29.2.16

Results

USA 2015 Regie: Andrew Bujalski mit Guy Pearce, Cobie Smulders, Kevin Corrigan, Giovanni Ribisi 104 Min.

Eine nette Komödie mit klugen Gedanken und einem Stück Filmgeschichte: Der frischgebackene Millionär Danny (Kevin Corrigan) erhofft sich Lösungen für Einsamkeit und Fettleibigkeit von einem Fitnessstudio. Die Fitnesstrainerin Kate (Cobie Smulders von den „Avengers") macht Hausbesuche in seiner riesigen Wohnung, aber mehr ist nicht drin. Auch für sie nicht bei Trevor (Guy Pearce), dem Chef des Studios. Denn der hat zwar seinen Körper total ausbalanciert, aber mit den Emotionen klappt es gar nicht. Originell, glaubwürdig und gut gespielt. Diese Romantische Komödie ist sehenswert, auch weil ihr Macher Andrew Bujalski selbst mit sehr bekannten Schauspielern den Grundprinzipien des Mumblecore-Genres treu bleibt. Das er mit „Funny Ha Ha" (2002) und „Mutual Appreciation" (2005) mitbegründet hat. Mumblecore steht für kleine Budgets, nicht berühmte Schauspieler, viel cleveren Dialog in einfach zu kontrollierenden Innenräumen. „Results" hat zwar bedeutend mehr Produktionswerte nicht nur beim Schauspiel, aber auch immer noch viel unverbrauchten Charme, macht sich treffend über die körperliche wie seelische Selbstoptimierer lustig und verbreitet gute Laune.

El Clan

Argentinien, Spanien 2015 Regie: Pablo Trapero mit Guillermo Francella, Peter Lanzani, Lili Popovich 110 Min. FSK: ab 16

Wenn der Vater mit dem Sohne durch die Straße von Buenos Aires fährt und Freunde des Juniors als Geisel erst in den Kofferraum, dann in den Familien-Keller sperrt, dann ist die argentinische Diktatur nicht weit. 1983, das Militär tritt nach dem verlorenen Falkland-Krieg zurück, machte Arquímedes Puccio (Guillermo Francella) einfach privat weiter, was er vorher für das Regime erledigte: Entführen, Foltern und Morden. Nur jetzt halt, wie ein junges Start Up-Unternehmen, im eigenen Keller. Tatsächlich hat nicht nur Österreich horrende Keller-Geschichten, auch die der Familie Puccio ist eine wahre.

Hinter der Fassade der angesehenen bürgerlichen Familie läuft ein florierenden Entführen und Erpressen. Mitten in diesem Zwiespalt steckt Alex (Peter Lanzani), ältester Sohn der Familie. Als erfolgreicher Rugby-Spieler ist er beliebt und kommt mit der Nationalmannschaft in der Welt herum. Er macht allerdings auch bei den Entführungen mit, ja lockt sogar Freunde als Opfer an. Alex schläft zu einem flotten Schlager mit seiner neuen Freundin, während die Schergen des Vaters die neue Geisel schlagen. Die Tochter sitzt wie ein normaler Teenager mit Kopfhörern auf ihrem Bett, im nächsten Raum wimmert die Geisel angekettet in der Badewanne.

Der übliche Vater-Sohn-Konflikt ist diesmal auch einer zwischen dem Paten einer Verbrecher-Organisation und seinem Gehilfen. Allerdings lebt Alex ganz gut vom Familien-Unternehmen und sein Widerstand hält sich in Grenzen. Die Normalität von Terrorherrschaft und Diktatur ist ein Echo der Militär-Diktatur Argentiniens. Vertraute Gespräche der Vaters mit einem „Commendatore" zeigen, dass alles weiterhin mit Wissen und Deckung von Polizei und Geheimdiensten geschah. So gewinnt die ebenso spannende wie unglaubliche Geschichte eine starke politische Dimension. Regisseur Pablo Trapero, der 2004 mit der Tragikomödie „Familia Rodante - Reisen auf argentinisch" erstmals auf sich aufmerksam machte, erhielt 2015 in Venedig den „Silbernen Löwen" für die „Beste Regie".

