo zerrissen ist. Allerdings wird das großes Leiden daran nicht ganz verständlich gemacht: Mit zwei wunderbaren Adoptiv-Eltern und einer tollen Freundin, auch materiell ohne Sorgen, ist das Drama des erwachsenen Saroo, wesentlich weniger packend, als das des kleinen Jungen allein in der Millionen-Stadt, wenngleich das Ende mit viel Rührung auftrumpfen kann. Das Schicksal hunderttausender Straßenkinder in Indien ist dem Film ebenso ein Anliegen wie die Situation der Adaptiv-Kinder.

„Lion" basiert auf der autobiografischen Vorlage „Mein langer Weg nach Hause" von Saroo Brierley. Hauptdarsteller Dev Patel erinnert selbstverständlich an seinen ersten großen Erfolg „Slumdog Millionär" und auch etwas an „Best Exotic Marigold Hotel". Rooney Mara ist erneut mit ihrer enormen Präsenz ganz stark in der wichtigen Nebenrolle. Kidman spielt erstaunlich zurückhaltend und dadurch erträglich. Ganz im Dienste einer großen Geschichte, die über 25 Jahre brauchte, bis sie zum ihrem glücklichen Ende kam.

Boston

USA, 2016 (Patriots Day) Regie: Peter Berg mit Mark Wahlberg, John Goodman, J.K. Simmons 128 Min. FSK: ab 12

Das Attentat auf den Marathonlauf in Boston vom April 2013 gehört zu den selbst erzeugten nationalen Traumata der USA. Für Außenstehende ist so eine grobe filmische Mobilmachung nur ethnologisch interessant, als seltsames Verhalten eines sehr seltsamen Volkes. „Boston", besser im Original als „Patriots Day", ist die moralische Mobilmachung nach der Katastrophe. Das furchtbare (lokal-) patriotische Machwerk macht Mut und schürt blinden Hass. In simpler Katastrophenfilm-Konstruktion lernen wir am Morgen des Marathons die baldigen Opfer kennen. Alle liegen glücklich in den Betten und wollen sich lieben. Spekulativ wird die Spannung in Erwartung der Explosion gesteigert. Dabei sind die Attentäter nicht nur Mörder, sie sind besonders gemein, weil sie einen Bomben-Rucksack neben einen Kinderwagen und neben dem netten jungen Paar platzieren. Zudem sind sie unfreundlich zur Frau und kaufen nicht die richtige Milch für das Kind, diese Monster! Unser Mitgefühl-Katalysator ist der in Ungnade gefallene Cop Tommy Saunders (Mark Wahlberg). Er humpelt mit schon vorher kaputtem Knie am Tatort herum, befragt die Opfer im Krankenhaus, bricht zusammen und ackert weiter.

Die Explosionen auf der Zielgeraden bringen viel Blut, haufenweise grausam Verwundete, die Kamera zoomt lustvoll auf Verstümmelungen, Amputationen und zerfetzte Körper. Nachdem mit geradezu pornographischem Wühlen in Blut und Wunden möglichst viele Emotionen manipuliert wurden, will die zweite Stunde teils sachliches und beruhigendes Protokoll einer betont effektiven und guten Polizeiarbeit sein. „Aufgelockert" Hälfte mit Flucht und Verfolgung der Attentäter sowie heftigen Schießereien und Bombenwürfen. Das taugt nicht als Unterhaltung, bringt keinerlei Erkenntnisgewinn. Es geht in „Boston" niemals um Motive oder Zusammenhänge. Stattdessen der übliche Film-Streit um Zuständigkeit zwischen lokaler Polizei (Mark Wahlberg) und FBI (Kevin Bacon) mit dem triumphalen Satz „Das ist Terrorismus, wir übernehmen!" Alles was zählt, ist ein „Wir" gegen „Die". Insofern ist der Film selbst „terroristisch". Nur die realen Figuren äußern vor dem Abspann tatsächlich vernünftige, kluge und bewegende Dinge. Leider wartet man auf diese 15 Minuten zwei grausame und lange Stunden.

Neruda (2016)

Chile, Argentinien, Frankreich, Spanien, USA, 2016 Regie: Pablo Larraín mit Gael García Bernal, Luis Gnecco, Alfredo Castro 107 Min.

Lang erwartet und wieder exzellent folgt kurz nach dem Kennedy-Porträt „Jackie" von Pablo Larraín („El Club", „No!") die Poeten-Geschichte „Neruda": Der chilenische Dichter und Politiker Pablo Neruda (1904 - 1973), war bereits in den Dreißiger Jahren als Konsul in Europa und musste 1936 vor den Putschisten Francos aus Madrid fliehen. Als er 1946 den frisch gewählten Präsidenten González Videla heftig angriff, ließ der Neruda und tausende andere Kommunisten verfolgen. Der Dichter konnte in letzter Minute sein Haus verlassen und wechselte anderthalb Jahre lang auf der Flucht fast täglich die Wohnung, bevor er die Grenze nach Argentinien überqueren konnte.

Regisseur Pablo Larraín macht aus dieser Flucht-Periode mit viel dichterischer Freiheit ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Dichter Neruda (Luis Gnecco) selbst die Spuren legt. Noch in seiner Wohnung hinterlässt er ein Buch mit Widmung für den Spürhund Óscar Peluchonneau (Gael García Bernal), den unehelichen Sohn des größten Polizisten des Landes. Mit besonders heldenhaftem Ernst geht dieser Polizist vor, denn die schöne Geschichte wird ja auch von ihm selbst erzählt, der eine heimliche Ader für die Poesie hat. Neruda liest derweil Krimis, „sie helfen mir, zu vergessen, dass die Polizei hinter mir her ist."

Daraus ergeben sich fantastische Szenen, im doppelten Sinne. Die Gespräche springen mitten im Dialog von einem Ort zum nächsten, zum verlassenen Parlament und zurück in den pompösen Palast des Präsidenten, den Neruda öffentlich als Verräter bloßstellte. Der Rede von Pablo Picasso zur Verteidigung seines Freundes folgt einer der Bordell-Besuche Nerudas, wo er sich bei einer schönen Travestie vor den Verfolgern als Frau verkleidet. Überall findet der allseits geliebte Dichter und „Senator" die Unterstützung der Bevölkerung. Eine besoffene Verehrerin fragt ihn, „wenn unter dem Kommunismus alle gleich sind, werden alle wie er, der Dichter, oder wie ich, die den „Bourgeoisen die Scheiße wegputzt?". Die Gespräche selbst bewegen sich mit einem Übermaß an Ernsthaftigkeit und der gleichen Überbetonung im Bild (Kamera: Sergio Armstrong) scharf am Rand des Absurden.

Larraín, der zuletzt den schönen Berlinale-Wettbewerber „Una Mujer Fantástica" produziert hat, wollte „einen Roman erzählen, von dem wir gerne hätten, dass Neruda ihn mit Vergnügen liest." Tatsächlich ist ja auch der Zeitpunkt des Todes Nerudas am 23. September 1973 symbolträchtig wie in einem Roman, zwölf Tage nach dem Putsch Pinochets. „Neruda" ist nicht nur in diesem Sinne gelungen, er ist tatsächlich ein formal ungemein spannendes Duell zwischen Neruda und „seinem Polizisten", der schließlich verwinden muss, selbst nur eine Fiktion Nerudas zu sein, gar eine Nebenfigur. Da, bei der entscheidenden Begegnung ist die Flucht für Neruda längst eine traumhafte und melancholische Reise durch die Landschaften Chiles geworden - da erinnert man sich nicht nur wegen Gael García Bernal an „Die Reise des jungen Che". Larraín zeigt allerdings auch die Lager, in denen das Militär willkürlich vermeintlichen Gegner einkerkert.

So verfestigt Larraín nach dem oscar-prämierten „Il Postino" und dem besseren Porträt „Mit brennender Geduld" (1983) von Autor Antonio Skármeta selbst nicht nur das Bild des Dichters Neruda als Filmstar. Er zeigt sich selbst vor allem mit dieser faszinierend fantastischen biographischen Episode als innovativer Meisterregisseur von poetischen Geschichten und politischer Geschichte.

18.2.17

Berlinale 2017 Abschluss

Heute Abend werden die Preise der 67. Berlinale verliehen (live bei 3Sat), nachdem der wohltemperierte Wettbewerb keine Sensationen, keinen Skandal und auch keine großen Favoriten auf die Goldenen Bären hervorbrachte. Ausgerechnet aus den politisch bedrohlich nach rechts abgewanderten Polen und Ungarn kamen zwei der Publikumslieblinge und die besten Regisseure waren Regisseurinnen.

Das Ende des Wettbewerbs hatte exakt das gleiche Finalmotiv wie der Eröffnungsfilm „Django": Eine dramatische Flucht vor den faschistischen Häschern durch den Wald zur rettenden Grenze. Statt der Nazis in der Biografie von Django Reinhardt sind es im „X-Men"-Ableger „Logan" (außer Konkurrenz) in naher Zukunft die Cyborg-Schergen eines militärisch-pharmazeutischen Komplexes, die Kinder nicht nach Kanada fliehen lassen wollen. Der erstaunlich zeitgemäß düstere Ausblick für die USA gestaltete den Übergang von meist anderen, manchmal besonderen, öfters bereichernden und selten begeisternden Festival-Filmen in den Kino-Alltag gelungen. Hugh Jackman gibt erneut „Wolverine", den populärste Superhelden aus der Spielekiste der X-Men, und verleiht ihm in dem ebenso bewegenden wie eindrucksvollen Spektakel eine enorme Charaktertiefe.

