29.7.16

Collide

Großbritannien, BRD 2016 Regie: Eran Creevy mit Nicholas Hoult, Felicity Jones, Anthony Hopkins, Ben Kingsley 99 Min. FSK: ab 12

Ein goldener Oscar glänzt mitten auf einem schmierigen Schrottplatz. So muss man sich die Anwesenheit von Anthony Hopkins in diesem schrottigen Film um viele Autos und andere Blechschäden vorstellen. „Collide" ist einer der größten Unfälle in der automobilen Filmgeschichte: Angetrieben von den Namen Anthony Hopkins und Ben Kingsley auf dem Film-Plakat schwingt sich die aus dem Unterschichten-Fernsehen bekannte Autobahn-Polizei-Produktion von „Alarm für Cobra 11" zu internationalen Filmhöhen auf, um doch nur kläglich als Schrotthaufen wieder auf eben jener Film-Autobahn im nordrhein-westfälischen Aldenhoven-Siersdorf zu landen.

Zwei Amerikaner treffen sich beim Rave in Köln: Der junge Casey (Nicholas Hoult) hat in den Staaten ein wenig Ärger, Juliette (Felicity Jones) will Spaß. Ein passendes Paar, bis Juliette eine neue Niere braucht, und die gibt es irgendwie nur für Geld, für viel Geld. Also nimmt Casey wieder seinen Job als Autodieb für den durchgeknallten Dealer Geran (Ben Kingsley) auf. Er klaut einen Laster voller Koks des schwerreichen Geschäftsmannes und Drogenbosses Hagen Kahl (Anthony Hopkins) und nachher mitsamt vieler Autos noch ein paar Millionen Drogengeld. Es folgt die billige Kopie von „The Fast and the Furious", die Film-Autobahn wird rauf und runter gebrettert, zwischendurch rast man auch durch die engen Altstadt-Gassen von Monschau in der Eifel.

„Collide" ist direkt Favorit für einige Goldene Himbeeren und Witznummer in der Geschichte lokaler Filmsets. Dass die alte Action-Größe Joel Silver („Matrix", „Brennpunkt L.A.", „Stirb langsam", „Nur 48 Stunden") mitproduzierte, ist erstaunlich. Das einzige Erstaunliche am ganzen Film-Blech. Anthony Hopkins und Ben Kingsley liefern ein interessantes Gespräch über unterschiedliche Position im Leben, der arrogante, kühl überhebliche Geschäftsmann übertrumpft den Vollblut-Kriminellen mit zu viel Drogen im Hirn. Ansonsten nur unendlich öder, mäßig gemachter und logisch völlig löchriger Action-Kram, den sich nur ein Hirn mit Bleifußvergiftung ausdenken kann. Der international unter dem vielsagenden Titel „Autobahn" vermarktete Film fand bislang nur noch in Japan, den USA und Estland Interessenten.

Maggies Plan

USA, Großbritannien 2015 Regie: Rebecca Miller mit Greta Gerwig, Ethan Hawke, Julianne Moore 99 Min. FSK: ab 0

Gerade war sie in „Wiener Dog" noch als Dawn Wiener zu erleben, jetzt ist Greta Gerwig als Maggie wieder voll und ganz „die Gerwig": Neurotisch, chaotisch, umwerfend selbstüberzeugt und gleichzeitig unendlich naiv auf entwaffnende Weise. Bestens aufgehoben und eingebettet ist Gerwig hier in einem jungen und weiblichen Woody Allen-Film, der tatsächlich von der Schauspielerin, Schriftstellerin und Regisseurin Rebecca Miller („Pippa Lee", 2009) stammt.

Wie bei Woody Allen geht es direkt zur Sache und das mit vielen herrlich weiblich komischen Dialogen: Mit ihrem Ex-Freund aus Studienzeiten bespricht Maggie (Greta Gerwig) ihren Kinderwunsch. Der ist stark, auch wenn keine ihrer Beziehungen länger als sechs Monate hält. Deshalb hat sie einen ehemaligen Studien-Kollegen und jetzigen „Gurken-Unternehmer" als Samenspender erkoren. Sonst will sie nichts von ihm, höchstens noch ein Glas der leckeren Gurken. Eine schon umwerfend peinliche und komische Situation. Aber ausgerechnet als die Befruchtung im Do-it-yourself-Verfahren vollzogen ist, klingelt dieser nette, charmante und nicht nur intellektuell faszinierende Kollege John (Ethan Hawke) von der Uni, der von seiner noch klügeren Frau furchtbar ausgenutzt wird...

Drei Jahre später sind Maggie und John ein Paar. Eltern sind sie auch, wobei sich Maggie ziemlich oft zusätzlich noch um die Kinder aus Johns erster Ehe kümmert. Und um den Haushalt. Und um seinen Roman, der die beiden eigentlich zusammenbrachte, aber einfach nicht fertig wird. Vielleicht weil John stundenlang die Psyche seiner Ex am Telefon wieder aufbauen muss?

Da ganz bitter die Rollen gewechselt wurden und diesmal John die narzisstische Rose und Maggie die Gärtnerin ist, will sie den Mann wieder loswerden. Dessen Ex, die exzentrische Wissenschaftlerin Georgette (Julianne Moore), findet die Ideen nach kurzem Beleidigtsein gar nicht so schlecht und John findet sich nach weiterem wunderbarem Hin und Her auf der Straße wieder - mit herrlicher Aufregung, für die sich niemand interessiert.

Rebecca Miller legt zusammen mit Greta Gerwig und der grandios zickigen Julianne Moore eine Frauengeschichte hin, für die sich auch jederman(n) begeistern kann. Die trotzige Familienplanung an allen Realitäten vorbei, die eigenwillige Beziehungs-Gestaltung, die scheinbar ein Rückgaberecht des Partners an die betrogene Ex einschließt. Das sind moderne großstädtische Intellektuelle, deren Verhalten reizvoll verrückt und gleichzeitig sehr treffend erscheint. So wie Gerwig changiert der Film zwischen völliger Künstlichkeit und spontanen Ausbrüchen von purem Natürlichen. Zum Spaß gehört auch, dass Miller herrlich der Künstler- und Intellektuellen-Szene New Yorks spottet, die sich mit so etwas wie „fikto-kritischer Anthropologie" beschäftigt.

Greta Gerwig ist Profi für solche Filme und Rollen, seien sie von ihrem Partner Noah Baumbach oder von der als Schriftstellerin wie Regisseurin gleichermaßen exzellenten Rebecca Miller. (Genau, die Tochter von Arthur und die Frau von Daniel Day-Lewis, was allerdings nichts mit ihrem Können zu tun hat.) Gerwig begeistert wieder mit ihrer Art der „Funny walks", mit ihren Gesichtsausdrücken dauernden Staunens über die große, große Welt und ihre gemeinen Überraschungen. Miller liefert eine tolle, sehr komische und kluge Überraschung der angenehmsten Art.

26.7.16

Zeit für Legenden

Kanada, BRD 2016 (Race) Regie: Stephen Hopkins mit Stephan James, Jason Sudeikis, Jeremy Irons, Carice van Houten, William Hurt, Eli Goree, David Kross, Barnaby Metschurat 118 Min. FSK: ab 0

Der Moment ist zu schön, um wahr zu sein, doch genau das ist er: Bei „Hitlers Spielen", den Olympischen von 1936, gewinnt der schwarze Leichtathlet Jesse Owens (1913-1980) vier Goldmedaillen und verhöhnt damit die rassistische Ideologie der Nazis. „Zeit für Legenden" ist nun der Film über den Weg von Owens zu den Spielen. Und so ein typischer Sportfilm mit einem harten Trainer, der zum Freund wird. Und selbstverständlich ein eigenes Trauma mit sich rumschleppt. Der politische Hintergrund dieser mehrfach politischen Geschichte spielt sich vor allem in den USA ab, wo sich das nationale olympische Komitee mit der populären Forderung eines Boykotts auseinandersetzen muss. Die großartigen William Hurt und Jeremy Irons (als späterer Präsident des Internationalen Olympischen Komitees Avery Brundage) fechten die bekannten Standpunkte um die zeitlose Phrase „Politik hat im Sport nichts zu suchen" aus. Brundages Besuch im düster futuristischen Berlin ist ein furchtbarer Geschichts-Exkurs mit Carice van Houten als Leni Riefenstahl und Barnaby Metschurat als Goebbels. Die kosmetischen Vorschläge des obersten Olympioniken der USA werden dem Propaganda-Minister devot übersetzt. Wie dieser kühl beobachtet, dass Brundage eine millionenschwere Bestechung nach sehr kurzem Zögern annimmt, ist vielleicht das aktuellste Statement des Films.

Das andere Thema ist Rassismus, der Originaltitel „Race" bedeutet gleichzeitig Rasse und Rennen. Warnungen vor dem Rassismus in Nazi-Deutschland beantwortet Owens mit Hinweisen auf den Rassismus zuhause. Obwohl er bei seinem ersten Rennen für seine Universität gleich drei Weltrekorde bricht, muss er beim Duschen auf die weißen Footballer warten und die Rassentrennung in den Bussen einhalten.