28.2.16

Das Tagebuch der Anne Frank (2016)

BRD 2016 Regie: Hans Steinbichler mit Lea van Acken, Martina Gedeck, Ulrich Noethen 128 Min. FSK: ab 12

Nach einigen internationalen Produktionen gibt es nun „Das Tagebuch der Anne Frank" auch als deutsche Verfilmung - siebzig Jahre nach dem Tod der jungen Autorin im KZ Bergen-Belsen. Hans Steinbichlers Film ist eine vorsichtige Produktion für ein junges Publikum, die mit Drehbuch, Regie und Besetzung keinerlei Risiko eingeht. Trotzdem kann der Text zusammen mit der großartigen Hauptdarstellerin beeindrucken.

Der Weg von Schweizer Sommerfrische in Sils-Maria ins nicht mehr freie Amsterdam, dann in eine versteckte Miniwohnung, in der sich die Familie Frank nicht mehr frei bewegen kann. Und am Ende steht das KZ. Anne Franks Weg vom Licht in die Dunkelheit beginnt mit der tragischen Fehleinschätzung ihres Vaters Otto Frank (Ulrich Noethen), Holland sei genau so sicher wie die Schweiz, nur eben näher bei den Verwandten in Aachen und Frankfurt.

In Amsterdam müssen die Franks den gelben Juden-Stern tragen, aggressive junge Mitglieder des faschistischen NSB verjagen jüdische Mädchen vom Strand. Als Annes ältere Schwester Margot deportiert werden soll, zieht die Familie 1942 in ein lange vorbereitetes Versteck über der Fabrik von Freunden. Richtig mühsam, eng und menschlich unangenehm wird es in den 50 Quadratmetern, als die laute und ungehobelte Familie van Daan einzieht. Die Spannungen nehmen zu auf engem Raum mit unausweichlichen Reaktionen der anderen. Doch die Franks behalten während der zwei Jahre im Verlies ihren Humor, beschreiben ihre Unterkunft als „waldfreie Lage mit fließend Wasser an verschiedenen Wänden, fett-freie Nahrung". Als Anne 13 Jahre alt wird, beginnt sie ihr Tagebuch, das sie mit „Liebe Kitty" anspricht.

Vor allem wenn Anne ihr Tagebuch teilweise direkt in die Kamera spricht, beeindruckt die selbstbewusste Weltsicht dieses jungen Mädchens. Eines neugierigen Mädchens, das in diesen beengten Verhältnissen mit stark eingeschränktem Personenkreis ihr sexuelles Erwachen erlebt. Und das auch 70 Jahre später überhaupt nicht von gestern wirkt. Das oft selbstgerechte Mädchen nennt die Eltern Pim und Mansa, wobei der Vater Pim alle Sympathien bekommt und ein krasser Konflikt mit der Mutter (Martina Gedeck) eskaliert. Anne Frank entwickelt im Tagebuch ihre eigene Theodizee zum Leiden des jüdischen Volkes, das sie als auserwählt für die Zukunft ansieht.

Die starke Wirkung ist ein Verdienst auch der 17-jährigen Lea van Acken, die bereits 2014 in Dietrich Brüggemann „Kreuzweg" als religiöse Jugendliche Maria beeindruckte. Ihre Anne Frank ist enorm gut gespielt und gesprochen, lenkt ab von den schwachen Interpretationen der üblichen Verdächtigen Martina Gedeck und Ulrich Noethen als Annes Eltern. „Das Tagebuch der Anne Frank" wurde vom verdienstvollen Fred Breinersdorfer zum Drehbuch umgeschrieben, entfernt sich zum Glück von Breinerdorfers Schema bei „Elser - Er hätte die Welt verändert" (2014) und „Sophie Scholl - Die letzten Tage" (2005). Regisseur Hans Steinbichler begann seine Karriere mit den sehr bemerkenswerten Filmen „Winterreise" (2006) und „Hierankl" (2003), hält sich jedoch hier mit einer braven und unspektakulären Inszenierung zurück. Aber selbst die sehr penetrante Musik sowie eine überzogene Filmlänge können den Eindruck nicht beschädigen, den dieses Vermächtnis des klugen jüdischen Mädchens macht.