Bevor gestern noch der chinesische Zeichentrick „Hao ji le" (Einen schönen Tag noch) und der rumänische Festivalliebling Călin Peter Netzer (Goldener Bär 2013 für „Mutter & Sohn") mit dem Beziehungsdrama „Ana, mon amour" den Wettbewerb abschossen, wurden die Filme der Ungarin Ildikó Enyedi, der Polin Agnieszka Holland und der Engländerin Sally Potter, allesamt bereits sehr erfolgreiche Ü60-Filmemacherinnen, am höchsten gehandelt. Tatsächlich scheint eine vom deutschen Interessenverband ProQuote weiterhin geforderte, in Realität nicht vorhandene Frauenquote den Wettbewerb gerettet zu haben. Die gleichermaßen poetische wie realistische Liebesgeschichte zwischen traumhaft flirtenden Hirschen im Winterwald und Tierverwertung im Schlachthof bei „Testről és lélekről" (On Body and Soul) von Enyedi („Magic Hunter", „Mein 20. Jahrhundert") ähnelt sogar motivisch Agnieszka Hollands „Pokot". Die Rückkehr von Holland („Der Priestermord", „Hitlerjunge Salomon") auf die große Leinwand nach einem Ausflug in die Welt der Serien, spielt in einer Landschaft mit wechselnden Jahreszeiten, deren wilde Schönheit jedoch nicht über Korruption, Grausamkeit und Dummheit ihrer Bewohner hinwegtäuscht. Ein waghalsiger Genremix aus komischer Detektivstory, spannendem Ökothriller und feministischem Märchen. Ganz in der Geschlechter- und Politik-Kultur drehte Sally Potter, die schon vor einem Vierteljahrhundert mit „Orlando" und Tilda Swinton das Transsexuellen-Manifest gedreht hat, an dem die Gesellschaften noch ranarbeiten, wie im Wettbewerb der chilenische „Una mujer fantástica" mit Daniela Vega eindrucksvoll in der männlich/weiblichen Hauptrolle zeigte. Potter hingegen ist mit „The Party" schon beim Post-Post-Feminismus und sezierte auch diesen so geistreich und komisch, dass sie oder ihr großartiges Ensemble (Patricia Clarkson, Kristin Scott Thomas, Timothy Spall, Bruno Ganz, Cillian Murphy) einen Preis bekommen müssen.

Womit sich im Ausklang der großen Berlinale-Party, bei der über Trump fast so viel geredet wurde, wie über Film, die Frage nach dem Sinn der Sache stellt. Man kann von Spielfilmen, die meist Jahre an Vorlauf brauchen, keinen aktuellen Kommentar zum letzten Twitter-Hirnriss erwarten. Dass „The Party" und „The Dinner" mit Richard Gere zufällig gerade Moral und Politik trotzdem klug verknüpften, liegt an Qualität und Gespür der Filmemacher. Aber ist tagelang im Kino sitzen und dann auf der Pressekonferenz eine Protestnote dranhängen nicht ebenso wirkungslos wie seine Meinung auf Facebook kund zu tun? Lessings alte Theater-Idee von der Katharsis, der Reinigung durch Furcht und Mitleid, übertragen auf die Bildung eines besseren Menschen durch anspruchsvollen Film erweist sich als hinfällig, wenn man nur einmal in das unzivilisierte Gedränge vor den Festivalkinos eintaucht.

Ganz weit weg von großen Fragen waren die zwei extrem schwachen deutschen Spielfilme im Wettbewerb, denen Volker Schlöndorffs Altherren Sentimentalität „Return to Montauk" den Rest gab: Darin taucht der international sehr angesehene deutsche Regisseur („Die Blechtrommel") wieder in das Universum seines Freundes Max Frisch ein. Zu Lebzeiten des Schweizer Dichters verwarfen beide allerdings eine Verfilmung der „zu autobiografischen" Geschichte eines Wiedersehens des älteren und verheirateten Dichters mit der Geliebten von damals. Vorlage ist nun ein Original-Drehbuch, das Schlöndorff gemeinsam mit Colm Tóibín („Brooklyn") schrieb. Doch das Ergebnis ist eine Senioren-Romanze von und für Kreative, die sich großartig und von ihren Frauen verlassen fühlen. Aber sonst nicht mehr viel vom Leben der anderen mitbekommen. „Return to Montauk" quälte den Wettbewerb als beschauliches, träges Kino von gestern. Damit zeigten sich die drei deutschen Starter im Wettbewerb bis auf „Beuys", der als einzige Dokumentation ganz aus der Reihe fällt, komplett deplatziert und enttäuschend. Chancen für Preise gibt ihnen keiner.

Der obligatorische Berlin-Film der Berlinale war diesmal voll bitterer Ostalgie. „In Zeiten des abnehmenden Lichts" (Regie: Matti Geschonneck) lief in der „Special"-Sektion voller Filme, die sicher im deutschen Kino landen. Bruno Ganz hatte darin seinem zweiten Berlinale-Auftritt. Der größte Führer-Darsteller aller Zeiten zeigt nun einen herrischen SED-Parteigenossen aus dem Osten, der 1989 noch seinen 90. Geburtstag feiert und dann pünktlich zum Ende der DDR den Löffel abgibt. Der renommierte Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase verdichtet den Erfolgsroman von Eugen Ruge zu einem filmischen Gesellschaftsbild, in dem 100 Jahre Partei- und deutsche Geschichte am Beispiel einer deutsch-russischen Familie aufgezeigt werden. Am Ende geht es wieder zurück ins sibirische Lager und scheinbar, auch nach dem Eindruck dieser Berlinale, lohnt sich der cineastische Blick nach Osten gerade wieder besonders.

17.2.17

Berlinale 2017 In Zeiten des abnehmenden Lichts (Berlinale Special)

Der obligatorische Berlin-Film der Berlinale war diesmal voll bitterer Ostalgie. „In Zeiten des abnehmenden Lichts" (Regie: Matti Geschonneck) lief in der „Special"-Sektion voller Filme, die sicher im deutschen Kino landen. Bruno Ganz hatte darin seinem zweiten Berlinale-Auftritt. Der größte Führer-Darsteller aller Zeiten zeigt nun einen herrischen SED-Parteigenossen aus dem Osten, der 1989 noch seinen 90. Geburtstag feiert und dann pünktlich zum Ende der DDR den Löffel abgibt. Der renommierte Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase verdichtet den Erfolgsroman von Eugen Ruge zu einem filmischen Gesellschaftsbild, in dem 100 Jahre Partei- und deutsche Geschichte am Beispiel einer deutsch-russischen Familie aufgezeigt werden.

Deutschland 2017
Deutsch, Russisch, 100 min
Untertitel: Engl./Dt.
von Matti Geschonneck
mit Bruno Ganz, Sylvester Groth, Hildegard Schmahl, Evgenia Dodina, Natalia Belitski, Alexander Fehling, Gabriela Maria Schmeide, Angela Winkler, Alexander Hörbe, Thorsten Merten

16.2.17

Berlinale 2017 Return to Montauk (Wettbewerb)

Schlöndorffs Altherren Sentimentalität

Berlin. Als dritte hauptsächlich deutsche Produktion im Wettbewerb der 67. Berlinale war mit Volker Schlöndorffs „Return to Montauk" noch ein kreatives Remake bei der Goldene Bären-Jagd dabei: Wie bei „Trainspotting" wird ein bekannter Stoff, diesmal von Max Frisch, auf einer anderen Ebene weitergeführt. Stellan Skarsgård und Nina Hoss sind die Stars dieser Alters-Romanze.

Beim Stichwort Montauk muss man an Max Frischs gleichnamige Erzählung aus 1975 denken und an Schlöndorffs Frisch-Verfilmung „Homo Faber" aus 1991. Zwar taucht der international sehr angesehene deutsche Regisseur Volker Schlöndorff („Die Blechtrommel") wieder in das Universum seines Freundes Max Frisch ein. Zu Lebzeiten des Schweizer Dichters verwarfen beide allerdings eine Verfilmung der „zu autobiografischen" Geschichte eines Wiedersehens des älteren und verheirateten Dichters mit der Geliebten von damals. Vorlage ist nun ein Original-Drehbuch, das Schlöndorff gemeinsam mit Colm Tóibín („Brooklyn") schrieb.

Der Schriftsteller Max Zorn (Stellan Skarsgård), Anfang 60, reist darin zu seiner Buchpremiere nach New York, wo ihn seine Frau Clara (Susanne Wolff) erwartet, die seit einer Weile in der Stadt lebt. Sein sehr persönlicher Roman handelt vom Scheitern einer großen Liebe. Schon bald trifft Max die Frau von damals wieder: Rebecca (Nina Hoss), in Deutschland geboren, lebt als erfolgreiche Anwältin in New York. Gemeinsam kehren sie für ein Winterwochenende nach Montauk zurück, das Küstenstädtchen, wo sie einst glücklich waren.