Die Aufstiegsgeschichte eines schwarzen Sportlers inmitten der Wirtschaftskrise ist in vielerlei Hinsicht interessant, das Dilemma des Talents zwischen persönlichem und politischem Weg schnell abgehandelt. Regisseur Stephen Hopkins tat sich bisher vor allem durch Routine hervor und Routine präsentiert er auch hier. Informativ, recht unterhaltsam, aber zu wenig für diesen einzigartigen historischen Moment.

Seefeuer

Italien, Frankreich 2016 (Fuocoammare) Regie: Gianfranco Rosi 114 Min. FSK: ab 12

Schon während der Berlinale war diese Flüchtlings-Dokumentation umstritten, nach der Preisverleihung, bei der es einen Goldenen Bären gab, herrschte Unverständnis. Dass „Seefeuer" für Puristen kein richtiger Dokumentarfilm ist, sondern immer wieder unübersehbar inszeniert, geschenkt. Dass es allerdings von allen „Flüchtlings-Filmen" so ziemlich der schlechteste ist, dass er mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit von den Gestrandeten wegschaut und sich meist auf einen italienischen Jungen auf der Insel Lampedusa konzentriert, das muss erstaunen.

„Seefeuer" dreht sich vor allem um den 12-jährigen Samuele, der auf einer italienischen Insel lebt. Dieser Protagonist ist ein nicht besonders heller Junge mit Sehschwäche, ein übereifriger kleiner Selbstdarsteller, der auch schon mal seinen Vater in dessen Schiffs-Kajüte für die Kamera interviewt. Samuele bastelt sich eine Schleuder, Samuele fährt auf dem Moped, Samuele fährt aufs Meer. Das bekommt ihm allerdings nicht so gut, ebenso wenig wie die Brille wegen seines „faulen Auges".

Ein Jahr lang beobachtete Regisseur Gianfranco Rosi dieses Leben auf Lampedusa, der Insel, auf der laut diesem Film „nebenbei" zehntausende Flüchtlinge ankamen. Aber nur ganz selten widmet sich der Film dem Thema, unter dem er angepriesen wird. Wenn ein Arzt erschütternde Dinge über den Zustand der Flüchtlinge erzählt und seine Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Oder der in allen Kritiken erwähnte „Rapper", der im Chor der Geflüchteten von seinem Weg aus Nigeria erzählt, als einziger der Afrikaner etwas erzählen darf!

Das Nebeneinander der Flüchtlinge im Lager zu dem typisch italienischem Leben mit Volksliedern, Spaghetti-Essen und Espresso (sic!) bleibt ein Nebeneinander, da wo andere Dokumentationen gerade von der Begegnung helfender Einwohner erzählten. Ein Hohn, weil sich ja gerade niemand auf diesem internationalen Niveau für die Menschen der Insel interessieren würde, wenn nicht die anderen Menschen dort stranden würden. Soll man die ausführliche medizinische Vorsorge für lächerliche Problemchen des hypochondrischen Samuele vielleicht mit den verätzten Körpern der Afrikaner vergleichen?

„Seefeuer" ist ein sehr ärgerlicher und uninteressanter Film, bis zum Schluss tatsächlich eine Barke im Bild aufgenommen wird, die völlig Entkräfteten in Rettungsboote gezogen und notdürftig versorgt werden. Ihre ausgemergelten Gesichter kann man durch andere Geschichten mit Leben füllen. Das ist ein Stück erschütternder Film, von dem Regisseur Rosi nicht mehr fand. Auch weil wohl während seines einjährigen Aufenthalts eine Aufnahmestelle renoviert wurde! Eine ganz schlechte Entschuldigung für einen Dokumentaristen. Deshalb verwundert auch noch ein halbes Jahr später die Entscheidung der Berlinale-Jury, „Seefeuer" mit einem Goldenen Bären auszuzeichnen.

Wiener Dog

USA 2016 Regie: Todd Solondz mit Julie Delpy, Greta Gerwig, Kieran Culkin, Danny DeVito, Ellen Burstyn 88 Min. FSK: ab 12

In einem bewegenden Auftritt schlüpft der gealterte Schauspieler und Regisseur Danny DeVito („Der Rosenkrieg - bis daß der Tod uns scheidet") in die Haut des Regisseurs Todd Solondz: Er wolle doch nur etwas Wahres zeigen, was aus der Kindheit, ein Traum, auch wenn es schmerzt, sagt der Drehbuch-Professor Dave Schmerz (DeVito). Ein paar Scherze dazu, aber nicht zu viele, wie bei Schmerzens größtem Erfolg, der ihm nur noch peinlich ist. Dieser Routinier der traurigen Gestalt ist eine der Figuren in den vier Episoden von „Wiener Dog", in denen sich alles und nichts um die Wurst dreht. Die Wurst mit vier Beinen, die wir Dackel und die Nord-Amerikaner nach dem Wiener Würstchen Wiener Dog nennen.

Ein Junge, bei dem gerade der Krebs geheilt wurde, liebt seinen Dackel, doch ein Müsli-Riegel samt ausführlich dokumentierter Verdauungsstörung beim Hund lässt die Wohnung und die Geduld der aberwitzig unsensiblen Eltern überlaufen. Die junge, naive Tierarzt-Assistentin Dawn Wiener (Greta Gerwig) entführt den Hund vor dem Einschläfern und begibt sich mit einem Junkie (Kieran Culkin) auf einen scheinbar hoffnungslosen Road-Trip. Nach der Episode mit DeVito, ebenfalls mit bunt fotografierter Depression irritierend komisch, bekommt die alte Schauspielerin Nana (Ellen Burstyn) Besuch von einer gierigen Enkelin und den Geistern eines besseren Lebens.

Wie schon in Solondz' bekanntesten und schockierendsten Film „Happiness" (1998) bleibt einem das Lachen oft im Halse stecken oder es bricht verlegen heraus, weil Situationen völlig unverschämt und gleichzeitig faszinierend sind. Das Haustier Wiener Dog ist hier nur Begleiter am Rande, der gnadenlos klare Blick von Solondz („Palindrome", „Storytelling", „Willkommen im Tollhaus") liegt auf dem Menschen in nicht schmeichelnden Zuständen. Julie Delpys Gute Nacht-Geschichten vom Hund Muhammed, der im Wald Eichhörnchen vergewaltigt und als Handtasche endet, gehören ebenso zu den bemerkenswerten Momenten, wie die Meinung einer Mariachi-Band zur Lage der us-amerikanischen Nation: Wie ein großer, fetter Elefant, der in einem Meer der Verzweiflung versinkt. Das sieht man dank einer bemerkenswerten Reihe von Stars, einer sicheren, unglaublich klaren Inszenierung und dem sympathisch makabren Humor von Solondz immer wieder gerne.

25.7.16

Pets

USA 2016 (The Secret Life of Pets) Regie: Chris Renaud, Yarrow Cheney (Co-Regie) 87 Min. FSK: ab 0

„Pets", das sind Haustiere der niedlichen Art. Also nicht jene, welche jeden Zentimeter Grün verkoten und mit ekligem Gestank verseuchen, nicht die auch mal Kinder auf dem Spielplatz anfallen. Harmlos, dämlich bis zur Niedlichkeit, ganz wie dieser Zeichentrick-Film für die ganz kleinen Ansprüche: Max ist ein typisch dämliches Haustier. Der gefleckte Mischling wartet den ganzen Tag an der Tür, bis Frauchen wieder zurückkommt. Frauchen, mit der er eine ganz enge Beziehung hat. Glaubt Max. Bis Frauchen mit dem großen Herzen einen riesigen, lausigen Bettvorleger aus dem Tierheim mit nach Hause bringt. Der lächelt dümmlich, zeigt aber wo es nun langgeht, wenn die beiden Köter alleine sind. Duke schmeißt Max nicht nur aus dessen Hundbett, er will den eingebildeten Strolch sogar in einer dunklen Gasse voller Katzen aussetzen. Dabei geraten beide allerdings in die Schlinge der Hundefänger und danach in die Gewalt eines herrlich psychotischen Kaninchens, das die Unterwelt beherrscht.

Wir sind in New York, hier gibt es auch im Tierleben Paten und Psychopathen. Snowball führt mit lieblichen Kulleraugen und dämonischem Blick dahinter all die Viecher an, die von ihren Besitzern „das Klo runtergespült wurden". Was für den Alligator exakt stimmen mag, für Snowball eher allegorisch. Während Max und Duke beim Durchschlagen in Brooklyn selbstverständlich Kumpels werden, organisiert die Freundin von Max mit den anderen Haustieren vom Block die Suchaktion mit einem Haufen Action. Ein alter Dackel auf Rädern zeigt ihnen dabei ganz besondere Wege durch New York.