26.2.16

Zoomania

USA 2016 (Zootopia) Regie: Byron Howard, Rich Moore, Jared Bush 109 Min. FSK: ab 0

Nein, dies ist kein verfrühter Oster-Film. Selbst wenn ein Kaninchen darin die Hauptrolle spielt. „Zoomania" ist Zeichentrick auf der technischen Höhe der Computer-Zeit, aber auch Buddy- und Cop-Movie mit Tieren, die sich wie Menschen verhalten. Ganz so wie in Disneys „Robin Hood" aus dem Jahr 1970. Allerdings ist heutzutage das Polizei-Kaninchen Judy Hopps ziemlich emanzipiert und rollen-bewußt.

Die Handlung beginnt wie aus der Disney-Serienproduktion: Das kleine Kaninchen-Mädchen Judy Hopps will schon von Kinderbeinen und der Schulbühne an die Welt verbessern. Klar, dass Judy Polizistin wird und ihren Job in der aufregend großen Stadt Zootopia antreten darf. Um Parkverbots-Tickets zu verteilen. Denn auch dieser Disney erzählt von einer Welt, die einem sagt, man sei zu klein, zu dumm, ein Mädchen. Doch zusammen mit dem schlauen Fuchs und Gauner Nick Wilde setzt sich die ehrgeizige Judy auf die Spur einer ganzen Reihe verschwundener Tiere.

Zootopia ist ein reizvoller Mikrokosmos mit verschiedenen Welten und Öko-Systemen. In Miniaturform für Mäuse, arktisch eingefroren oder direkt nebenan tropisch heiß. Sehr nett werden die tierischen Eigenschaften von Lemmingen oder verbeamteten Faultieren vorgeführt. Großartig, wie diese Schnarchnasen einen Witz in Zeitlupe verstehen, eine Folter für das wibbelige Kaninchen.

Allerdings ist diese Welt auch in Raubtiere und Beute aufgeteilt - oder in Gut und Böse – die hier erst einmal friedlich miteinander umgehen. Bis ausgerechnet ein Versprecher von Judy zu Vorurteilen gegenüber allen Raubtieren führt. Neben der ewigen Disney-Mantra „Du kannst alles erreichen, wenn du nur willst" wagt sich „Zoomania" an ein ziemlich schwieriges Thema, in das sich auch die junge Heldin verrennt. Zwar wird mit „typischen Eigenschaften" wie „schlauer Fuchs" trefflich charakterisiert und unterhalten, dann sollen wir aber lernen, dass doch alle gleich sind! Ein Zwiespalt der großen Welt mit Rassismus und Profiling, den dieser kleine Film selbstverständlich nicht lösen kann.

Dafür unterhält der 55. Disney Spielfilm vortrefflich. Die Regisseure bringen Erfahrung von etwas abstruseren Animationen mit: Byron Howard hat „Rapunzel - neu verföhnt", Rich Moore machte die abgedrehte Computerspiel-Geschichte „Ralph reicht's". So gibt es ein Yoga-Retreat voller nackter – igittigitt – Tiere, einen Maulwurf mit Paten-Parodie, selbstverständlich samt Hochzeit der Tochter des Paten, und das Apple-Logo wurde durch eine angebissene Mohrrübe ersetzt.

Die auch feministische Geschichte erfreut mit erwachsenen Charakteren voller Charakter. „Zoomania" ist wieder mal ein Kinderfilm, der die großen Begleiter nicht unendlich langweilt. Dass alles doch ein durchkalkuliertes Produkt bleibt, zeigt die rasante Action im Finale und schließlich die furchtbare Animation von Shakira als Gazelle (wieso nicht Nasenbär bei ihrem nasalen Geknödel?) mit noch schlimmeren Lied im Abspann.


PS: Dass der Originaltitel „Zootopia" zu einem sehr sinnlosen „Zoomania" wird, ist der typisch deutsche Austausch von englischen Titeln mit Titeln, die weder englisch noch deutsch sind. Wieso bloß wird im internationalen Titel-Chaos („Zootropolis" in NL, DK) die Utopie so abgelehnt? Passt das Träumen (von einer Utopie) doch nicht so gut zu Disney?