Volker Schlöndorff drehte zwar in New York oft ohne Drehgenehmigung wie ein junger Guerilla-Filmer. Doch das Ergebnis ist eine Senioren-Romanze von und für Kreative, die sich großartig und von ihren Frauen verlassen fühlen. Aber sonst nicht mehr viel vom Leben der anderen mitbekommen. „Return to Montauk" quälte den Wettbewerb als beschauliches, träges Kino von gestern. Die an sich exzellenten Schauspieler wirken wie unter Betäubungsmitteln wenn sie reihenweise leblose Sätze aufsagen. Alles erinnert an Linklaters „Before Sunset" in Paris, nur der ist ein bis zwei Generationen jünger, verspielter und weniger offensichtlich. Wie Schlöndorffs Hauptfigur Max Zorn ist auch dieser Film gefangen in der Vergangenheit, in seiner Fixierung auf die eine Liebe nur öde. Damit zeigten sich die drei deutschen Starter im Wettbewerb bis auf „Beuys", der als einzige Dokumentation ganz aus der Reihe fällt, komplett deplatziert und enttäuschend. Chancen für Preise gibt ihnen keiner.

Die andere Seite der Hoffnung

Ein syrischer Flüchtling landet in Finnland. Asyl wird Khaled verweigert, da Aleppo angeblich eine sichere Stadt ist. Doch dann trifft er auf einen älteren Restaurant-Besitzer, der ihn illegal einstellt und versteckt. Die Solidarität in der Belegschaft ist rührend, Khaled kann sogar seine Schwester nach Finnland holen. Aber da gibt es noch die rechten Schläger. „Die andere Seite der Hoffnung" ist im lakonischen Kaurismäki-Stil mit seinem trockenen Humor selbstverständlich nicht übermäßig dramatisch. Doch diesmal in seiner typische Reduzierung nicht sehr treffend und effizient. Ein starkes Plädoyer für den menschlichen Umgang mit Flüchtlingen aber ein schwacher Kaurismäki.

Finnland, Deutschland 2017
Finnisch, Englisch, Arabisch, 98 min
von Aki Kaurismäki
mit Sherwan Haji, Sakari Kuosmanen, Janne Hyytiäinen, Ilkka Koivula, Nuppu Koivu, Simon Hussein Al-Bazoon, Niroz Haji, Kaija Pakarinen

14.2.17

T2 Trainspotting

Großbritannien, 2017

Regie: Danny Boyle mit Ewan McGregor, Ewen Bremner, Jonny Lee Miller, Robert Carlyle, Kelly MacDonald 118 Min. FSK: ab 16

Die eigenständige Fortsetzung seines eigenen Films durch den ungemein begabten Filmemacher Danny Boyle beschert uns mit „T2 Trainspotting" einen visuell packenden, großen Film: Auch 20, genauer: 21 Jahre später hat „Trainspotting" nichts von seinem Schwung verloren. Dieser frühe Kultfilm von Regisseur Danny Boyle („The Beach", „28 Days Later", „Slumdog Millionaire", „127 Hours"), diese Film-Droge, die immer noch ein Drogenkonsum-Film ist, wirkt schon als Herz- und Rhythmus-Beschleuniger im Wettbewerb (außer Konkurrenz) der 67. Berlinale. Und hält bis zum Ende den hohen Energie-Level dieser Hedonie-Hymne und Ode an die Verlierer.

Nach schnellen Rhythmen auf der Tonspur bis zum Zusammenbruch von Mark Renton (Ewan McGregor) erklingt melancholisch und ironisch Lou Reeds „Perfect day" - falsch am Klavier gespielt. Bei Mark ist nicht nur das Herz sondern auch noch die Ehe nach 15 Jahren kaputt. Seien Job ist er ebenfalls los. Spud (Ewen Bremner) hat als jahrelanger Junkie die Einführung der Sommerzeit verpasst, wodurch er bei allen Schritten zum normalen Leben immer eine Stunde zu spät auftauchte. Begbie (Robert Carlyle) verbrachte die letzten 20 Jahre im Knast und macht pünktlich zum Wiedersehen mit einer üblen Selbstverstümmlung über die Krankenstation die Fliege. Er ist als aggressiver Gangster auf Viagra die Witzfigur des Films. „We'll meet again" läuft spöttisch in der Jukebox zur Begrüßungs-Prügelei zwischen Mark und Sick-Boy (Jonny Lee Miller), der jetzt wieder Simon heißen will. Er hat eine heruntergekommene Kneipe im Nirgendwo eines Abriss-Gebietes und träumt davon, seiner Freundin daraus ein Sauna-Bordell zu bauen. Simons bulgarische und platonische Freundin erkennt klar: Ihr seid verliebt ineinander und fixiert auf die Vergangenheit.

Die vier ehemaligen Freunde und Junkies aus Edinburgh sind sämtlich am Ende, was ein neuer Anfang für die alte Freundschaft sein könnte. Wären da nicht die 16.000 Pfund Drogengeld, mit denen Renton vor zwanzig Jahren abgehauen ist. So mischt sich Rache ins optisch und akustisch mitreißende Wiedersehen von „Trainspotting". Diesmal geht es nicht um Drogen, sondern ganz im Geiste des Brexit um EU-Gelder für einen Puff!

Als entfernte Vorlage diente Irvine Welshs Roman „Porno" aus dem Jahre 2006, ebenfalls eine Fortsetzung der Ursprungs-Geschichte. Die Stadt ist längst nicht mehr die alte, doch bei den alten Jungs hat sich nicht viel verändert. Nur der debile und sympathische Ex-XXL-Junkie Sput bekommt wider alle Wahrscheinlichkeiten irgendeine Kurve.

Die Montage aus Erinnerungen aus dem Originalfilm, abgedrehten Drogen-Flashs ist kunst- und reizvoll. Da laufen die vier Anti-Helden sich selbst mal in einer jüngeren Version über den Weg, da wird wild auf- und rückprojiziert (Kamera: Anthony Dod Mantle). Die Handlung ist sentimental, makaber, deftig und heftig. Zu den Höhepunkten der niemals plakativen Gesellschaftsbezüge gehört ein atemberaubend rasanter moderner Anti-Konsum-Monolog von Ewan McGregor.

Berlinale 2017 The Party (Wettbewerb)


Komödie, kurz und knackig. Dieses für einen Festivalwettbewerb erfrischende aber seltene Prinzip hat eigentlich der lakonische Finne Aki Kaurismäki für sich gebucht. Doch der ist erst morgen dran. Das Witzigste im Wettbewerb bisher lieferte eine eindrucksvolle Riege Charakterdarstellerinnen mit nicht minder bekannter Herrenbegleitung: Sally Potters „The Party“ ist nach Richard Geres „The Dinner“ das zweite feine Essen, das entgleist. Und wir sind immer noch nicht in der Sonderreihe kulinarisches Kino, sondern weiterhin im Wettbewerb. Janet (Kristin Scott Thomas) wurde gerade zur Ministerin im Schattenkabinett der Opposition ernannt. Die Krönung der politischen Laufbahn soll gefeiert werden. Dazu ahmt Janet einem historischen Vorbild nach („Doing a Thatcher“) und bereitet das Essen für die meist feministischen Freunde selbst. Doch um die Gesundheit des Mannes der Gesundheitspolitikerin steht es nicht zum Besten. Bill (Timothy Spall) verkündet noch vor dem Toast seine unheilbare Erkrankung. Nun folgen esoterische Sprüche zum Totlachen vom „deutschen“ Guru Gottfried (Bruno Ganz), die Bekanntgabe einer erfolgreichen Drillings-Invitro-Befruchtung beim lesbischen Paar und der Auftritt eines extrem eifersüchtigen Bankers Tom (Cillian Murphy), dessen Frau ihn mit einem der Party-Gäste betrügt. Die feministische Regisseurin Sally Potter („Orlando“ 1992, „The Tango Lesson“ 1996) präsentierte ihre spannenden Themen oft verkopft - diesmal geht die herrlich geistreiche, beidseitige Geschlechter-Karrikatur ganz über den Bauch, vor allem über die Lachmuskeln. In knapp 70 Minuten exquisitem Schwarzweiß-Film schießt die Britin Potter ein unvergleichliches Feuerwerk an Typen und Themen ab. Das verdient Preise in jeder Hinsicht, für Buch, für Kamera, Regie und für die Darstellerriege gleich einen Ensemble-Bären.

von
Sally Potter
Großbritannien 2017
Englisch
71 Min · Schwarz-Weiß

Patricia Clarkson (April)
Bruno Ganz (Gottfried)
Cherry Jones (Martha)
Emily Mortimer (Jinny)
Cillian Murphy (Tom)
Kristin Scott Thomas (Janet)
Timothy Spall (Bill)

Berlinale 2017 Mr Long (Wettbewerb)

Grausam gut, so muss man den neuen Film von Sabu („D.A.N.G.A.N. Runner", „Monday"), dem japanischen Autoren-Regisseur der Gewalt-Filme, bezeichnen! Manipulativ und gelungen verspritzt ein Killer in der Eröffnung Gewalt und Blut, um dann im wunderschönen glücklichen Momenten als taiwanesischer Koch in einer kleinen japanischen Gemeinde aufzuleben. Selbstverständlich gehört die Liebe zu einer ehemaligen Zwangs-Prostituierten und Heroin-Anhängigen dazu. Und auch ein kleiner, herzerweichender Junge, der gerettet werden muss. Dies alles ist so großartig, wie starke Balladen von ansonsten groben Hard-Rockern, und erinnert an „Kikujiros Sommer", die Gangster-Kind-Geschichte vom älteren Japaner Takeshi Kitano. Aber Sabu bleibt letztlich ein Gewalt-Filmer. So wirkt das Ende, das den ganzen Film mit seiner Drohung spannend machte, überflüssig, einfallslos und platt. Ein interessanter Blutfleck im Wettbewerb.