„Pets" ist vor allem ein Action- und Buddy-Film mit niedlichen Tieren, die sich nur teilweise als originelle Charaktere entpuppen können. Wer den Trailer kennt, hat auch schon alles gesehen, was so im „geheimen Leben der Haustiere" (des Originaltitels) passiert. Wirklich großartig legt nur das Kaninchen los - am Steuer eines Busses zu Beastie Boys „No Sleep Till Brooklyn". Anders als bei „Toys" wird der Zustand der Tiere von ihnen selbst nicht reflektiert. Der Film läuft einfach ab, mit Erkenntnisgewinn wie in „Alles steht Kopf" ist nicht zu rechnen. Letztendlich landen alle „Pets" wieder bei ihren einsamen Menschen, die vielleicht mehr Zeit miteinander als mit ihren Tieren verbringen sollten.

21.7.16

Legend of Tarzan

USA 2016 (The Legend of Tarzan) Regie: David Yates mit Alexander Skarsgård, Margot Robbie, Samuel L. Jackson, Christoph Waltz 109 Min.

Der vom belgischen König Leopold grausam privat ausgebeutete Kongo ist Ende des 19. Jahrhunderts Schauplatz eines Massakers an und von den Einheimischen. Mittendrin Christoph Waltz wieder sensationell zynisch, entspannt und bürokratisch effizient als Capt. Léon Rom, als Verwalter der Grausamkeit. Für eine Handvoll Diamanten verspricht er einem Häuptling (Djimon Hounsou) Hilfe bei dessen Racheplan: Tarzan muss zurück nach Afrika! Der Lianen-Schwinger ist allerdings mittlerweile Lord Greystoke und Parlamentsabgeordneter in London, in einem reichen Adelshaushalt verheiratet mit Jane (Margot Robbie). Aber britische Regierungsbeamte locken (schon damals) mit der Lüge von den vielen Jobs, die Tarzans Stippvisite einbringen würde. Und der us-amerikanische Delegierte George Washington Williams (Samuel L. Jackson) überzeugt den Lord letztlich mit seinem Anliegen, den Sklavenhandel aufzudecken.

So kehrt Tarzan inkognito als Backpacker in seine Heimat zurück, schmust mit Löwen und sieht Waggonladungen voller Elefanten-Stoßzähne. Ein melancholischer Mann, in dem viele (schwarzweiße) Erinnerungen wühlen. Der Abenteuerfilm nach den Erzählungen von Serien-Schreiber Edgar Rice Burroughs schreitet mit den Rückblenden zur bekannten Tarzan-Geschichte eher gemächlich voran. Bis der Schurke Rom mit seiner Söldner-Truppe ein Dorf niederbrennt, Jane und andere Frauen entführt. Der restliche Verlauf ist klar: Eine äußerst rasante Jagd zu Fuß durch den Dschungel mit einem albern langsamen George hintendran. Action-Einlagen, wenn Tarzan einen ganzen Eisenbahnwagen voller belgischer Soldaten verprügelt. Dazu die klassischen Szenen, die Lianen-Schwingerei, die Affen und Elefanten, sowie der Sprung vom Wasserfall.

„Legend of Tarzan" vom Harry Potter-Regisseur David Yates ist kein stimmiger, durchgehend anspruchsvoller Film. Es wird einem haufenweise Blödsinn vorgegaukelt, der Herr des Dschungels muss heutzutage selbstverständlich auch ein Superheld sein. In die Begegnung mit den aggressiven Ziehbruder Tarzans platzt ein pubertärer Genital-Scherz. Aber für ein Abenteuer-Filmchen ist diese erneute Verfilmung der reifen Tarzan-Geschichte nach „Greystoke" (1984) erfreulich inhaltsvoll und in Ansätzen sogar politisch bildend.

Die Folie des historischen Kongo, Vorlage für Joseph Conrads „Herz der Finsternis" (1899) und schließlich „Apocalypse Now", wirkt modern ist aber tragisch verbürgt: Wie bei der Niederländische Ostindien-Kompanie waren nicht Staaten sondern Konzerne und Privat-Armeen die Ausbeuter und Killer. „Legend of Tarzan" versucht den Bogen vom ersten Tier-Versteher Tarzan zur populären Achtung der Tierwelt zu spannen. Als ganz früher Öko sorgt er dafür, dass Natur sich verkauftes und verbautes Territorium zurückholt.

Die Schlüsselszene ist eine höchst gewagte Konfrontation zwischen Gorillas, afrikanischem Stamm, Tarzan und einem afroamerikanischen Gesandten der USA, in der man der Rache abschwört. Reichlich konstruiert, aber immerhin ein spannendes Denkspiel zum Thema Anstand und Respekt. Wobei der moderne Mensch die mörderische Bestie ist, verkörpert durch Christoph Waltz als teuflischem Söldner, als nerdiger Verwalter der Ausbeutung. Samuel L. Jackson hat wieder eine dieser spannenden Rollen, die Hautfarben reflektieren: Auch sein George Washington Williams kommt als Afroamerikaner irgendwie nach Hause und muss den blühenden Sklavenhandel erleben. Wobei auch noch mutig der Bogen zum Völkermord der US-Armee an den Indianern gespannt wird. Alexander Skarsgård sieht als Adonis, als Lendenschurz- und Frack-Model genau wie der Film jederzeit so gut aus, dass man sich diese Gedanken alle nicht zu machen braucht.

19.7.16

Censored Voices

Israel, BRD 2015 Regie: Mor Loushy 84 Min.

Der Sechs-Tage-Krieg endete 1967 mit einem Triumph für Israel: Jerusalem, Gaza und West Bank gerieten unter israelische Kontrolle. Nur einen Monat danach interviewte der Schriftsteller Amos Oz einige beteiligte Soldaten. Diese erschreckenden und keineswegs jubelnden Kriegs-Zeugnisse wurden streng zensiert. Nun verwendet sie der israelische Regisseur Mor Loushy in seinem Dokumentarfilm „Censored Voices" (Zensierte Stimmen).

Amos Oz ist ein bekannter israelischer Schriftsteller, Journalist und mittlerweile Mitbegründer der politischen Bewegung Peace Now. Ihn interessierte nicht, was die Leute im Krieg gemacht haben, sondern was sie durchgemacht haben. Was nach dem Krieg mit ihnen passiert ist. Wohlgemerkt nach einem „erfolgreichen" Krieg, wohlgemerkt mitten im nationalen Siegestaumel, der ja so leicht über Leichen geht. Aber „andere Gefühle hatten keinen Raum" (Oz), weshalb diese Tonaufnahmen unglaubliche fünfzig Jahre unter Verschluss gehalten wurden.

Die Montage der Dokumentation erzählt packend von der politischen Situation im Nahen Osten des Jahres 1967, der Bedrohung Israels durch die umliegenden Länder, der landesweiten Mobilmachung und dem überraschenden Verlauf des Sechs-Tage-Krieges, in dem Israel trotz anscheinender Unterlegenheit an allen Fronten siegte. Ein ABC-Reporter feiert makaber vor der Kamera mit. Zum bedenklichen und erschütternden Ton des Films passen jedoch vor allem die Bilder von Verwundeten und Leichen. Die gefangenen Gegner werden als Menschen erkannt. Einige Soldaten schlagen angesichts deren Elends noch grausamer zu, andere versuchen zu helfen. Oz sieht im Ersticken dieser kritischen Stimmen einen Grund für die negative Entwicklung Israels und für seine heutigen Probleme. Denn die Kritiker von damals äußern sich heute verhaltener, man wird schnell zum „Staatsfeind" in diesem Land.

Erneut zeigt sich mit „Censored Voices", dass die Dokumentaristen Israels dem kriegstreiberischen Regierungstreiben etwas entgegensetzen können. Einige Stimmen wenigstens. Wobei „Censored Voices" sicher für alle Kriege, Länder, Armeen und Zeiten Gültigkeit hat.

Stranger Things (Netflix)

Mit Winona Ryder in der Hauptrolle fand die bislang achtteilige Netflix-Serie die ideale Besetzung für den Retro-Touch der Mystery-Geschichte, begann doch Ryders Karriere mit „Beetlejuice" auch Ende der 80er-Jahre. „Stranger Things" ist eine Hommage an die übernatürlichen Klassiker der 80er Jahre und handelt von einem Jungen, der im November 1983 plötzlich spurlos verschwindet. Bei ihrer Suche nach Antworten stoßen Freunde und die Mutter (Winona Ryder) des Jungen sowie die örtliche Polizei auf höchst rätselhafte Umstände, darunter höchst geheime Regierungsexperimente, erschreckende übernatürliche Kräfte und ein sehr merkwürdiges kleines Mädchen.

Die Serie erinnert ebenso an Stephen King wie an früher Schauer-Geschichten von Steven Spielberg, im Stil und in der Art der Geschichte erleben die 80er auch hier ein spielerisches Revival. Im Fernseher läuft „Knight Rider", auf der Tonspur schmettert hemmungslos der Sytheziser. Scheinbar altmodisches Erzählen lebt dank tollen Kinder-Darstellern und einer hochwertigen Produktion im Format der Mini-Serie wieder auf.