24.2.16

13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi

USA 2016 Regie: Michael Bay mit James Badge Dale, John Krasinski, Max Martini 145 Min. FSK: ab 16

Willkommen in US-Wahlkampf, quer-finanziert durch Hollywood. Politisch Interessierte mögen sich erinnern, wie Hillary Clinton als Außenministerin im letzten Jahr nicht 13, sondern 11 Stunden lang in einem Parlaments-Ausschuss befragt wurde, weil bei einem Anschlag auf eine Außenstelle des US-Konsulats im libyschen Benghazi ausgerechnet am Jahrestag der Attentate von 9/11 vier US-Amerikaner starben. „13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi", der voller Adrenalin gepumpte Action-Film vom filmischen Grob-Motoriker Michael Bay erzählt nun, was wirklich geschah ... selbstverständlich nicht!

Vor allem erzählt auch dieser Hollywood-Film viel vom üblichen Weltbild des typischen US-Amerikaners: Überall im Ausland lauern Gefahren, böse Menschen wollen gutmeinenden Diplomaten und Spionen ans Leben. Nun war Libyen schon 2012 nach dem Sturz Gaddafis kein sicherer Ausflugsort, hier hatte eigentlich jeder schwere Waffen in den Händen. Und deshalb ist ja auch die CIA da, sie will diesmal verhindern, dass Waffen verkauft werden. Ein guter Witz. Neu ist, dass die früher so coolen Geheimagenten nun als unfähige Schreibtischtäter selbst Aufpasser brauchen. Die stellt eine Sammlung von Vollbärten mit Muskeln dran. Ein paramilitärischer Trupp von Söldnern namens GRS, der wieder, wie einst „Rambo" für die unfähigen Politiker die Kohlen aus dem Feuer holen muss. In diesem Fall den angekokelten US-Botschafter, dessen so gut wie ungeschützte Residenz von einem Mob scheinbar spontan überfallen und abgefackelt wird.

Regisseur Michael Bay ist selber mit seinen Filmen wie „Transformers" und „Pearl Harbor" eine Art Söldner der US-Armee. Das fürchterliche Wort „Overkill" findet bei ihm seine extremste filmische Entsprechung: Immer ist alles zu viel zu laut, zu chaotisch, zu tödlich. Selbstverständlich haben auch in „13 Hours" Scherze oder gar Selbst-Ironie keinen Platz. Das größte Kunststück von Michael Bay ist allerdings, dass dieses fürchterliche Machwerk trotz seiner unendlich vielen Explosionen, Schießereien und Morde auch unendlich langweilig ist. Nach einer langen Exposition von fast einer Stunde mit rührenden Bildern der Liebsten zuhause und intensivem Bodybuilding ist der Rest endloses Geballer.

Trotzdem ist es beim Rumsitzen verführerisch, sich auf die beschränkte Logik des Films einzulassen. Denn die bärtigen Jungs sind ja so nett. In Berlin wären sie Hipster, woanders bringen sie Menschen um. Die man wiederum nicht versteht. Der Dolmetscher ist symptomatisch nur eine Witzfigur. Die gesichtslosen „Fremden", unter denen es nicht mal eine schurkige Nebenfigur gibt, fangen einfach grundlos an zu schießen und zu überfallen, während der Trommler beim Einpeitschmarathon auf der Tonspur Sonderzulage bekommt.

Wie in der Außenpolitik staunt man auch hier, was für ein unglaublicher Aufwand für ein erbärmliches Ergebnis getrieben wird: Ein Propaganda-Stückchen, das vier Jahre nach den Ereignissen zufällig mitten im Vorwahlkampf in die Kinos kommt. Man könnte auch sagen: Eine kriegstreiberische und rassistische Propaganda-Lüge!