13.2.17

Fences

USA, 2016 Regie: Denzel Washington mit Denzel Washington, Viola Davis, Stephen McKinley Henderson 138 Min.

Denzel Washington stemmt als Regisseur und Hauptdarsteller einen altmodischen Theaterfilm, der trotz seiner Reduktion auf Spiel und Dialog zu überzeugen weiß. Troy Maxson (Denzel Washington) war einst großartiger Baseball-Spieler, dessen Karriere durch eine Haftstrafe verhindert wurde, und der jetzt Mülltonnen leert. Den Müllwagen darf er nicht fahren, weil er nicht weiß ist. Mit seiner Frau Rose (Viola Davis) und dem alten Kumpel Bono sitzen sie im kleinen Gärtchen hinter dem Haus und reden über Gott und die Welt, vor allem aber darüber, wie die Welt für die Schwarzen aussieht. Es hat sich einiges verbessert, immerhin können sie so ein Häuschen mit Garten bekommen. Sein 35-jähriger Sohn, ein Musiker, bettelt monatlich um Geld, dem jüngeren Sohn verbietet er das Training für eine Sportkarriere, weil die Schwarzen sowieso immer nur betrogen würden. Aus eigener Frustration ist dieser Mann ohne Mitleid oder Gnade, seine Rolle als Vater so ein wunder Punkt. Die negative Sicht auf die Welt belastet sogar die langjährige Beziehung zu seiner sehr liebe- und verständnisvollen Frau. Die Zäune des Titels müssen im Garten repariert werden und sorgen in den Köpfen für Unglück.

„Fences"basiert auf dem Pulitzer-preisgekrönten Theaterstück des amerikanischen Autors August Wilson. Denzel Washington und Viola Davis erhielten 2010 bereits den Tony Award für ihre Broadway-Inszenierung von „Fences". Das Theaterstück wurde ebenfalls mit dem Tony Award geehrt. Washington macht daraus einen sehr statischen Schauspieler-Film, den nie seine Herkunft von der Bühne überspielt. Beeindruckend ist vor allem der unendliche Redefluss aber auch die Intensität der Auseinandersetzungen.

Mein Leben als Zucchini

Schweiz, Frankreich, 2016 (Ma vie de courgette) 66 Min. FSK: ab 0

Der Glücksfall eines Kinder-Animationsfilms, der die Kleinen nicht unterfordert, dabei auch noch Klein und Groß viel Spaß macht, gewann 2016 den Europäischen Filmpreis als Bester Animationsfilm und ist für den Trickfilm-Oscar nominiert. „Mein Leben als Zucchini" erzählt in liebevoll unperfekter Stop-Motion-Animation vom liebevollen, unperfekten Leben des kleinen, neunjährigen „Zucchini". Der Junge landet nach dem plötzlichen, herrlich makabren Tod seiner Mutter in dem kleinen Kinderheim der Madame Papineau. Er muss sich mit dem frechen Simon, der überängstlichen Béatrice, der schüchternen Alice, dem zerzausten Jujube und dem verträumten Ahmed zusammenraufen. Alle haben bereits viel erlebt, auch viel Schlimmes. Aber sie geben einander Halt. Eines Tages stößt die mutige Camille zu ihnen, und Zucchini ist zum ersten Mal verliebt. Doch Camilles gemeine Tante plant, das Mädchen wegen des Pflegegeldes zu sich zu holen. Zucchini und seine Freunde wollen dies verhindern.

Nach der Vorlage von Gilles Paris' Roman „Autobiografie einer Pflaume" und begleitet von Sophie Hungers wunderbarer Musik gewinnen die Kinder mit ihren Riesenknopfaugen wie der Film die Herzen aller Zuschauer. Die kleine, sehr fantasiereiche Produktion kam sogar in die Endrunde des Prix Lux des Europäischen Parlaments. Ein ganz großer kleiner Film über tapfere kleine Kerle und Mädchen.

12.2.17

Elle

Frankreich, BRD, Belgien, 2016 Regie: Paul Verhoeven mit Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Charles Berling 126 Min. FSK: ab 16

Die Klavierspielerin 2

Elle ist Michèle (Isabelle Huppert), entschlossene, selbstbewusste Frau und Chefin großen, erfolgreichen Firma für Videospiele. Dass wir sie gleich in der ersten Szene als Opfer einer Vergewaltigung kennengelernt haben, bestimmt so gar nicht das Bild der recht gefühllosen Egoistin, die Mutter und Sohn versorgt und sexuell sehr aktiv lebt. Das Blut im Schaubad nach der Vergewaltigung ist noch ein deutliches Zeichen, danach meint sie bei einer Besprechung, die heftige Gewalt im neuen Computer-Spiel sei noch zu steigern.

Der anfängliche Schockmoment, der später detaillierter wiederholt wird, wandelt sich der Erinnerung in eine Gewaltfantasie mit zermatschtem Vergewaltiger. Aber eigentlich ist „Elle" in seiner sehr ruhigen Entwicklung mehr Psycho als Thriller, auch wenn zu anonymen SMS vom Täter bald auch noch ein expliziter Film mit Michèles einkopiertem Gesicht auftaucht. Überraschend und für voreilige Feministinnen sicher provokativ spitzt sich der Thriller nicht zu sondern biegt ab zu persönlicher Erfüllung für Michèle in von ihr eingeleiteten Sadomaso-Quickies.

Neben dem Rätsel und Reiz um den Täter spielt die alte Familiengeschichte Michèles eine spannende Rolle. Hat doch ihr inhaftierter Vater vor 39 Jahren 27 Menschen, „dazu noch einige Tiere", wie sie amüsiert erzählt, umgebracht. Was von damals blieb, ist ein Foto von ihr in Unterwäsche vor einem Feuer, das Bild einer Psychopathin, wie ein Poster für „Carrie".

„Elle" platzt auch mit dem mehrfach offenen Ende als Thriller wie eine Seifenblase. Als Porträt einer außergewöhnlichen Frau ist er ungemein spannend. Regisseur Paul Verhoeven, selbst mit einer sehr wechselhaften Karriere gesegnet, legt hier nebenbei die Verbindung zu Hupperts „Die Klavierspielerin" (Regie: Michael Haneke, Buch: Elfriede Jelinek). Schon damals gelang eine irritierende bis fesselnde Verbindung von kindlichem Trauma und sadomasochistischen Sexpraktiken. Nun spielt zwar familiäres Chaos eine größere Rolle als der gar nicht erotische Thriller. Der Sohn ist ein Depp, die Schwiegertochter eine unverschämte Zicke, die ihm das farbige Kind eines anderen unterjubelt. Aber das ruhelose Rollen-Spiel um eine starke Frau führt trotz sehr simpler Game-Metapher zu einer faszinierend komplexen Persönlichkeit.

Isabelle Huppert kann selbstverständlich so eine kapriziöse Frau exzellent spielen, ihre Michèle lässt herrliche Gemeinheiten gegenüber dem sehr jungen Verlobten der Mutter ab. „Die Männer sind sinkenden Sterne", wie Isabelle Huppert in einem Interview sagte. Christian Berkel (nach englischen Produktionen auch im Französischen gut im Spiel) darf den einfach gestrickten Liebhaber geben. Der Ex (Charles Berling) bekommt komödiantisch viel ab.

Das Drehbuch entstand nach langem Hin und Her auf der Basis von Philippe Djians („Betty Blue") Roman „Oh...". Doch was sagte die Huppert zu den Männern? „Elle" ist ebenso wenig ein „Betty Blue"- Nachfolger wie ein „Basic Instinct"-Imitat, es ist vor allem ein exzellenter Isabelle Huppert-Film.