18.7.16

BFG - Big Friendly Giant

USA, Großbritannien, Kanada 2016 (The BFG) Regie: Steven Spielberg mit Mark Rylance, Ruby Barnhill, Penelope Wilton, Rebecca Hall 117 Min. FSK: ab 0

Roald Dahl (1916-1990) war, wie heutzutage Neil Gaiman, ein Kinderschriftsteller, der seine kleinen Leser nicht wegen erwachsenen Ängsten übermäßig vorsichtig einpackte. Seine Kinderfiguren durften ängstlich und gleichzeitig heldenhaft sein, was auch „James und der Riesenpfirsich", „Der fantastische Mr. Fox", „Danny oder Die Fasanenjagd", „Hexen hexen" oder „Matilda" zu so großen Erfolgen und zu Filmen machte.

Nach Dahls 1982 veröffentlichem Roman „The BFG" („Sophiechen und der Riese") realisierte Steven Spielberg nun ein wunderbares Werk, in dem nebenbei die Tricktechnik des digitalem Motion-Capturing erstmals funktioniert.

Sophie (Ruby Barnhill) lebt als aufgewecktes Mädchen im Waisenhaus bis sie nachts draußen eine gewaltige Gestalt erblickt. Der BFG (Mark Rylance), Big friendly giant, ist tatsächlich ein liebevoller, vegetarisch lebender Riese mit noch größerem Herzen. Wie ein Nachtwächter schleicht er durch ein altes London, um den Menschen selbst gemixte Träume einzuhauchen. Panisch, weil er erwischt wurde, entführt er Sophie in seine Höhle im Riesenland und baut ihr ein winziges Nachtlager inmitten von großen Gläsern voller Träume.

Es ist grandios, wie sich der Riese in nächtlicher Stadt und Landschaft versteckt, wie es sich an die Schatten der Häuser und Bäume anpasst. Hier beeindruckt „BFG" erstmals mit seiner Animation. Während Ruby Barnhill ihre Sophie herzergreifend spielt, wurden Mimik, Gesten und Bewegungen vom Schauspieler Mark Rylance (aus Spielbergs „Bridge of Spies") mit Hilfe des Motion Capture-Verfahrens zum lebendigen und erstaunlichen Wesen BFG. Das ist nach einigen plumpen Versuchen mit Tom Hanks („The Polar Express") und Jim Carrey („Eine Weihnachtsgeschichte") eine erfreuliche Entwicklung.

So erleben wir BFG als überaus feinfühliges Wesen, hinter großen Augen und Ohren steckt eine enorme Sensibilität für alle Wesen dieser Welt. Über seine niedliche und witzige Fantasie-Sprache lernt Sophie die Sorgen dieses Kerls kennen, der von noch größeren, fleischfressenden Riesen namens Mädchenmanscher oder Kinderkauer gequält wird. Weil diese mittlerweile auch Sophie gerochen haben, müssen die neuen Freunde einen Rettungsplan entwerfen.

„BFG" ist nicht nur ein faszinierendes Spiel mit Groß und Klein, mit Real- und Trickfilm. Wie es Sophie und BFG mit einem beherzten Sprung vormachen, wechselt man begeistert ins Traumland von Roald Dahl. „BFG" ist auf jeder Ebene, in jeder Hinsicht fantastisch. Das Drehbuch stammt von der kürzlich verstorbenen Melissa Mathison, die auch „E.T." geschrieben hat. An diesen Spielberg-Klassiker erinnert kurz eine Berührung der Fingerspitzen zwischen Sophie und BFG.

Etwas albern wird zum Ende die richtige Welt, wenn die ungleichen Freunde die Königin von England (Penelope Wilton) um Hilfe bitten. Dann sind die verrückten Maßstäbe umgekehrt, BFG speist kaum vornehm mit Heuforke und Säbel. Ein wundersames grünes Getränk, das in die verkehrte Richtung blubbert, tut als grandioser Pups-Scherz selbst bei der steifen Monarchin seine Wirkung.

Leider wird all das Staunen, Lachen und Bangen von der viel zu dick auftragenden Musik John Williams extrem verstärkt. Das ist keine Musikbegleitung mehr, das ist gleich ein komplett eigenständiges symphonisches Werk. Aber das Fest für die Augen und Herzen, das Spielberg mit „BFG" wieder bereitet, ist selbst größer als dieses Getöse.

The Girl King

Finnland, BRD, Kanada, Schweden, Frankreich 2015 Regie: Mika Kaurismäki mit Malin Buska, Sarah Gadon, Michael Nyqvist 106 Min. FSK: ab 12

Königin Kristina von Schweden (1626-1689) gilt als äußerst bemerkenswerte Figur der Geschichte: Als ihr Vater Gustav II. Adolf stirbt, kommt sie 1632 als Sechsjährige auf den Thron und wächst unter Beobachtung ihres Kanzlers auf. Sie wurde wie ein Junge erzogen, konnte fechten und reiten. Bei ihrer frei gehaltenen Thronrede empört Kristina (Malin Buska) als 18-Jährige in diesem Film über ihr Regierungsleben: Sowohl mit dem Wunsch, das Land aus Bauern und Soldaten zur Bildung führen zu wollen, als auch mit der Forderung nach Frieden im Dreißigjährigen Krieg. Dazu irritiert den Hof die brüske Abweisung aller Verehrer, die sie ins Ausland versetzt. Die Briefe der protestantischen Regentin an den katholischen Philosophen René Descartes (Patrick Bauchau) sind ebenso skandalös wie die Beziehung zu ihrer Zimmerdame, der Komtess Ebba Sparre (Sarah Gadon).

Der finnische Regisseur Mika Kaurismäki, der kleine Bruder vom großen Filmemacher Aki, war bislang für seine Musikfilme und kleine, schräge Roadmovies wie „Mama Africa", „Zombie and the Ghost Train" oder „Helsinki-Napoli - All Night Long" bekannt. Eine solche Film-Biographie, ko-finanziert von gleich fünf Ländern, erwartete man nicht. Kaurismäki konzentriert sich auf den Charakter der bemerkenswerten historischen Gestalt, zeigt Kristina verspielt und dickköpfig. Sie ist ihrem Rat intellektuell überlegen und führt ihn vor.

Der Briefwechsel mit Descartes behandelt – wie auch diese Filmbiografie - hauptsächlich Liebe und andere Gefühle der Regentin. Während einer Schädelöffnung mit Entdeckung des Sitzes der für Protestanten nicht existierenden Seele treibt der Film auch die religiösen Spitzfindigkeiten, die gerade Millionen von Leben gekostet haben, auf die Spitze. Der Film erlaubt sich einige erzählerische Freiheiten, macht aber nicht draus. Sehr uneinheitlich fällt das ganze Bemühen aus, bis hin zu Fremdschäm-Szenen wie einer Einlage Soft-Sex auf einem Teufelsbuch.

Schauspielerisch wurde „The Girl King" als Mix aus den Produktionsländern angelegt - mit Glanzlichtern wie Michael Nyqvist als Kanzler. Peter Lohmeyer dagegen blickt als Bischof von Stockholm düster drein, Martina Gedeck als wahnsinnige Maria Eleonora von Brandenburg, der Witwe Adolfs wie gewünscht wahnsinnig unter orangen Haaren. Malin Buska macht Eindruck, doch an das übergroße Vorbild, an Greta Garbos „Königin Christine" aus dem Jahr 1933 erinnert nur die tiefe Stimme der Hauptfigur. Hinzu kommt als Problem, dass „große Szenen" zwangsmäßig bescheiden ausfallen müssen und so doppelt aus dem ansonsten eher kleinen Rahmen der Geschichte rausfallen.

Als Kristina im Alter von 27 Jahren ihren Cousin Karl Gustav adoptiert und ihn zum König einsetzt, folgt noch ein großer Auf- und Abtritt. Die eindrucksvolle „Königinnen-Karriere" endet damit, dass Kristina zum Katholizismus konvertiert und nach Rom zieht, wo sie mit der Gründung der "Royal Academy of Rome" die Künste, Natur- und Geisteswissenschaften förderte. Sie ist eine von drei Frauen, die in den Vatikanischen Grotten im Petersdom bestattet wurden. Wie gesagt, eine eindrucksvolle Figur, die dieser Film nicht fassen kann.

Frühstück bei Monsieur Henri

Frankreich 2015 (L'étudiante et Monsieur Henri) Regie: Ivan Calbérac mit Claude Brasseur, Noémie Schmidt, Guillaume De Tonquédec 95 Min. FSK: ab 0

Das Kind, das den verbitterten alten Kauz wieder ins Leben zurückholt ... Ja, auch Claude Brasseur spielt als Monsieur Henri einen herrlichen Griesgram, der es mit „Ein Mann namens Ove" aufnehmen will. Zur nötigen Reibung klingelt die junge Studentin Constance (Noémie Schmidt) bei ihm in seiner viel zu großen Pariser Altbauwohnung und wird seine Untermieterin. Das Leben war nicht nett zu der Frau vom Lande, auch nicht die Fahrprüferin, die Uni-Prüfungen, der Vater oder der verheiratete Liebhaber. Trotzdem ist sie meist eine junge Kämpferin, wie die Figur der Louane in „ Verstehen Sie die Béliers?". Nur hatte dieser Film noch einiges andere zu bieten, unter anderem eine gute Sängerin in der Hauptrolle.