23.2.16

Mustang (2015)

Türkei, Frankreich, Katar, BRD 2015 Regie: Deniz Gamze Ergüven mit Günes Sensoy, Doga Zeynep Doguslu, Elit Iscan, Tugba Sunguroglu, Ilayda Akdogan 94 Min. FSK ab 12

Für fünf sehr fröhliche, ausgelassene Waisen, selbstbewusste, starke Mädchen an der türkischen Schwarzmeerküste, endet mit den Sommerferien die Freiheit. Die Schwestern baden mit Klassenkameraden am Strand - in voller Schuluniform. Trotzdem sorgt dies im Dorf für Aufruhr und die Mädchen werden von Oma und Onkel fortan eingesperrt. Computer, Handys sogar Telefone verschwinden. In der ersten Aufregung bekommt der grobe Onkel noch die Schläge, die er austeilen will, von seiner Mutter selbst ins Gesicht. Erniedrigung und Hausarrest beginnen mit einer Kontrolle der Jungfernschaft im Krankenhaus. Später kommen zur Erhaltung der Heiratsfähigkeit Gitter vor die Fenster, die Mauern werden erhöht. Im Rahmen der Reduzierung aufs Hausfrauen-Sein gibt es nur noch Haushaltslehre zu Hause, die Sommerkleidung ersetzen fortan sackartige Kleider.

Viel Handkamera und vor allem die schwebende Musik weckt Erinnerungen an Sofia Coppolas „The Virgin Suicides", denn lange erhalten sich die Mädchen ihren freien Geist. Trotzdem zeigt „Mustang" das Genre des Sommer-Films unter umgekehrten Vorzeichen: Wo es sonst um Entdeckung und Entgrenzung geht, werden die Mädchen nacheinander unter im heutigen Europa eigentlich undenkbarem Zwang verheiratet.

Eine schöne Episode, in der die Mädchen ausbrechen, um als Fußball-Hooligans mit ihren Freundinnen zu einem Spiel zu reisen, wie die Tante dann einen ganzen Transformator abschießt, damit die Männer die Mädchen nicht während der Live-Übertragung im Stadion sehen, ist noch ein letzter Spaß. Nachdem die erste gegen ihren Willen verheiratet wird, muss beim Gynäkologen erneut die Jungfernhaut untersucht werden, weil sie in der Hochzeitsnacht nicht blutet.

Wie schon im iranischen Film „Der Tag, an dem ich zur Frau wurde" von Marzieh Meshkini machen gerade die Freiheiten der Inszenierung das unfreie Leben der Mädchen spürbar. Toll mit regionaler Leidenschaft gespielt, findet dieser ungewöhnliche Gefängnisfilm zwar neue Wege der Inszenierung. Zur Flucht bleiben aber nur allesamt tragischen Möglichkeiten. Die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven erhielt den Europäischen Filmpreis 2015 für die „Europäische Entdeckung des Jahres".

Der Kuaför aus der Keupstraße

BRD 2015 Regie: Andreas Maus 98 Min. FSK: ab 0

Dieser exzellente und enorm wichtige Dokumentarfilm blickt auf jene, die beim ewig langen NSU-Prozess gegen Zschäpe oft vergessen werden: Die Opfer. „Der Kuaför aus der Keupstraße" erzählt die Geschichte des Nagelbombenanschlags des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) vor einem türkischen Frisörsalon in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 nach und zeigt die Folgen in einer packenden Inszenierung auf.

Die ersten Bilder von in Zeitlupe auf den Boden fallenden Nägeln sind schauerlich, werden aber im Verlauf von den Originalverhören der Polizei im Entsetzlichen übertroffen. Die wollte unglaublicherweise monatelang den Opfern die Schuld zuschieben. Später kommen weitere Ungereimtheiten der Polizeiarbeit ans Licht, als die noch verletzt Verhörten später nur Fragmente stundenlanger Befragungen und Anschuldigungen im eindeutig „nachbearbeiteten" Protokoll wiederfinden. Das Ausmaß der politisch verzerrten Blicks ist schockierend: Gleich mehrere versteckte Ermittlersollten organisierte Kriminalität im türkischen „Milieu" aufdecken.

Vor allem die Opfer des Anschlages, die beiden türkischen Friseure, kommen zu Wort. Dazu gibt es in Bild und Ton exzellente Porträts von Menschen des Viertels, Geigenbauer, Schneiderin, Konditor, CD-Händler und selbstverständlich der Mann vom Kiosk. Neben den Interviews fügt der Film geschickt in stilisierter Szenerie nachgesprochene Vernehmungsprotokolle ein. Eine weitere, poetische Ebene lässt der rechtschaffenen Entrüstung mit kommentierenden Texten freien Lauf. Die Filmemacher finden durchgehend packende Formen für ihre sorgfältig mit langem Atem recherchierte Geschichte. Ein sehnsüchtig aufgesogenes Gegengift zu dem Schlagzeilen-Stakkato der meisten Medien.