Empörung

USA, 2016 (Indignation) Regie: James Schamus mit Logan Lerman, Sarah Gadon, Tracy Letts 111 Min. FSK: ab 12

Nach Ewan McGregors „Amerikanisches Idyll" erfreut nun schon der nächste Philip Roth-Film Leser und anspruchsvolle Cineasten: „Empörung" erzählt vom Studenten Marcus Messner (Logan Lerman) und zeichnet ein Sittenbild aus den USA der Fünfzigerjahre. Marcus ist zwar sehr intelligent, wollte aber nicht unbedingt studieren. Doch nur so entkommt man dem Korea-Krieg und der Metzgerei des Vaters, außerdem ist das Stipendium seiner jüdischen Gemeinde Ehre und Verpflichtung. Im Studenten-Heim der extrem spießigen Universität Winesburg, Ohio, will er bald aus dem Zimmer mit zwei anderen Juden ausziehen, auch die Werbung der jüdischen Verbindung lehnt er ab. Marcus glaubt nicht an Studenten-Vereinigungen, nicht an Religionen und konzentriert sich allein auf seine Bücher. Bis er die verführerische Olivia (Sarah Gadon) trifft. Ihre Leidenschaft irritiert ihn zuerst, doch die klügere Frau klärt den unsicheren Mann freundlich auf.

Obwohl Alter und Situation gleich sind, stellt „Empörung" einen Gegenpol zu us-amerikanischen Teenie-Filmen dar. Der Liebesfilm mit einer schwierigen Beziehung stellt nur das vordergründige Problem dar. Sehr erwachsen streitet Marcus gleichzeitig mit dem Dekan Caudwell (Tracy Ledds) über das Recht, nicht zu glauben. Alberne Kleinigkeiten wie die 40 verpflichtenden Gottesdienstbesuche bis zum Examen sind der Auslöser, grundsätzlich sehen bei Marcus diejenigen, die nicht an Atheismus glauben, albern bis dumm aus. Er ist im Gespräch mit dem indiskreten, geradezu voyeuristischen Dekan klüger sowie rhetorisch klarer und gibt ihm herrlich respektlos die Empfehlung, mal einen Text von Bertrand Russell zu lesen. Außerdem sei der Mensch durchaus fähig, ein moralisches Leben zu führen, ohne zu glauben!

In solchen geistreichen Dialogen und vor allen in den Off-Kommentaren und Briefen blitzt die geschliffene Sprache Philip Roths auf. Neben den philosophischen Texten begeistern der sehr gute junge Hauptdarsteller Logan Lerman, der bisher in der Jugend-Action-Reihe „Percy Jackson" nicht auffiel, sowie die tolle, zudem noch charismatische Kanadierin Sarah Gadon als Olivia. Bei der Umsetzung von Philip Roths 2008 erschienenem Roman schrieb James Schamus nicht nur das Drehbuch wie bei „Das Hochzeitsbankett", „Taking Woodstock", „Brokeback Mountain", „Hulk", „Tiger & Dragon" oder „Der Eissturm", erstmals führte er auch Regie. Das gelang ihm stilvoll, dem Stoff entsprechend zurückhaltend aber immer auch deutlich. So patrouillieren auf dem Rasen der Uni die ganze Zeit Soldaten, um zu erinnern, dass bei Rausschmiss der Kriegseinsatz droht. Über die Änderungen im Stoff - ein anderes Ende wurde angefügt - lässt sich ebenso diskutieren wie über die Entscheidungen der Figuren. Der wiederholte Leitsatz „Leben, der kleinste Fehler hat Konsequenzen" führt jedenfalls im Film zu einprägsamen und letztlich erschütternden Einsichten über immer noch nicht überwundene Ansichten.

10.2.17

Berlinale 2017 The Dinner (Wettbewerb)

"Affen mit Handys" - keine Beschreibung der Menge am Roten Teppich, sondern ein Zitat aus "The Dinner", in dem Wettbewerbs-Film mit Richard Gere einen Politiker mit zwei Gesichtern spielt. Der Möchtegern-Gouverneur Stan (Gere) lädt seinen Bruder Paul (Steve Coogan) und seiner Schwägerin Barbara (Laura Linney) in ein sehr exklusives Restaurant. Es geht nicht um ein Wiedersehen der heillos zerstrittenen Brüder, es geht um ihre Söhne, die zusammen eine Obdachlose angezündet haben, die an den Brandwunden starb. Noch wissen nur die Familien, wer die Täter auf dem öffentlich gezeigten Video von Pauls Sohn sind. Bis gestritten wird, was zu tun ist, ob man verschweigen oder selbst zur Polizei gehen soll, sind viele alte Geschichte zu umschiffen. Und Stan ist eigentlich dauernd am Handy seiner Assistentin, weil er gerade ein Gesetz durch den Kongress bringen will. Das ist fast „Der Gott des Gemetzels", nur diesmal ist es wirklich furchtbar und grausam, was ein Sohn getan hat. Sehr ambivalente Figuren wühlen sich im intensiven, ruhelosen Spiel durch ganze Bündel von Krankheiten, Beschädigungen und Altlasten. Könnte nerven wie die Anrufe für Stan im Sekundentakt, doch die Handlungen und Entscheidungen sind zeitweise so atemberaubend amoralisch, dass man Stans junge Frau und ehemalige Praktikantin Kate (Rebecca Hall) plötzlich als Lady MacBeth sieht. Der in Israel geborene Oren Moverman legt geschmackvoll aufbereitet einen packenden Parcours zum moralischen Verfall der Menschheit hin. (ghj)


Oren Moverman
USA 2016
Englisch
120 Min · Farbe
Mit
Richard Gere (Stan Lohman)
Laura Linney (Claire Lohman)
Steve Coogan (Paul Lohman)
Rebecca Hall (Katelyn Lohman)
Chloë Sevigny (Barbara Lohman)

Berlinale 2017 Es war einmal in Deutschland ...

von
Sam Garbarski
Deutschland / Luxemburg / Belgien 2017
Deutsch
101 Min · Farbe

Moritz Bleibtreu (David)
Antje Traue (Sara)
Mark Ivanir (Holzmann)
Hans Löw (Verständig)
Tim Seyfi (Fajnbrot)
Anatole Taubman (Fränkel)

Nach dem unsäglichen Inder in „Vijay und ich" spielt Moritz Bleibtreu erneut in einem Film von Sam Garbarski. Der Regisseur begeisterte 2007 mit „Irina Palm" und läuft seitdem diesem Erfolg immer hinterher. Nun erzählt seine Tragikomödie „Es war einmal in Deutschland..." von der „Die Rache der Juden" in Frankfurt im Jahr 1946: Ein Moment der Geschichte, aber auch ein Märchen, in dem die überlebenden Juden in speziellen Camps der US-Armee auf wirtschaftliche Weise zu überleben suchten und dabei nicht erwarten konnten, in die USA auszuwandern. Geschäftlich besonders geschickt macht das der Kaufmanns-Sohn David (Moritz Bleibtreu), der den Deutschen mal über Mitleidsmasche und mal mit vermeintlichen Antisemitismus überteuerte „Aussteuerpakete" mit weißer Wäsche verkauft. Aber ausgerechnet David erhält die Lizenz nicht, die doch jeder Jude bekommt. Denn er soll mit der SS zusammengearbeitet haben, was zu einer Reihe von Verhören bei der attraktiven US-Juristin und einer Geschichte in mehreren Kapiteln führt. Wieder und leider spielt Bleibtreu alle an die Wand, die Schicksale der Schicksalsgenossen sollen ganz kurz die Grauen des Holocaust anreißen, bleiben aber Randnotizen in einer netten Komödie mit Tiefgang, aus der man mehr hätte machen können.

Berlinale 2017 T2 Trainspotting

Die eigenständige Fortsetzung seines eigenen Films durch den ungemein begabten Filmemacher Danny Boyle beschert der Berlinale ein Wiedersehen mit Ewan McGregor, der schon 2010 mit seinem Film „Ghostwriter" und 2006 mit dem Psychothriller „Stay" in Berlin war. Beim Dreh für „Ghostwriter" holte er sogar seine Familie für einige Zeit mit in die Stadt.

Auch 20, genauer: 21 Jahre später hat „Trainspotting" nichts von seinem Schwung verloren: Dieser frühe Kultfilm von Regisseur Danny Boyle („The Beach", „28 Days Later", „Slumdog Millionaire", „127 Hours"), diese Film-Droge, die immer noch ein Drogenkonsum-Film ist, wirkt sofort als Herz- und Rhythmus-Beschleuniger im Wettbewerb (außer Konkurrenz) der 67. Berlinale. Und hält bis zum Ende den hohen Energie-Level dieser Hedonie-Hymne und Ode an die Verlierer.