Zwar könnte sich „Frühstück bei Monsieur Henri" auf die Wechselwirkung und die beiden guten Hauptdarsteller verlassen. Vor allem Brasseur gelingt sein gebrochener Charakter des abweisenden Greises, aus dessen Widerborstigkeit die Einsamkeit hervorbricht. Im Grummeln verstecken sich immerhin einige nicht zu leugnende Lebensweisheiten, hinter der anscheinenden Vergesslichkeit ein ziemlich raffinierter Kerl. Auch Noémie Schmidt gelingt die Zerrissenheit zwischen junger, lebenslustiger Frau und Mutlosigkeit wegen allen gescheiterten Prüfungen.

Aber das unwichtige „Frühstück" des sinnlos eingedeutschten Titels macht ebenso wenig Eindruck wie der Rest. Die französische Buddy-Komödie nach Ivan Calbéracs Theaterstück „L'étudiante et Monsieur Henri" hat wenig Pep, verläuft vorhersehbar, harmlos und schwerfällig. Monsieur Henri wird fast freundlich, Constance erhält Mut für ihren großen Traum, etwas Tod und neues Leben, eine Prüfung zum Schluss und geschafft ist die schwere Prüfung für die Zuschauer.

12.7.16

Ferien (2016)

BRD 2016 Regie: Bernadette Knoller mit Britta Hammelstein, Jerome Hirthammer, Inga Busch 88 Min. FSK: ab 0

Die angehende Staatsanwältin Vivian Baumann (Britta Hammelstein) will nicht mehr zur Arbeit und auch nicht vom Sofa ihrer Eltern runter. Runter zieht sie aber alle, bis Papa mit ihr auf die ostfriesische Insel Borkum fährt. Das führt erst auch nur zum Heulkrampf auf dem Zimmer und zum Wutanfall in den örtlichen Rabatten.

Aber Vivian trifft plötzlich überall auf seltsame Weise verschrobene und traurige Menschen, auf eine dadaistische Jazz-Band mit wunderbarer Musik am Pier. Bald zieht sie bei Biene (Inga Busch) ein, die sich aus ihrem eigenen Leben verdrückt und ihren Sohn mit der neuen Mieterin zurücklässt. In der Ruhe, die sie in dieser verrückten Welt mit mehr als einer ungewöhnlichen Freundschaft findet, erscheint die alte Umgebung immer haltloser. Vor allem der Vater mit seinen Überraschungsbesuchen wandelt sich vom ungeschickt Besorgten zum Sorgenfall.

„Ferien" ist ein ganz großartiger kleiner deutscher Film, eine gänzlich eigene, kuriose, erstaunliche und unglaublich liebenswerte Geschichte, deren Poesie Hollywood nur mit fünf Autoren und 20 Millionen hinbekäme. Die völlig untouristische Szenerie, in der auch schon mal ein Wal strandet, ergibt Bilder der Verlorenheit wie bei Coppolas „Lost in Translation" - nur halt aus Borkum! Das ist so gut, dass man gar keine Lösungen suchen will. Das ist tatsächlich auch komisch, wenn mitten im Trennungsgespräch eine tote Taube auf den Teller des frischen Ex fällt. Das Bild mit den oft unscharfen Hintergründen kann sich hervorragend auf die Figuren konzentrieren, denn diese „Ferien" sind in allen Nebenrollen sensationell gut besetzt. Detlev Buck, gerade noch Trainer der israelischen Nationalmannschaft in „90 Minuten", tragisch und komisch den ungeschickten Vater. Der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach überrascht hervorragend als melancholischer Kramladen-Besitzer.

„Ferien" stellt endlich das aufatmende Gegenprogramm zu den deutschen Konfliktfilmen an französischen Pools dar und erinnert manchmal an die preisgekrönten Weltentwürfe eine Roy Anderssons, wie „Songs from the Second Floor" oder „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach".

Unterwegs mit Jacqueline

Frankreich, Marokko 2016 (La Vache) Regie: Mohamed Hamidi mit Fatsah Bouyahmed, Lambert Wilson, Jamel Debbouze 92 Min. FSK: ab 0

Ziemlich ländlicher Humor. Oder: Tier macht Sachen. Das Kino der Franzosen scheint noch sehr an den traditionellen Landwirtschaftsschauen zu hängen. Letztlich konnte man das Untier Gerard Depardieu auf so einer bestaunen, in dem schön abstrusen „Saint Amour" von Benoît Delépine und Gustave Kervern. Nun will der einfache algerische Bauer Fatah (Fatsah Bouyahmed) unbedingt mit seiner geliebten Kuh Jacqueline zur Landwirtschaftsmesse von Paris. Unerwartet bekommt er eine offizielle Einladung, die Dorfgemeinschaft legt Geld zusammen und auf geht es mit dem Boot übers Mittelmeer nach Marseille und von dort zu Fuß quer durch Frankreich.

Der freundliche und leutselige Fatah lernt einen Querschnitt der französischen Gesellschaft kennen, vom verarmten Landadeligen Philippe (Lambert Wilson) bis zu seinem missmutig pöbelnden Schwager Hassan (Jamel Debbouze). Der naive Reisende hält ihnen mit seiner direkten und natürlichen Art unbewusst einen Spiegel vor ... könnte man die einfache Schelmen-Geschichte überinterpretieren.

Denn nach etwas Spannung und Hektik, weil Fatah zum Star im Internet wird und durch all die Aufregung die Messe zu verpassen droht, verläuft die nette Komödie ohne tiefere oder weitergehende Bedeutung. Ein schmissiger Soundtrack mit Fatahs arabisch-französisch-besoffener Version von „I will survive" sorgt für Stimmung, Hauptdarsteller Fatsah Bouyahmed für Sympathien. Am Ende gibt es einen Publikumspreis für die Kuh - darauf läuft es wohl auch mit dem Film hinaus.

11.7.16

Mit besten Absichten

USA 2015 (The Meddler) Regie: Lorene Scafaria mit Susan Sarandon, Rose Byrne, J.K. Simmons, Jerrod Carmichael 104 Min. FSK: ab 0

Helikopter-Mutter wäre viel zu harmlos: Wie eine Klette klebt Marnie Minervini (Susan Sarandon) an ihrer Tochter Lori (Rose Byrne). Dabei ist Marnie eine reife, frisch verwitwete Frau, die kürzlich von New Jersey nach Los Angeles zog, um wieder näher bei Lori zu sein. Die ist auch eine erwachsene Frau und erfolgreiche TV-Autorin, aber gerade wegen der Trennung von der großen Liebe etwas neben der Spur. Nun ist Marnies wichtigster sozialer Kontakt der Typ von der Genius Bar im Apple Store. Dank des üppigen Erbes verschenkt sie reihenweise iPads, gibt auch mal einer Freundin der Tochter eine Traumhochzeit aus.

Klingt gut, fühlt sich aber anders an, weil die überkandidelte Dame sich dauernd hemmungslos aufdrängt und neue Freundschaften kaufen will. Sie will im Krankenhaus helfen, hat aber panische Angst vor Krankheiten. Sie trampelt auf den verletzten Gefühlen der Tochter herum und ist nicht wirklich interessant an den Leuten, denen sie hilft. Dieses „Happy in LA" sieht reichlich überspannt aus. Nur die gemeinsame Psychoanalytikerin wird wissen, ob bei Mutter oder Tochter der zuerst der Zusammenbruch zu erwarten ist.

Finanziell mehr als abgesichert, bei Hyperaktivität schwer gelangweilt, rennt Marnie vor der Trauer davon. Irgendwann ist das nicht mehr zu übersehen und man wartet, dass noch etwas anderes passiert. Dafür kommt der Ex-Polizist Zipper (J.K. Simmons) ins Spiel, ein verrückter Fan seiner Hühner und von Dolly Parton.

Bei diesem langen, langen Abschied vom verstorbenen Ehemann ist alles gut gemacht, stimmig und mindestens eine halbe Stunde zu lang. Susan Sarandon brilliert auch in dieser Rolle, doch nur nette Szenen machen noch keinen Film. Aber vielleicht fehlen auch einfach Östrogene beim Kritiker und „Mit besten Absichten" ist es ein toller Ü50-Film, bei dem auch Töchter mit dürfen.

StreetDance: New York

USA, Rumänien 2016 (High Strung) Regie: Michael Damian mit Keenan Kampa, Nicholas Galitzine, Sonoya Mizuno 97 Min. FSK: ab 0

„Street Dance", die Neunte? Keineswegs und doch: „StreetDance: New York" klaut sich in Deutschland den Namen einer der erfolgreichen Tanzfilm-Reihen und kopiert das Schema dieses Genres wie alle anderen Trittbrettfahrer von Alan Parkers „Fame". Der Mix aus Klassik und Hiphop dröhnt schon in der ersten Szene durch die Decke. Zu dem (längst nicht mehr vorhandenen) Gegensatz all dieser Tanzfilme wird auch noch die Grundausstattung der Protagonisten deutlich - ausgesprochen! Überdeutlich wie die Reibung des naiven Neulings, der Balletttänzerin Ruby (Keenan Kampa), mit dem rauen Ton der Schule, die Melancholie des Englishman in New York, Johnnie (Nicholas Galitzine), der kein Visa hat und deshalb in der Metro meisterlich Geige spielt. Ruby und Johnnie treffen sich bei einem Dance Battle, er schmettert ihr ins Gesicht: „Wir sind kein Team!". Was uns versichert, dass sie bald sogar ein Paar sein werden.

