16.1.17

Der die Zeichen liest

Russland, 2016 (Uchenik) Regie: Kirill Serebrennikow mit Petr Skwortsow, Wiktoria Isakowa, Julia Aug 118 Min. FSK: ab 12

Wie ein russischer Taliban gebärdet sich der Teenager Benjamin (Petr Skwortsow) in der Schule - nur ist die Betriebsanleitung für diesen Wahnsinn nicht der Koran sondern die christliche Bibel: Zuerst weigert sich der Junge mit der Bibel in der Hand, am Schwimmunterricht teilzunehmen. Die Bekleidung der Mädchen sei unzüchtig, erklärt er mit passendem Zitat aus dem Alten Testament. Zum Schnellfeuer der Bibelsprüche werden deren Quellenangaben als Text eingeblendet. Arrogant und selbstgerecht macht er allen moralische Vorwürfe. Die Themen Homosexualität und Verhütung führen im Biologie-Unterricht wie im tiefsten Bayern zu einem Aufruhr Benjamins und dann der gesamten Schulleitung. Die Evolutionstheorie wird gleich mit angegriffen, während der aggressive Gymnasiast im Affenkostüm herumturnt.

Ist es nur eine pubertäre Verwirrung, die anderswo zum Amoklauf führt? Einen gehänselten Mitschüler mit einem kürzeren Bein will Benjamin aber tatsächlich heilen. Seine Mutter verzweifelt, das versoffene, abgewrackte Lehrerkollektiv, ein Mikrokosmos der russischen Gesellschaft, suhlt sich rückwärtsgewandt in Melancholie. Das bebildert Regisseur Kirill Serebrennikow kunstvoll, wenn die Klasse im Geschichtsunterricht - in Benjamins Wahn? - plötzlich in den Schuluniformen der betreffenden Stalin-Zeit gekleidet ist.

Mit beeindruckender handwerklicher Exzellenz und großer Kunstfertigkeit inszeniert er erschreckende Erscheinungen, die deshalb nicht weniger real sind. Die sehr vernünftige, aufgeklärte Biologielehrerin Lena treibt das fast in den Wahnsinn. Als auch eine geschlossene Front rückständigen Denkens sie nicht kleinkriegt, verfällt die Gesellschaft der Lehrer ausgerechnet während des Disziplinarverfahrens gegen Benjamin ein eine Hexenjagd gegen die Jüdin Lena. So scheitern ihre klugen Versuche, ihn mit den eigenen Waffen, also noch mehr Bibelsprüchen, zu schlagen. Das seit seinem Debut in Cannes gefeierte junge Meisterwerk nach Marius von Mayenburgs Bühnenstück „Märtyrer" ist nicht nur hochinteressant in diesen Zeiten wiederaufkeimender Religiosität, sondern auch besonders packend realisiert.