18.1.17

Manchester by the Sea

USA 2016 Regie: Kenneth Lonergan mit Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Gretchen Mol 138 Min. FSK: ab 12

„Manchester by the sea" ist der nächste heiße Preis-Kandidat des Film-Jahres. Ein Affleck-Film, aber mit dem „kleinen" Bruder Casey. Ein emotionaler Film, jedoch ohne den üblichen, tränendrüsigen Kitsch. Die gleiche Thematik wie in „Verborgene Schönheit" und doch ein ganz anderer Film: Als sein älterer Bruder stirbt, kehrt Lee Chandler (Casey Affleck) zurück in seine Heimatstadt Manchester by the Sea an der US-Ostküste. Er kümmert sich um die Formalitäten und seinen Neffen Patrick (Lucas Hedges). Der ist 16, aber viel vernünftiger und erwachsener als Lee. Während der Junge seine Freunde und auch gleich zwei Freundinnen hat, lebt Lee einsam und alles andere als kontaktfreudig. Dabei sind die Mitmenschen an ihm interessiert, bei einem zu langem Blick schlägt er jedoch schon mal besoffen zu.

Eine geschickte Montage mit Rückblenden zu Lees Erinnerungen eröffnet langsam den Grund für seine tiefen Frustrationen. Eine familiäre Katastrophe zur Filmmitte lässt ihn mit schwer erträglicher Schuld zurück. Eine Schuld, die er alleine tragen muss, denn erstaunlicherweise erfolgt keine Strafverfolgung. Der Rest des Lebens ist die Strafe für ihn. Deshalb ist die Rückkehr zum Ort voller Erinnerungen unerträglich, deshalb kann er sich auch nicht in Manchester um Patrick kümmern, der gerne an seiner Schule, bei seinen Freunden und beim geliebten Boot des Vater bleiben würde.

Filme über Einzelgänger, die sich plötzlich um andere Menschen kümmern müssen, sind schon fast ein eigenes Genre. „Manchester by the sea" ist darin auf eine ruhige Art intensiv und durchgehend packend. Ohne Kitsch, ohne Vereinfachung oder Abkürzungen. Lee kümmert sich gut um praktische Probleme und Alltagssorgen, als Hausmeister und im eigenen Leben. Im Umgang mit Menschen bekommt der fast katatonisch Unnahbare nicht mal Smalltalk hin. Mit den Verwandten bleibt er hilflos, distanziert. Der vaterlose Patrick muss selbst auf ihn zugehen.

In der Kinowoche der unkontrolliert im Leid verschlossenen Männer ist „Manchester by the sea" die bessere Empfehlung. Interessant und bis auf den Einsatz klassischer Musik in den großen Momenten, zurückhaltend berührend, allerdings nicht über die Maßen genial inszeniert. Jedoch, auch wenn es ein langer Film ist, gelingen Regisseur Kenneth Lonergan knappe, klare Szenen wie Patricks erstes Wiedersehen mit seiner Mutter nach Jahren. Es gibt kein großes Happy End, keine Wunder, aber kleine Fortschritte wie eine Umarmung.

Bei dieser Männerproblematik kommen Frauen nicht besonders gut weg. Die kleinen und großen Jungs wollen ihren besoffenen Spaß und Frauen meckern dabei rum. Was, wie die taz und die New York Times bemerkten, symptomatisch auch für die anderen Filme aus dem Affleck/Damon-Umkreis sei. In Folge des frühen Erfolges „Good Will Hunting" gab es mehrere Zusammenarbeiten von Ben Affleck und Matt Damon, der hier produzierte, vor und hinter der Kamera. Casey Affleck, Matt Damon und Gus Van Sant realisierten so 2005 den extremen Wüstenfilm „Gerry", ganz ohne Frauen. Ironischerweise und konsequent in der Logik des Films hat nun in „Manchester by the sea" Michelle Williams als ehemalige Frau von Lee die emotionalste Szene. Schon ihr Auftritt macht den Film sehenswert.