Knallharte Lehrer als Pappfiguren sowie der übliche Wettbewerb kommen hinzu und man kann das Gehirn abschalten bei diesem Drehbuch auf Autocopy. Dass dem Teenietanz-Genre die funkelnde Erotik des Tangos beigemischt wird, ist erfreulich; dass selbst das Geigenspielen zum Duell wird, nur albern. Aber wenn alle Tanzfilme mit einem Wettbewerb enden, muss man irgendwann glauben, Musik sei auch nur ein Fußballspiel - bei dem man sich am Ende prügelt.

Die schaurig unnatürlichen und krampfhaft fröhlichen Szenen, in denen alle plötzlich in Tanz ausbrechen, sind zum ... zu komisch, um wahr zu sein. Klassische Musik oder Tanz dabei immer nur Dekoration. Sie erfahren jedenfalls nicht die gleiche Sorgfalt wie alles „moderne". Dabei ist die ganze Inszenierung mit „wilden" Klamotten und „gefährlichen" Hiphop-Tänzern selbst längst altbacken, vor allem die Schlussnummer sogar kunstgewerblich.

Bei harmloser Liebesgeschichte mit Mini-Drama bemüht sich auch dieses Crossover, kulturelle Vielfalt auf banale Denk- und Drehbuch-Schemata einzuschränken. Das ist halbwegs erträglich wegen zwei interessanter Gesichter mit guter Mimik und tatsächlich lassen sich wieder ein bis zwei gut choreografierten Tanzeinlagen bewundern. Was für das Genre recht dünn ist.

Toni Erdmann

BRD, Österreich, Rumänien 2016 Regie: Maren Ade mit Peter Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn, Hadewych Minis 162 Min.

Lange musste man warten: Bis Regisseurin Maren Ade den Nachfolger ihres Silberner Bär-Gewinners „Alle anderen" präsentierte. Bis nach acht Jahren wieder ein (rein-) deutscher Film im Wettbewerb von Cannes zu sehen war. Beides fügte sich vortrefflich zum Publikums- und Kritiker-Liebling von Cannes 2016, der jedoch keinen einzigen großen Preis abbekam. Nun ist das Warten auf „Tony Erdmann" vorbei, die charmant stille Komödie über das Gegeneinander von Unternehmensberatung und wirklichem Leben startet Donnerstag in Deutschland.

Der ältere Musiklehrer Winfried (Peter Simonischek) macht dauernd Scherze, scheint aber nicht fröhlich zu sein im Leben. Zwischen der Kündigung seines letzten Privatschülers und einem Besuch bei seiner Mutter trifft er seine erwachsene Tochter Ines (Sandra Hüller) eher zufällig bei der geschiedenen Ex und einem vorgezogenen Geburtstag, von dem er nichts wusste. Ines ist auch immer sehr geschäftig und am Telefon, selbst wenn die Unternehmensberaterin mal nicht bei ihrem aktuellen Kunden in Bukarest arbeitet.

Nachdem dem alten Linken Winfried auch noch sein Hund abhanden kommt, taucht er spontan in der rumänischen Hauptstadt auf. Im Foyer des Auftraggebers ignoriert Ines ihn geflissentlich, die größte Einkaufshalle Europa ersetzt „aus Termingründen" im Touristenprogramm den Ceaușescu-Palast. Nebenbei eine Kurzfassung der Entwicklung des Landes. Die Gesprächsversuche des Vaters werden mit knallharter Dialektik im Business-Sprech niedergemacht, sodass er sich entsetzt wundert: „Bist eigentlich ein Mensch?"

Doch Winfried irritiert weiterhin mit überraschenden und sehr skurrilen Auftritten. Falsche, sehr schiefe Zähne machen aus ihm Tony Erdmann, der inkognito dauernd im Geschäftsleben von Ines auftaucht. Er fällt beim Empfang mit dem Vorstand ungehobelt auf, gibt aber dem ignoranten und sexistischen Anzugträger direkt die richtigen Antworten, während die angepasste Tochter duckt und sich alles gefallen lässt. Langsam bekommt sie Spaß an Tony Erdmann. Oder will ihn auflaufen lassen. Jedenfalls erlaubt sie dem verkleideten Vater Auftritte auf verkoksten Partys und konfrontiert den Clown mit den harten Situationen ihres Arbeitslebens. Schließlich zeigt sich, dass Ines die Tochter dieses Mannes ist, als sie beim gezwungenen Brunch zuhause die Gäste nackt empfängt, wegen „Teambuilding" und so.

„Wie geht's?" „Sehr gut, eigentlich..." Um dieses „eigentlich", das mindestens „ziemlich mies" oder „beschissen" bedeutet, dreht sich Maren Ades neuer Film sehr spielerisch und überhaupt nicht rührselig. Ines ist eine panische Sklavin ihrer eigenen Karriere, eine dieser Figuren, die den bundesrepublikanischen Neo-Liberalismus auch in „Kannibalen" oder Petzolds „Yella" spiegelten. Sandra Hüller kann diese unterkühlten, unnahbaren Frauen sehr gut vor die Kamera bringen. Diesmal gibt sie einen sehr angespannten Eisberg, eine Unternehmensberaterin, die mit immer nach unten ausgerichteten Mundwinkeln überhaupt keinen Spaß im Leben oder Job kennt. Druck gibt es von allen Seiten und vor allem von sich selbst.

Der Vater legt mit einer raffinierten Schein-Naivität, die entfernt nach an Karl Valentin und Polt erinnert, Hierarchien bloß und durchbricht mit seiner scheinbar respektlosen Art die unmenschlichen Mechanismen des neuen Götzen Unternehmensberatung. So funktioniert auch der ganze Film: Deutliche Kritik an Jobvernichtung und Auslagerung von Unternehmen läuft bei der originellen Wiedervereinigung von Vater und Tochter mit. So wie Ines sich letztlich radikal aus ihrem Kostüm löst, zeigt er in seinen Verkleidungen sein wahres Wesen.

Das ist klug, gut inszeniert und gespielt, nett anzusehen. Bei allem aber auch einer dieser Filme, die in neunzig Minuten wahrscheinlich besser funktioniert hätten. Letztendlich gab es in Cannes doch den FIPRESCI-Kritikerpreis für „Toni Erdmann".

Independence Day: Wiederkehr

USA 2016 (Independence Day: Resurgence) Regie: Roland Emmerich mit Liam Hemsworth, Jeff Goldblum, Bill Pullman, Judd Hirsch, Brent Spiner 119 Min. FSK: ab 12

Der „Independence Day" ist letztens durch die Brexit-Clowns Nigel Farage und Boris Johnson arg in Verruf geraten, klauten die Unruhestifter doch den Begriff von den Vereinigten Staaten, die sich historisch genau von dem ausbeuterischen englischen Königreich befreien wollten. Doch Roland Emmerich schreitet 20 Jahre nach seinem filmhistorischen Hit „Independence Day" sofort erfolgreich ein, um den guten Namen des Films zu retten: Retro-Stars und neueste Tricktechnik sorgen für sorglose Unterhaltung.

Nachdem Will Smith und Jeff Goldblum einst höchstpersönlich den Angriff technisch hoch überlegener Aliens mit einem Virus abgewehrt hatten, blieb die Menschheit nicht untätig. Mit Hilfe der außerirdischen Technologie bauten sie Frühwarnsysteme und Abwehr-Satelliten. Doch vergebens, die auf Rache sinnenden Ausbeuter aus dem All sind nun noch zahlreicher, noch größer ist ihr Raumschiff am Himmel. Noch größer, teurer und lauter ist auch Roland Emmerichs späte Fortsetzung seines grandiosen Hits aus dem Jahr 1995.

Dabei wiederholt „Independence Day: Wiederkehr" fast schamlos, aber dann doch charmant Bewährtes: Nach unübersehbaren Anzeichen für eine Alien-Rückkehr gibt es eine erste kleine Heldentat zum Warmlaufen und dann spult die Action-Dramaturgie ihr zuverlässiges Programm ab. Nach vierzig Minuten beginnt erneut die lustvolle Zerstörung der menschlichen Zivilisation mit hohem (Trick-) Aufwand. Diesmal in der originellen Variante „Schwerelosigkeit": Ein gigantisches Material-Chaos aus Gebäuden, Luft- und anderen Schiffen hebt nach außerirdischem Knopfdruck in den Himmel ab, um bald weltweit vernichtend nieder zu gehen. Aus den Millionen von Toten pickt sich der Film ein paar tragische Einzelfälle heraus, wobei auch die Verwandtschaft der Protagonisten wieder nicht verschont wird.