Denn nach schnellen Rhythmen auf der Tonspur bis zum Zusammenbruch von Renton (Ewan McGregor) erklingt melancholisch Lou Reeds „Perfect day" - falsch am Klavier gespielt. Die vier ehemaligen Freunde aus Edinburgh sind sämtlich am Ende, was ein neuer Anfang für die alte Freundschaft sein könnte. Wären da nicht die 16.000 Pfund Drogengeld, mit denen Renton vor zwanzig Jahren abgehauen ist. So mischt sich Rache ins optisch und akustisch mitreißende Wiedersehen von „Trainspotting". (ghj)

Berlinale 2017 Django

Wettbewerb

von
Etienne Comar
Frankreich 2017
Französisch
117 Min · Farbe

mit Reda Kateb (Django Reinhardt)
Cécile de France (Louise)
Beata Palya (Naguine)
Bim Bam Merstein (Negros)
Gabriel Mirété (La Plume)

Der zur Zeitstimmung um den drohenden Verfall der Demokratie passende Eröffnungsfilm „Django" mahnt jedenfalls auf ergreifende Weise an die furchtbaren Taten des Nazi-Terrors in Europa: Eine Episode im Leben des belgischen Gitarren-Genies Jean „Django" Reinhardt (1910-1953) ist die erfolglose Flucht vor den deutschen Besatzern von Paris in die Schweiz im Jahr 1943. Das Regie-Debüt des französischen Produzenten Etienne Comar („Von Männern und Göttern", „Mein Ein, mein Alles") zeigt den Wandel des unpolitischen Bohemiens zum Komponisten einer ergreifenden „Zigeunermesse" für die verfolgten und ermordeten Gypsies dieser Zeit. Deren Partitur ging tatsächlich verloren, der erhaltene Teil bildet trotzdem den Schlussakkord des Films. Bis dahin erlebt Django (großartig gespielt von Reda Kateb), der ersten Warnungen von Transporten nicht glaubt und von Angeboten der deutschen Militär-Führung zur Truppen-Unterhaltung lebt, wie immer mehr Menschen verhaftet werden und verschwinden. In einer schockierenden Szene werden die Wagen einer befreundeten Sippe im Flammenwerfern abgefackelt. Die absurden Forderungen der Kultur-Nazis, Django dürfte nicht improvisieren, keine „Negermusik" spielen und nicht mit dem Fuß wippen, sind noch der amüsante Teil eines schon verlorenen Kampfes um die Freiheit der Musik und damit der Kultur. Die andere belgische Beteiligung des Films, Cécile de France, verkörpert in der tragischen Figur der gefolterten und gebrochenen musikalischen „Königin von Montparnasse" dieses Ende der Freiheit.

Berlinale 2017 Eröffnung

„The greatest Berlinale in the world! It's true." titelte die Berliner „taz" gestern ironisch und nahm damit den erwarteten Anti-Trump-Grundton des Festivals vorweg. Die 67. Internationalen Filmfestspiele Berlins (9.-19. Februar) wurden gestern mit dem nachdenklichen französischen Reinhardt-Porträt „Django" und mäßig viel internationaler Prominenz feierlich eröffnet. Selten war es leichter, das Image des politischsten der großen Filmfestivals zu erfüllen.

Jetzt ist schon klar, dass die Berlinale diesmal eine weitere Bühne der freien Welt gegen den Trump-Wahnsinn sein wird. Jahrzehnte lang gingen die Appelle der eingeschlossenen Stadt über die Mauer in den Osten. Der Aufruf von Bürgermeister Ernst Reuter „Ihr Völker der Welt ... schaut auf diese Stadt", die im Jahr 1949 noch eine geteilte war, wird unter seinem aktuellen Nachfolger Michael Müller allerdings erst einmal zu einem „schaut auf diesen Roten Teppich". Und man muss schon Trump heißen, um die Lücken im Promi-Reigen nicht festzustellen.

Es liegt weniger am Flughafen-Streik von Dienstag als am Filmprogramm, dass nicht so viele Stars bei dieser Berlinale auflaufen werden. Und während früher die Sorge bestand, dass iranische Filmemacher nicht mehr in den Iran kommen, wollen sie und andere nun nicht aus den USA raus, weil sie danach vielleicht nicht mehr rein dürfen. Doch was können in Zeiten, in denen 140 Zeichen per Twitter die Welt regieren und terrorisieren, 140-Minuten-Filme sagen?

Mahnende Eröffnung

Jury-Präsident Paul Verhoeven und Berlinale-Direktor Dieter Kosslick haben gestern die 67. Berlinale eröffnet. Als Gäste der von Anke Engelke moderierten Gala wurden neben vielen anderen die Schauspielerinnen Maggie Gyllenhaal, Julia Jentsch, Iris Berben, Senta Berger, Sandra Hüller, ihre Kollegen Mario Adorf, August Diehl, Armin Mueller-Stahl sowie die Regisseure Fatih Akin, Wim Wenders, Christian Petzold, Oskar Roehler, James Schamus, Volker Schlöndorff und Tom Tykwer erwartet.

Der zur Zeitstimmung um den drohenden Verfall der Demokratie passende Eröffnungsfilm „Django" mahnt jedenfalls auf ergreifende Weise an die furchtbaren Taten des Nazi-Terrors in Europa: Eine Episode im Leben des belgischen Gitarren-Genies Jean „Django" Reinhardt (1910-1953) ist die erfolglose Flucht vor den deutschen Besatzern von Paris in die Schweiz im Jahr 1943. Das Regie-Debüt des französischen Produzenten Etienne Comar („Von Männern und Göttern", „Mein Ein, mein Alles") zeigt den Wandel des unpolitischen Bohemiens zum Komponisten einer ergreifenden „Zigeunermesse" für die verfolgten und ermordeten Gypsies dieser Zeit. Deren Partitur ging tatsächlich verloren, der erhaltene Teil bildet trotzdem den Schlussakkord des Films. Bis dahin erlebt Django (großartig gespielt von Reda Kateb), der ersten Warnungen von Transporten nicht glaubt und von Angeboten der deutschen Militär-Führung zur Truppen-Unterhaltung lebt, wie immer mehr Menschen verhaftet werden und verschwinden. In einer schockierenden Szene werden die Wagen einer befreundeten Sippe im Flammenwerfern abgefackelt. Die absurden Forderungen der Kultur-Nazis, Django dürfte nicht improvisieren, keine „Negermusik" spielen und nicht mit dem Fuß wippen, sind noch der amüsante Teil eines schon verlorenen Kampfes um die Freiheit der Musik und damit der Kultur. Die andere belgische Beteiligung des Films, Cécile de France, verkörpert in der tragischen Figur der gefolterten und gebrochenen musikalischen „Königin von Montparnasse" dieses Ende der Freiheit.

Ein Anti-Trump war schon ganz früh in Berlin und macht passend zur Berliner Stadtregierung auf Rot(h)-Rot-Grün: Richard Gere besuchte bereits am Mittwoch die Grünen und ließ sich von Claudia Roth durch den Bundestag führen. Gestern ging es zu Merkel. Zur Premiere seines Films „The Dinner", einem Vier-Personen-Drama, das heute Abend läuft, ist der charmante Tibet-Verteidiger ebenfalls als Hauptattraktion gebucht.

Auch schon angekommen ist die Angst vor der Bombe! Tatsächlich beschäftigen sich, weil Trump jetzt am Roten Knopf sitzt, gleich drei Filme wieder mit der Atombombe und nur zwei laufen in der historischen Retrospektive „Future Imperfect. Science · Fiction · Film". Mit „Found Fotage" aus altem Dokumaterial zu Atombomben-Explosionen lässt „The Bomb" heute abend mit Live-Musikbegleitung alte Ängste wieder aufleben.

Während die härtesten Fans auch bei Minustemperaturen schon vor dem Festivalhotel Autogramme jagen, stehen nur hundert Meter weiter die anderen Schlange für Antworten, die ihnen heiß begehrte Kinokarten versprechen - auch auf nie gestellte Fragen. Der Gegensatz zwischen Glanz und Inhalt zieht sich durch das ganze Festival: Gegenüber der „Bubble", dem durchsichtigen Iglu von ProQuote, der seit zwei Jahren recht erfolgreichen Aktion für mehr Filme von Frauen, steht wieder der Glasquader von L'Oreal, in dem Frau auf schön und nicht auf gleichwertig geschminkt wird.

7.2.17

Noma

Großbritannien, 2015 (Noma - My Perfect Storm) Regie: Pierre Deschamps 99 Min. FSK: ab 0

Das Kopenhagener Restaurant Noma wurde in den letzten Jahren vier Mal zum besten der Welt gekürt. Die 40 Plätze sind auf Jahre im Voraus ausgebucht. Der zwischen Genie und Wahnsinn schwankende Mann hinter dem Erfolg ist Chefkoch René Redzepi, in Mazedonien geboren und als kleiner Junge mit seiner Familie nach Dänemark gekommen. Das Dogma von Noma lautet: Nur Nahrungsmittel aus der Region, oder „Nordic Food". Das bedeutet beispielsweise kein Olivenöl, dafür unglaubliche Zutaten Gras vom Strand, fermentiertes Blut. Von Seeigeln aus den Gewässern vor der Nordküste Norwegens über fermentierte Stachelbeeren bis hin zu Moosen, Flechten und von Birken gezapftem Wasser ist René Redzepi unentwegt auf der Suche nach neuen Produkten und Wegen. Er spielt mit Geschmack, Geruch und Bildern der Region.

Regisseur Pierre Deschamps hat René Redzepi drei Jahre lang auf seinem Weg begleitet, von der dritten Auszeichnung zum besten Restaurant der Welt im Jahr 2012 über einen Rückschlag, der das Noma 2013 schwer erschütterte, bis hin zurück an die gastronomische Weltspitze im Jahr 2014. Er konzentriert sich vor allem auf den Erfolg und das Konzept des Kochs, weniger auf seine egomanische Persönlichkeit, sein extrem strenges, militärisches Regime in der Küche, bei dem sich die eingeschüchterten Leute nicht trauen, etwas zu sagen. (Das zeigt die aktuellere Dokumentation „Ants on a shrimp".) Persönliches, wie die Erfahrung von Rassismus in Dänemark wird kurz angeschnitten, bevor kunstvolle Montagen oder schöne Inszenierungs-Ideen um das auf jeden Fall optisch reizvolle Essen wieder packen.