22.2.16

Freunde fürs Leben

Spanien, Argentinien 2015 (Truman) Regie: Cesc Gay mit Ricardo Darín, Javier Cámara, Dolores Fonzi 113 Min. FSK: ab 0

Julian (Ricardo Darín), ein Schauspieler aus Madrid, hat Lungenkrebs und will keine Chemotherapie mehr machen. Aus diesem Grund besucht ihn sein alter Freund Tomás (Javier Cámara) und kommt für vier Tage aus Kanada. Gemeinsam teilen sie dem behandelnden Arzt den Beschluss mit, versuchen Julians Begräbnis mit einem nicht sehr einfühlsamen Bestatter zu planen und erkundigen sich beim Veterinär über die Trauer von Hunden. Denn für Julian ist sein Hund Truman wie ein Kind.

Witzigerweise hält der totkranke Julian den Kanadier mit Jetlag auf Trab. Beide zeigen ihre typisch männlich raue Seite, was immer wieder komisch ist, wenn sie kurz zum Heulen weggehen. Zwar geht es auch darum, das Leben aufräumen, es gibt einen Kurztrip zu Julians entfremdetem Sohn in Amsterdam, doch auch die Inszenierung vermeidet große emotionale Momente, geht mal lieber frühstücken oder vor dem Café rauchen.

Bei einigen Geständnissen und Entschuldigungen gegenüber betrogenen Kollegen ist die Kunst von Regisseur Cesc Gay („En la Ciudad", „Ein Freitag in Barcelona"), bei dem sich wieder alles um Freundschaft dreht, kleine Momente sicher und frei von großem Pathos zu inszenieren. Der Film kann auf das gekonnt zurückhaltende Spiel von Ricardo Darín („Wild Tales", „In ihren Augen") vertrauen, um nachhaltig und glaubwürdig zu berühren.

21.2.16

Spotlight

USA 2015 Regie: Tom McCarthy mit Mark Ruffalo, Michael Keaton, Rachel McAdams, Liev Schreiber 128 Min.

„Spotlight" ist ein erstaunlicher Film in vielerlei Hinsicht: Da wird die Vergewaltigung von Kindern durch katholische Priester in der Erzdiözese Boston ganz ohne spekulative Bilder, ganz ohne überdramatisierte Szenen aufgedeckt. Da gibt es investigativen Journalismus ohne geheimnisvolle Informanten in Tiefgaragen oder aufpeitschende Action-Szenen. Und vor allem haben diese Journalisten sagenhafte zwölf Monate Zeit, an einer Geschichte zu arbeiten. Das Erstaunlichste bei all dem: „Spotlight" ist mit Mark Ruffalo, Michael Keaton und Rachel McAdams in den Hauptrollen ein packender und bewegender Film!

Die wahre Geschichte setzt 2001 ein, beginnt aber mindestens 15 Jahre, wenn nicht viele Jahrzehnte früher: Ein Priester wird in Boston kurzzeitig festgenommen, weil er einen seiner Zöglinge vergewaltigt haben soll. Die Sache ist schnell erledigt, auch wenn sie in einer Kolumne der Tageszeitung „The Boston Globe" Niederschlag findet. Doch zufällig gibt es mit Marty Baron (Liev Schreiber) gerade einem neuen Chefredakteur, der das Reporterteam der Spotlight-Sektion drauf ansetzt. Nun kommt eine jahrzehntelange, systematische Vertuschung ans Licht, bei dem hunderte Priester für ihre Sexual-Verbrechen nicht bestraft, sondern nur versetzt wurde. Und oft in den neuen Gemeinden ungestört weiter machten.

Selbstverständlich erfährt das Team um Walter „Robby" Robinson (Michael Keaton) dies alles nicht ohne Widerstand. Schnell zeigt sich die Macht der Kirche, die in allen Fällen außergerichtliche Einigungen mit den Opfern erzielte. Gerichtsakten verschwinden. Der Kardinal lädt den jüdischen Chefredakteur Baron vor. Die Journalistin Sacha Pfeiffer (Rachel McAdams) hat Angst, ihrer Familie von der Recherche zu erzählen. Und Walter Robinson riskiert Freundschaften im Golfclub. Auch an die Mehrzahl katholischer Abonnenten sei zu denken...