Aber die Wichtigsten überleben selbstverständlich - vielleicht braucht man sie ja noch in einer Fortsetzung. Wie diesmal vorbildlich vorexerziert: Jeff Goldblum ist als David Levinson, als Wissenschaftler mit Durchblick, immer noch gelassen und cool angesichts von Dinosauriern oder Aliens. Denn ein kurzer Blick auf das Monster im Rückspiegel erinnert augenzwinkernd auch an „Jurassic Park". Bill Pullmans Ex-Präsident Whitmore bekommt ohne Amt-Pathos mehr Lässigkeit. Überhaupt gibt es im Vergleich zum Vorgänger weniger Heldentum, weniger Gerede. Einfach Popcorn- und Action-Kino stringent durchgezogen. Nur statt der Figur von Will Smith fliegt nun ein Filmsohn als Spezialpilot im All herum.

Charlotte Gainsbourg als Psychologin fliegt als Französin mit außerirdischen Fremdsprachenkenntnissen auch mit, bleibt aber eine verzichtbare Randnotiz. Als weitere witzige Variante ist ein Zicken-Kampf zwischen der US-Präsidentin und die Königen der Aliens angelegt. Ok, das hatten wir schon in „Aliens" mit Sigourney Weaver, aber Roland Emmerich ist auch kein James Cameron. Das Bemerkenswerteste bei dieser mehr als unterkomplexen Handlung in „Independence Day: Wiederkehr" muss die Gigantomanie der Produktion bleiben. Tatsächlich sieht der alte „Independence Day" heutzutage aus wie ein Trashfilmchen ambitionierter Studenten. Bei Luftkämpfen im Stile von „Star Wars" und dezent rührend eingestreuten Vater-Tochter- und Vater-Sohn-Geschichten schießt der Unwahrscheinlichkeitsfaktor mit Warp3 in die Höhe und das Popcorn ploppt fröhlich im Karton. Dabei ist alles gerade nicht blöd genug, um beim Staunen zu stören. So muss sinnlose Sommerunterhaltung sein.

5.7.16

Liebe Halal

BRD, Libanon 2015 (Halal Sex) Regie: Assad Fouladkar mit Darine Hamze, Rodrigue Sleiman 91 Min. FSK: ab 6

In einem muslimischen Viertel von Beirut erleben wir einen abenteuerlichen Aufklärungs-Unterricht für junge Mädchen, die fortan den „Wurm" suchen, aus dem die Babys entstehen. Mama versucht derweil eine Regelung zu finden, um nicht jede Nacht mit ihrem Mann schlafen zu müssen. Kurzerhand beschließt sie, eine Zweitfrau zu engagieren. Direkt nebenan wohnt der eifersüchtige und aufbrausende Mokhtar mit seiner hübschen Frau Batoul. Leider hat sich Mokthar im Eifer des Gefechts schon drei Mal von Batoul getrennt. Um sie zurückzugewinnen, muss er nach islamischem Gesetz zuerst einen anderen Mann für sie finden. Loubna ist frisch geschieden und wird fast wie eine Aussätzige behandelt. Dabei hofft sie auf einen Neuanfang mit ihrer Jugendliebe Abou Ahmad, der sich jedoch nur eine Ehe auf Zeit und zum Vergnügen wünscht.
Es ist ein Kaleidoskop von Gefühlen und sozialen Gefängnissen, das „Liebe Halal" in seinen Episoden bietet. Allerdings vor allem humoristisch eingefärbt, sodass die eingeschränkten Verhältnisse vor allem mit verständnisvoller Sympathie unterhaltsam dargeboten werden.

Tangerine L.A.

USA 2015 (Tangerine) Regie: Sean Baker mit Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor, Karren Karagulian 88 Min. FSK: ab 16

Nach seinem grandiosen „Starlet" mit der Hemmingway Urenkelin Dree als Porno-Darstellerin stürzt sich Sean Baker mit seinem neuesten, bemerkenswerten Film in das Milieu transsexueller Prostituierten: Zu Weihnachten erfährt die leidenschaftliche und eifersüchtige Transe Sin-Dee Rella (Kitana Kiki Rodriguez), die gerade aus dem Knast kommt, dass ihr Freund und Zuhälter Chester sie mit einer echten Frau betrogen haben soll. Sin-Dee rastet aus und durchsucht die Szene nach Chester und dessen Geliebter. Derweil steht ihre beste Freundin vor einem großen Auftritt.

Wild wie Sin-Dee Rella sind die Dialoge und der Film. „Tangerine" ist eine atemlos rasende Komödie mit viel Herz für seine schrillen Figuren. Kitana Kiki Rodriguez ist in dabei ihrem/seinem Amoklauf eine Offenbarung. An Haaren und Klamotten schleppt sie die Konkurrentin als Beweisstück durch die Nacht. Sogar zum Auftritt ihrer Freundin Alexandra (Mya Taylor), bei dem beide ein Pfeifchen Crack teilen. Die beiden transsexuellen Stars des Films sind auch in Realität Freundinnen. Sie erzählten den Autoren aus ihrem Leben. Ihre einzige Forderung war, dass der Film die Situation afro-amerikanischer transsexueller Sexarbeiterinnen realistisch darstellen und zugleich extrem lustig sein sollte! Sehr schön auch, wie beide Seiten der Scheinwelt Hollywoods gezeigt werden: Der Taxi-Fahrer, der auf Transsexuelle steht und dessen traute, traditionelle Familie. Der Glamour und die Rückseite in den Gassen und Bussen für die Armen. Ein ehrlicher und packender Spaß, der auch als Film das Gegenteil von Hollywood darstellt.

90 Minuten - Bei Abpfiff Frieden

Israel, BRD, Portugal 2016 (Milhemet 90 hadakot) Regie: Eyal Halfon mit Moshe Ivgy, Detlev Buck, Norman Issa, Pêpê Rapazote 87 Min. FSK: ab 0

Die Idee dieser Polit-Komödie ist genauso hirnverbrannt, wie die Vorstellung, dass Fußball zur Völkerverständigung beitragen und friedlich sein könne: Die Besatzung Palästinas durch Israel soll mit einem Fußballspiel beendet werden. Wer gewinnt, bekommt das Land beider Staaten, die Verlierer müssen aus- und umziehen. Nun machen Israel und Palästina weltpolitisch immer großen Wirbel, sind aber tatsächlich kleine Länder. Auch fußball-technisch. So versuchen beide Seiten aufzurüsten. Die Israelis besorgen sich ausgerechnet einen deutschen Trainer (Detlef Buck), die Palästinenser schauen sich in der arabischen Welt um, wen sie nachträglich einbürgern können.

Als Schein-Dokumentation, wacklig aus der Hand gefilmt, steckt „90 Minuten" voller kleiner bissiger Bemerkungen, etwa in der Frage, wer Austragungsort dieses Spiels sein soll. Wembley geht nicht, weil die Engländer der Region dieses ganze Dilemma als Besatzungsmacht eingebrockt haben. Deutschland bietet sich angesichts der Vergangenheit nicht unbedingt an. Um die ganze Sache zu verdeutlichen, spielt auch der politisch unbedarfte portugiesische Verbandspräsident mit. Er versucht das ganze Dilemma zu verstehen und schaut erst mal auf der Karte nach, wo denn die beiden Länder liegen.

Während die IFA (statt FIFA) verzweifelt einen unparteiischen Schiedsrichter sucht, erfolgt die moralische Aufrüstung an Orten von Massakern, historischen Siegen oder Niederlagen. Selbst ein Besuch im Holocaust-Museum wird zur Motivation instrumentalisiert. Die israelische Besatzungsarmee verhindert unterstützend das Training des Gegners. Aber zum Glück gibt es ja die bewährten Schmuggel-Tunnel. Damit kommt der israelische Film zeitweise in den Absurdität-Sphären von Ephraim Kishon an. Die Komödie verliert aber bald an Tempo und Irrwitz.

Das Problem eines Spielers mit arabischen Wurzeln in der israelischen Mannschaft liefert den naheliegenden Hinweis, wie ähnlich sich alle sind, wenn da nicht die ebenso albernen wie mörderischen Religionen wären. Das thematisieren jedoch bessere Filme wie „Der Sohn der anderen" oder „Mein Herz tanzt" direkter und vielschichtiger. Es bleibt eine leidliche Komödie, die nichts Neues zum Verständnis hinzufügt, keine Vision hat und konsequenterweise auch mit seinem Ende die Zuschauer völlig in der Luft hängen lässt.