Den Sternen so nah

USA, 2017 (Space between us) Regie: Peter Chelsom mit Asa Butterfield, Britt Robertson, Gary Oldman, Carla Gugino 121 Min. FSK: ab 6

Der Junge, der auf die Erde fiel

Die Liebe zwischen einer Außenseiterin und einem schwerkranken Besucher aus dem All, dieses Teenie-Melodram hört sich an wie Nicolas Sparks, ist aber Peter Chelsom, was es nicht besser macht. Das gefühlsselige Konzept scheitert gänzlich in der langweiligen Montage.

Gardener (Asa Butterfield) und Tulsa (Britt Robertson) haben sich beim Chatten im Internet kennengelernt, können aber nicht zusammenkommen, weil Gardener auf dem Mars lebt. Mit den ersten Siedlern reiste seine schwangere Mutter, die direkt nach Landung und Geburt starb. 16 Jahren später sind Herz und Knochen der Schwerkraft der Erde nicht gewachsen - eigentlich. Denn die Hartnäckigkeit von Gardener und dem Chef der Mars-Raumfahrt Nathaniel Shepherd (Gary Oldman) bringen das junge Paar zusammen. Zuvor muss der Teenager aber aus den Fängen der NASA fliehen und Tusla überzeugen, dass er wirklich vom Mars kommt. Zusammen suchen sie nun Gardeners Vater.

Peter Chelsom, Regisseur von Gutem („The Mighty", „Funny Bones", „Hear my Song") und Schrecklichem („Hectors Reise oder Die Suche nach dem Glück", „Hannah Montana - Der Film") erzählt Gardeners Geschichte streng chronologisch. Und versaut dabei eine eigentlich tolle Idee mit wunderbaren Möglichkeiten um zwei Königskinder, die sich nur in der Schwerelosigkeit zwischen den Sternen finden können. Alles wird zu Anfang verraten, die Hauptfigur taucht erst nach 20 Minuten auf. Vom Mars gibt es nur unspektakuläre Bilder. Dafür wird das Teenie-Filmchen schon sentimental, bevor etwas passiert. Die Action-Momente sind schlecht getimet, dafür mit sehr dicker Musik für die richtige Stimmung unterfüttert. Mit flotten Songs wird das intensive Leben des Sonderlings mit begrenzter Lebenszeit aufgepeppt. Zwischendurch haufenweise unsinnige Sätze und die sind dann, besonders bei Oldman, auch noch schrecklich synchronisiert

Da hätte nicht nur Gardener dauernd „Der Himmel über Berlin" schauen müssen, Chelsom selbst verpasst es, irgendeinem guten Vorbild nahe zu kommen.

Der Eid

Island, 2016 (Eidurinn) Regie: Baltasar Kormákur mit Baltasar Kormákur, Hera Hilmar, Gísli Örn Garðarsson 104 Min. FSK: ab 16

Der Isländer Baltasar Kormákur ist ein Wanderer zwischen den Film-Welten: Vor und zwischen großen Thrillern wie „2 Guns" (2013) mit Denzel Washington und „Contraband" (2011) mit Mark Wahlberg drehte er faszinierendes Arthouse von schrägen Beziehungsgeschichten wie „101 Reykjavik" (2000) bis zu dem fast mythologischen Drama eines tiefgekühlten Fischers in „The Deep" (2012). In dem genialen „Devil's Island" (1995,
Regie: Fridrik Thór Fridriksson) spielte er die aus der Gesellschaft gefallene Hauptfigur. Nun verbindet der geniale Regisseur beide Welten in einem knallharten und eiskalten Thriller, der in Reykjavík spielt.

Der Familienvater und Herzchirurg Finnur (Kormákur selbst) genießt sein gutes Leben, bis die volljährige Tochter Anna mit dem Drogendealer Óttar zusammen kommt und süchtig wird. Als bei seinen Versuchen, Anna von Ottars Einfluss fernzuhalten, Anzeigen nicht helfen, greift der sportliche Arzt zu drastischen Mitteln. Aber nun soll er die Drogen, die von der Polizei einkassiert wurden, selbst bezahlen.

Zwischen den Männern um Anna gibt es nur ein kurzes Abtasten und knappe Gespräche. Als Warnschuss sehen wir im Krankenhaus, was passiert, wenn jemand zur Drohung eine Schrottflinte mit besonders gemeiner Ladung abfeuert. Eines anderen Doktors Beschreibung, was demnächst an Wunden und Schmerzen kommt, macht klar, wie heftig Baltasar Kormákur hier zu Werke gehen wird. Das hier ist mit der Grundausstattung einer ganz normalen Familie härter als Zombie-Splatter und packender als die ganze „Taken"-Trilogie von Liam Neeson. Auch wenn gleich die Leute Schlange stehen, die Finnur zum Einlenken bewegen wollen, stoppt er nicht die Gewaltspirale.

Wie schon beim iranischen Meisterwerk „The Salesman" wirkt plötzlich der Verbrecher vernünftig, während der brave Bürger sich in den Wahn hineinsteigert, ein Rache-Held aus dem Kino zu sein. Wurzelt diese Selbstüberschätzung aus Finnurs fanatischem Triathlon-Training?

So folgt man der Steigerung von Spannung und Gewalt nicht mit Begeisterung sondern mit großen Befürchtungen für alle. Sich vorzustellen, was passiert, ist nicht schwer, weil die übel hergerichteten Opfer von irgendwelchen Gangster-Geschichten ja schon bei Finnur im Operationssaal liegen.

Diese besondere Mischung aus spannendem Psychogramm und ungewöhnlichem Thriller ist ein ganz besonders böses Spiel, weil der kleine Gangster Óttar ja die große Liebe der Tochter ist. So ergibt sich ein ganz anderer, psychologisch vielschichtigerer Film als bei Kormákurs US-Thrillern „2 Guns" (2013) mit Denzel Washington und „Contraband" (2011) mit Mark Wahlberg. Höchst spannend, wie die Karriere von Baltasar Kormákur mit ebenfalls noch offenem Ende.

6.2.17

Madame Christine und ihre unerwarteten Gäste

Frankreich, 2015 (Le grand partage) Regie: Alexandra Leclère mit Karin Viard, Didier Bourdon, Valérie Bonneton, Michel Vuillermoz 103 Min. FSK: ab 0

„Madame Christine und ihre unerwarteten Gäste" ... das klingt im Satzbau wie „Monsieur Claude und seine Töchter" und ist ebenso harmlos. Wenn sich auch diese Sozialkomödie, eine ziemlich alte Klamotte aus Frankreich, nicht ganz so zum Fremdschämen eignet. Ein arroganter reicher Rechter meckert über die Protestler auf der Straße. Der Winter ist brutal und vielen Menschen fehlt eine Wohnung, da beschließt die Regierung, dass ab einer bestimmten Wohnungsgröße notleidende Menschen aufgenommen müssen. Nanu ... schwindelt es der Kamera angesichts dieses Gesetzes oder schläft der Kameramann angesichts der lahmen Sozialkritik ein?

Das große Teilen - so der Originaltitel - beginnt jedenfalls und während der allein lebende Nachbar Michel (Patrick Chesnais) seine Wohnung begeistert für bedürftige öffnet, ist das rechte Ekel Pierre Dubreuil (Didier Bourdon) entsetzt. Er holt die Mutter aus dem Altersheim ran, ja, selbst die Haushälterin darf einziehen und kriegt gar noch Geld dafür. Aber auch durch die große Wohnung der linken Universitäts-Dozentin geht ein Riss. Sie liest die Liberation, aber quartiert die schwarze Frau mit Kind in der Dachkammer ein. Gegenseitig denunziert man sich wegen des Belegungsgesetzes, bis zum Zickenkrieg mit Schneeballschlacht. Um den Humor so richtig auf die Spitze zu treiben, ist des Ekels Ehefrau (Karin Viard) sexuell frustriert.

Zwar leben in Frankreich Sozialismus und sogar noch Kommunismus, bei den kulturell höher entwickelten Nachbarn wird auch für die Rechte der Arbeiter und nicht der Piloten gestreikt, aber diese krampfige schematische Darstellung hat der linke Kampf nicht verdient. Figurenzeichnung und soziale Unterteilung wurden mit dem Holzhammer erledigt. Die Bourgeoisie ist so realistisch wie in einem französischen Film und ist es wirklich witzig, wenn die Haushälterin mit leichter Ähnlichkeit zu Marine Le Pen bei Erwähnung von „Frau mit Hund" nach der Rasse fragt … der Frau! Gänzlich wird allerdings der Kampf zum Krampf, wenn aus heiterem Himmel, höchstens unterstützt von sexuellen Reizen, Verbrüderung hereinbricht. Diese nicht komische sondern seltsame Utopie will niemand.