Auf der anderen Seite sieht man einige der Opfer, hört – ganz ohne Rückblenden! - wie sie schutzlos misshandelt wurden und wie schwer ihr Leben danach verlief. Sie hängen an der Nadel, an der Flasche, einige haben sich bereits umgebracht.

Dabei ist die noch gar nicht so alte Geschichte über einen Saustall, der bis heute immer noch nicht wirklich ausgemistet wurde, in anderer Hinsicht schon prähistorisch. Nicht nur wegen nerdigem Handy-Halter am Gürtel und weil das Internet erst gerade richtig durchstartet. Die Recherche in Papier-Archiven und per Telefon wird vielen Zuschauern und vielleicht auch vielen Journalisten bereits völlig unbekannt sein. Ganz ohne pathetischen Zeigefinger oder Geigen-beschwerte Szenen erfährt man etwas über journalistisches Ethos, über die Notwendigkeit, Informationen zu kontrollieren, sie aber auch immer wieder ernst zu nehmen.

Denn so scheinbar einfach dieser feine, exzellente Film daher kommt, weil er nirgendwo zu dick aufträgt - vor allem Walter Robinson macht die Frage quälend, weshalb niemand dies alles früher gesehen hat. Weshalb niemand früher etwas gesagt hat. Denn es passierte nicht nur auch an der Schule direkt gegenüber dem Redaktionsgebäude, es passierte in der Parallelklasse Robinsons. Ja, „Spotlight" erzählt mit langem, ruhigem Atem, ohne laute Schockmomente, doch danach kann ein Kinderspielplatz in der Nähe einer Kirche sehr wohl ein mulmiges Gefühl verursachen.

Where to invade next

USA 2015 Regie: Michael Moore 110 Min.

Die Lage ist verzweifelt: Seit Korea hat die USA keinen ihrer Kriege mehr gewinnen können. So rufen die Chefs von Army, Luftwaffe und Marine den bekannten Dokumentarfilmer und Regime-Kritiker Michael Moore zu Hilfe. Und der liefert: Eine Liste mit Ländern, die demnächst erobert werden sollen, samt der Sachen, die man in traditioneller Weise dort jeweils mitgehen lässt. Äußerst humorvoll hält Moore seiner „großen Nation" einen Spiegel vor und zeigt bei einer manchmal übereilten Weltreise, was in Sachen Arbeiter- und Bürgerrechte der Standard sein sollte. Ein auch für Deutschland lehrreicher Spaß, selbst wenn ein Bleistift-Hersteller hier als mustergültig durchgehen soll.

Wie immer beim großen Polit-Clown Michael Moore („Fahrenheit 9/11", „Bowling for Columbine", „Roger & Me") sind Idee und Lösung verblüffend einfach: Da reist er mit der us-amerikanischen Nationalflagge durch Europa, okkupiert mit flapsigem Pathos ganze Nationen und eignet sich für die USA Dinge wie bezahlten Urlaub, Arbeiternehmermitbestimmung, Sexualkunde-Unterricht, besseres Bildungs-, Gesundheits- und Strafsystem an. Und richtig komisch ist es zudem, wie Moore mit seinen naiven Fragen, den persönlichen Reaktionen und einer flotten Montage beispielsweise herausfindet, weshalb italienische Paare immer so aussähen, „als ob sie gerade Sex gehabt hätten". Es sind die für US-Amerikaner unglaubliche Anzahl von Urlaubstagen sowie die selbst von Deutschen kritisch beäugten langen Mittagspausen. Naheliegende Zweifel beantworten die Chefs einer Näherei für Armani und der von Ducati abschlägig: Die Angestellten seien glücklich, weniger krank und dadurch produktiver.