Verräter wie wir

Großbritannien, Frankreich 2016 (Our Kind of Traitor) Regie: Susanna White mit Ewan McGregor, Stellan Skarsgård, Damian Lewis, Naomie Harris 108 Min. FSK: ab 16

Ewan McGregor zeigt als naiver Poesie-Professor, was passiert, wenn der Bürger glaubt, unsere Sicherheitsdienste würden sich um unsere Sicherheit kümmern: Der Urlaub in Marrakesch ist für den Oxford-Dozenten Perry Makepeace (Ewan McGregor) vor allem frustrierend. Der belasteten Beziehung zur erfolgreichen Anwältin Gail (Naomie Harris) helfen Pool, Cocktails und laue Nächte doch nicht. Mit dem beängstigenden und faszinierenden Russen Dima (Stellan Skarsgård) zu feiern, ist allerdings etwas Neues für den zurückhaltenden Literaten. Dabei erweist sich Perrys Respekt für muskelbepackte und rundum tätowierte Gangster als begrenzt: Als einer von denen eine Frau vergewaltigt, greift der schmächtige und hoffnungslos unterlegene Kerl trotzdem ein.

Dies auch der Grund, weshalb Perry im Dienste dieser frischen Männerfreundschaft zu Dima einen Stick mit hochbrisanten Informationen dem britischen Geheimdienst überhändigen will. Denn Dima ist Geldwäscher der russischen Mafia und die ist unter einem neuen Paten gerade mit einem mörderischen Großreinemachen beschäftigt. Aller Vernunft und auch Gails Einspruch zum Trotz lässt sich Perry in eine schwierige Geheimdienst-Aktion einspannen, um Dima sowohl vor der Mafia als auch den korrupten Politiker in der Führung des Geheimdienstes zu schützen.

Schon im Prolog, wenn ein in Zeitlupe schwereloser Bolschoi-Tänzer einen poetisch schönen Mord im Schnee begleitet, spürt man die Qualitäten von Kameramann Anthony Dod Mantle. Diese Eröffnung verrät und verspricht viel, was der spannende und kluge Film „Verräter wie wir" fortan hält. Es ist nach „Der Ewige Gärtner", „Dame, König, As, Spion" und „A Most Wanted Man" eine weitere hochkarätige John le Carré-Verfilmung. Der Autor und Ex-Spion glaubt im Gegensatz zu seinem Protagonisten Perry nicht an ein gutes Ende. Politik und Sicherheitsdienste können nur noch zynisch betrachtet werden. Aber einige aufrechte Kämpfer gibt es selbst im System. Auch wenn dies in der Verkürzung kitschig klingt, diese hochaktuellen Geschichten von Carré bleiben packend. Drehbuchautor Hossein Amini („Drive") tat seinen Teil hinzu.

Stellan Skarsgård („The Avengers", „Verblendung") überzeugt als ruppiger Russe mit großem Herz und noch mehr Melancholie. Ewan McGregor gibt dem Gerechtigkeits-Sinn des naiven Professors aus dem Elfenbeinturm so viel Substanz, dass man diese Figur ernst nehmen kann. Die Sorgfalt, mit der auch Randfiguren beispielsweise aus der Familie Dimas mit ihren bedrückenden Geschichten dargestellt werden, beweist die sehr hohe Wertschätzung von Carré-Stoffen in der Film-Branche. Und der meist unsinnige Hintergrund solcher Geschichten ist hier eine Entdeckung, die den Blick auf Politiker nachhaltig verändern kann: Unter Führung eines Ministers erlauben korrupte britische Abgeordnete trotz Wirtschaftsembargo gegen Russland die Gründung einer russischen Bank in der „City of London", damit dort sehr schmutziges und blutiges Geld gewaschen werden kann. Das ist mal eine klare Aussage, die viel Ungereimtes in der Politik erklären würde. Das ist typisch für einen John le Carré-Thriller, ebenso wie die enorme Spannung, die sehr gut gespielten Figuren und die packende Story.

Argentina

Argentinien, Frankreich, Spanien 2015 (Zonda: folclore argentino) Regie: Carlos Saura 88 Min. FSK: ab 0

Unvergessen sind die beiden Girlies, die sich in den Neunzigern „Flamenco" von Saura wegen eines knackigen, gerade populären Tänzers ansahen und, mitten im Publikum, das ganze raue bis hochdramatische Spektrum des Flamenco erleben mussten. Mit teilweise unendlich alten Legenden, die überhaupt nicht „knackig" oder kurzzeitig populär waren, sondern einfach nur erschütternd gut in ihrer Kunst. Sein neuer Musik- und Tanzfilm „Argentina" wiederholt nun die vertraute Studio-Anordnung aus „Flamenco" (1995), „Iberia" (2005) und „Flamenco, Flamenco" (2010): Aus verschiedenen Regionen des riesigen Landes erklingen im Studio herausragende Beispiele von Zamba, Vidala, Chacarera, Malambo Afrika, Copla und Chamamé. Zur sehr persönlichen Auswahl von Saura gehören die Größen El Chaqueño Palavecino, Soledad Pastorutti, Jairo, Liliana Herrero, Luis Salinas, Jaime Torres, Metabombo und das „Ballet Nuevo Arte Nativo de Koki & Pajarín Saavedra". Über Projektionen von Filmen und Bildern im Raum fließen zeitgeschichtliche „Hintergründe" ein. Die verstorbene Mercedes Sosa erhält eine sehr schöne Hommage auf der Studio-Leinwand mit der leisen Begleitung einer Kinder-Klasse. Das ist nicht didaktisch, das ist einfach fantastisch zum Mitfühlen und Erleben. Wie Saura in scheinbarer Zurücknahme jeder Inszenierung allerdings der Musik und den Künstler wortwörtlich diesen Raum schafft und doch so ergreifend mit Kamera und Schnitt gestaltet, ist große Kunst. Tolle Musik, Ethnologie und Filmkunst in einem.

4.7.16

Smaragdgrün

BRD 2016 Regie: Felix Fuchssteiner, Katharina Schöde mit Maria Ehrich, Jannis Niewöhner, Peter Simonischek, Josefine Preuß 112 Min. FSK: ab 12

„Der Rest ist Schrott!" Wenn schon Shakespeare zitieren, dann wenigstens treffend: Der letzte Teil der Edelstein-Trilogie von Autorin Kerstin Gier ist als Jugendfilm für jüngere Mädchen so ziemlich das Letzte! Ideen von anderen Geschichten, die hier nicht stimmen und funktionieren, in einem furchtbar lückenhaften Durcheinander inszeniert. Hier wurde viel Mühe, Geld und Leinwand für das Niveau einer durchschnittlichen Nachmittags-Soap vor netten Kulissen verschwendet.

Gwendolyn Shepherd (Maria Ehrich) und Gideon de Villiers (Jannis Niewöhner) hüpfen weiterhin durch die Zeitgeschichte im Auftrag eines obskuren Clubs alter Männer. Im Jahr 1601 inspiriert der Kurzbesuch aus der Zukunft Shakespeare zu seinem „Sein oder nicht sein", in den 50ern müssen auf dem Sofa Beziehungsprobleme besprochen werden und 1786 zieht der finstere Graf von St. Germain (Peter Simonischek) seine Fäden, um mit Hilfe der Zeitmaschine die Weltherrschaft zu erlangen.

Die Erklärungen für Neueinsteiger, mit denen der Film zusätzlich langweilt, kann man sich sparen, denn nur härteste Fans schauen sich so was im Kino an. Wohl noch nie gab es Zeitreisen, die den gedanklichen Reiz dieser Science Fiction-Konstruktion so uninspiriert runter spielten. Stattdessen bekommt das frühpubertierende Zielpublikum Liebes-Hinundher, dazu auch ansonsten viel Geschwafel und Gerede der platten Sorte.

Weitgehend unspannend verlegt sich das Finale auf harmloses Drama. Gwendolyn entdeckt ihre Unsterblichkeit, die eifersüchtige Cousine Charlotte darf die Rivalin endlich und vergeblich abstechen, schon wieder ist eine weitere bescheuerte Szene überstanden. Selbst als Charlotte Gelegenheit zur Besserung bekommt, bleiben genügend Pappfiguren für altbekannte Intrigen, die schlechte Menschen schlecht aussehen lassen. Dass „die Jugend" Gehorsam und Treu in Frage stellt, und beginnt, Fragen zu stellen, ist dem Film eine halbe Szene wert. Der Sexismus der alten Männer bekommt zwar eine schlagkräftige Antwort von den Teenie-Mädchen, die schmelzen allerdings direkt vor dem nächsten Testosteron-Typen dahin.

„Smaragdgrün" ist als Tiefpunkt einer sowieso nicht mit besonderen Erwartungen belasteten Trilogie nicht nur trivial, sondern auch sehr schlecht geschrieben und äußerst mäßig inszeniert. Schauspieler, die man gleich wieder vergessen kann, müssen teilweise ganz furchtbare Masken tragen. Gwendolyns Gegenspieler hat die Bösartigkeit einer Nachmittags-Soap, viele Szenen sind richtig trashig. Katharina Thalbach ist als alte Ulknudel Maddy vor allem peinlich. Dazu gibt es etwas Action und ein paar Computer-Animationen, von denen der deplatzierte Schulgeist am meisten nervt. Weichspülendes Piano muss der schwachen Inszenierung nachhelfen, aber was wirklich helfen würde, wäre eine Reise zum Zeitpunkt kurz vor Entstehung dieser Trilogie...