The Girl with all the Gifts

Großbritannien, USA, 2016 Regie: Colm McCarthy mit Gemma Arterton, Sennia Nanua, Glenn Close, Paddy Considine 112 Min. FSK: ab 16

Da gibt es im vor sich hin wesenden Körper des Zombie-Genres tatsächlich noch ansteckend spannende Varianten: Drew Barrymore startet auf Netflix gerade eine Zombie-Diät in der Comedy-Serie „Santa Clarita Diet" und der Horror-Thriller „The Girl with all the Gifts", nach einem Roman von M.R. Carey, erreicht die sozial kluge unterfütterte Qualität von großen Zombie-Klassikern wie Romeros „Die Nacht der lebenden Toten" und modernen (britischen) Wiederbelebungen wie Danny Boyles „28 Days Later".

In einem unterirdischen Verließ wird die ungemein freundliche Streberin Melanie (Sennia Nanua) wie viele andere Kinder jeden Morgen im Rollstuhl gefesselt zum Unterricht geschoben. Staunend verfolgt man die spannende Situation, in der die Kinder unter strengster Beobachtung und vorgehaltenen Waffen wie Schwerstkriminelle gehalten werden. Die Lösung lauert oben vor der militärischen Festung: So schnell wie ein fieser Virus wirkte, springen einen heftige Zombie-Attacken an. Die Kinder sind eine neue Evolution der eigentlich tumben Menschenfresser: Hochintelligent, sprechend, statt grunzend, aber noch genauso blutrünstig.

Als die Festung fällt, macht sich eine Handvoll Militärs unter der Leitung von Sgt. Eddie Parks (Paddy Considine) auf den Weg zum nächsten Schutzort. Mit dabei ist gezwungenermaßen Melanie. Dr. Caroline Caldwell (Glenn Close) will das Kind zu einem Antikörper-Mittel verwursten und die Lehrerin Helen Justineau (Gemma Arterton) hat ein großes Herz für das meist sympathische Mädchen. Melanie ist sehr intelligent, vielleicht sogar intelligenter als die Menschen. Gleichzeitig ist sie noch ganz Kind, das sich freut, mit dem Walkie-Talkie spielen zu können.

Die Flucht geht mitten durch London, wo es von Zombies wimmelt. Der Plan, das ruhig und ohne ruckartige Bewegungen zu machen, scheitert schnell. Doch das übliche Zombie-Gemetzel hält sich zurück - für Spannung und viel Raum für die Figuren. Erst spät gibt es auch ein wenig vom typischen Zombie-Humor, wenn die dumpfe Masse einem kleinem Kläffer hinterher taumelt. Früh wird aus der griechischen Mythologie die Büchse der Pandora erwähnt, in der ja ganz unten in einer Ecke auch die Hoffnung steckt. Und die immer philosophischeren Gespräche zwischen dem Sprössling einer neuen Menschengattung und der rücksichtlosen Wissenschaftlerin Caldwell stellen die alten Fronten auf den Kopf. Das ist mit Glenn Close und der jungen Entdeckung Sennia Nanua super besetzt und gut gespielt. Sehr viel Eindruck macht auch das großartige Produktionsdesign eines post-apokalyptischen Englands. Man kann mit Dylan erfreut konstatieren „Death is not the end".

4.2.17

Madame Christine und ihre unerwarteten Gäste

Frankreich, 2015 (Le grand partage) Regie: Alexandra Leclère mit Karin Viard, Didier Bourdon, Valérie Bonneton, Michel Vuillermoz 103 Min. FSK: ab 0

„Madame Christine und ihre unerwarteten Gäste" ... das klingt im Satzbau wie „Monsieur Claude und seine Töchter" und ist ebenso harmlos. Wenn sich auch diese Sozialkomödie, eine ziemlich alte Klamotte aus Frankreich, nicht ganz so zum Fremdschämen eignet. Ein arroganter reicher Rechter meckert über die Protestler auf der Straße. Der Winter ist brutal und vielen Menschen fehlt eine Wohnung, da beschließt die Regierung, dass ab einer bestimmten Wohnungsgröße notleidende Menschen aufgenommen müssen. Nanu ... schwindelt es der Kamera angesichts dieses Gesetzes oder schläft der Kameramann angesichts der lahmen Sozialkritik ein?

Das große Teilen - so der Originaltitel - beginnt jedenfalls und während der allein lebende Nachbar Michel (Patrick Chesnais) seine Wohnung begeistert für bedürftige öffnet, ist das rechte Ekel Pierre Dubreuil (Didier Bourdon) entsetzt. Er holt die Mutter aus dem Altersheim ran, ja, selbst die Haushälterin darf einziehen und kriegt gar noch Geld dafür. Aber auch durch die große Wohnung der linken Universitäts-Dozentin geht ein Riss. Sie liest die Liberation, aber quartiert die schwarze Frau mit Kind in der Dachkammer ein. Gegenseitig denunziert man sich wegen des Belegungsgesetzes, bis zum Zickenkrieg mit Schneeballschlacht. Um den Humor so richtig auf die Spitze zu treiben, ist des Ekels Ehefrau (Karin Viard) sexuell frustriert.

Zwar leben in Frankreich Sozialismus und sogar noch Kommunismus, bei den kulturell höher entwickelten Nachbarn wird auch für die Rechte der Arbeiter und nicht der Piloten gestreikt, aber diese krampfige schematische Darstellung hat der linke Kampf nicht verdient. Figurenzeichnung und soziale Unterteilung wurden mit dem Holzhammer erledigt. Die Bourgeoisie ist so realistisch wie in einem französischen Film und ist es wirklich witzig, wenn die Haushälterin mit leichter Ähnlichkeit zu Marine Le Pen bei Erwähnung von „Frau mit Hund" nach der Rasse fragt … der Frau! Gänzlich wird allerdings der Kampf zum Krampf, wenn aus heiterem Himmel, höchstens unterstützt von sexuellen Reizen, Verbrüderung hereinbricht. Diese nicht komische sondern seltsame Utopie will niemand.

The Girl with all the Gifts

Großbritannien, USA, 2016 Regie: Colm McCarthy mit Gemma Arterton, Sennia Nanua, Glenn Close, Paddy Considine 112 Min. FSK: ab 16

Da gibt es im vor sich hin wesenden Körper des Zombie-Genres tatsächlich noch ansteckend spannende Varianten: Drew Barrymore startet auf Netflix gerade eine Zombie-Diät in der Comedy-Serie „Santa Clarita Diet" und der Horror-Thriller „The Girl with all the Gifts", nach einem Roman von M.R. Carey, erreicht die sozial kluge unterfütterte Qualität von großen Zombie-Klassikern wie Romeros „Die Nacht der lebenden Toten" und modernen (britischen) Wiederbelebungen wie Danny Boyles „28 Days Later".

In einem unterirdischen Verließ wird die ungemein freundliche Streberin Melanie (Sennia Nanua) wie viele andere Kinder jeden Morgen im Rollstuhl gefesselt zum Unterricht geschoben. Staunend verfolgt man die spannende Situation, in der die Kinder unter strengster Beobachtung und vorgehaltenen Waffen wie Schwerstkriminelle gehalten werden. Die Lösung lauert oben vor der militärischen Festung: So schnell wie ein fieser Virus wirkte, springen einen heftige Zombie-Attacken an. Die Kinder sind eine neue Evolution der eigentlich tumben Menschenfresser: Hochintelligent, sprechend, statt grunzend, aber noch genauso blutrünstig.

Als die Festung fällt, macht sich eine Handvoll Militärs unter der Leitung von Sgt. Eddie Parks (Paddy Considine) auf den Weg zum nächsten Schutzort. Mit dabei ist gezwungenermaßen Melanie. Dr. Caroline Caldwell (Glenn Close) will das Kind zu einem Antikörper-Mittel verwursten und die Lehrerin Helen Justineau (Gemma Arterton) hat ein großes Herz für das meist sympathische Mädchen. Melanie ist sehr intelligent, vielleicht sogar intelligenter als die Menschen. Gleichzeitig ist sie noch ganz Kind, das sich freut, mit dem Walkie-Talkie spielen zu können.

Die Flucht geht mitten durch London, wo es von Zombies wimmelt. Der Plan, das ruhig und ohne ruckartige Bewegungen zu machen, scheitert schnell. Doch das übliche Zombie-Gemetzel hält sich zurück - für Spannung und viel Raum für die Figuren. Erst spät gibt es auch ein wenig vom typischen Zombie-Humor, wenn die dumpfe Masse einem kleinem Kläffer hinterher taumelt. Früh wird aus der griechischen Mythologie die Büchse der Pandora erwähnt, in der ja ganz unten in einer Ecke auch die Hoffnung steckt. Und die immer philosophischeren Gespräche zwischen dem Sprössling einer neuen Menschengattung und der rücksichtlosen Wissenschaftlerin Caldwell stellen die alten Fronten auf den Kopf. Das ist mit Glenn Close und der jungen Entdeckung Sennia Nanua super besetzt und gut gespielt. Sehr viel Eindruck macht auch das großartige Produktionsdesign eines post-apokalyptischen Englands. Man kann mit Dylan erfreut konstatieren „Death is not the end".