Auch Frankreich bleibt Michael Moore den Klischees treu: Im Land der Liebe besucht er den Sexualkunde-Unterricht und lässt alle mal herzlich über das us-konservative Konzept und Kontrazeptivum der Enthaltsamkeit lachen. Nein, das würden sie hier nicht lehren, die Zahlen schwangerer Teenager (sechs mal mehr in den USA als in der BRD) wären nicht überzeugend. Weiter in Deutschland will man sich zuerst über die typischen Nazi-Bilder beschweren, doch eine Hymne auf die Erinnerungskultur macht vor allem wieder im Vergleich zu den USA nachdenklich: Dort, „in einer großen Nation, die auf einem Genozid und auf Sklavenarbeit aufgebaut wurde", gab es erst 2015 ein Museum über die Sklaverei!

Auch die kurze und weiterhin witzige Inspektion finnischer Schulen mit extrem wenigen Schulstunden und keinen Hausaufgaben, oder die verblüffende Besichtigung norwegischer Mustergefängnisse lassen nachhaltig nachdenken. Wobei Moore bei seinem eigentlich nationalen US-Film immer wieder betont, dass etwa auch das Verbot unnötig grausamer Strafen eigentlich eine US-Erfindung sei. Man habe es nur vergessen, beziehungsweise auch die Gefängnisse dem Kapitalismus verkauft.

Wie immer sind Moores Argumente sehr pointiert und in ihrer Verkürzung leicht angreifbar. Die Ideen dahinter bleiben trotzdem eindrucksvoll. Mit weniger Filmzitaten oder Animationen als früher, ist er immer noch witzig. Auch den Wechsel zur Betroffenheit bekommt er sicher hin. Das ist lehrreich und macht viel Spaß. Dabei vergisst man glatt, dass man sich hier von einem der letzten linken Filmemacher überhaupt unterhalten lässt.

20.2.16

Berlinale 2016 Glück gehabt?

„Die Suche nach dem Glück" wurde als Motto der 66. Internationalen Filmfestspiele Berlins ausgegeben. Bevor das Festival am Samstag mit der Verleihung der Goldenen und Silbernen Bären nach zehn Tagen zu Ende geht, ist der Anspruch bescheidener geworden: War die Suche nach guten Filmen glücklich? Tatsächlich dachte man mit fortgeschrittenem Verlauf des Wettbewerbs eher verzweifelt an Clint Eastwoods grimmigen Dirty Harry-Spruch mit Pistole an schwitziger Stirn „Ist heute dein Glückstag, Punk?"

Die Sache mit dem großen Glück, beziehungsweise „Die Suche nach dem Glück oder das Recht auf Glück" wie das Festival zurechtrückte, wurde schon zu Beginn von George Clooney geerdet. Eine der üblich bescheuerten Presse-Fragen zu seinem ganz persönlichen Engagement für Flüchtlinge gab er einfach zurück: Was täte denn die Journalistin ganz persönlich für Flüchtlinge? Spenden konnte jeder Festivalgast für ein Behandlungszentrum für Folteropfer, die Aufrufe dazu vor den Galavorstellungen klangen zum Schluss allerdings eher verzweifelt.

Man müsste vielleicht mal erklären, dass Kinofilm immer noch nicht mit Polaroid-Material gemacht wird, es liefert keine Instant-Lösung für aktuelle Probleme, selbst wenn der Kaffee-Kapsel-Mann der Menschenrechts-Anwältin Clooney mitspielt. Trotzdem blieb auch die 66. Berlinale ihrem Image treu: Cannes hat die besten Filme, Venedig hat Kanäle, Locarno Open Air und Berlin ist politisch. Mehr Regierungsvertreter gingen selten ins Kino: Der portugiesische Premierminister und der angolanische Staatschef schauten sich den poetischen „Cartas de guerra" zur gemeinsamen Kolonialvergangenheit an. Der Provinzchef von Sarajevo sah die blutarme Polit-Parabel „Smrt u Sarajevu" (Tod in Sarajevo) vom ehemaligen Festival-Sieger Danis Tanović. Der dänische Botschafter war dabei, als einer der hervorragenden Botschafter für den dänischen Film, Thomas Vinterberg in „Die Kommune" das freie WG-Leben der späten Sechziger als erschütternd verantwortungslos demaskierte. Und der Chef der US-Botschaft gleich neben der Festivalmeile gab bei „Zero Days" von Alex Gibney den offiziellen Buhmann: Die Dokumentation im Wettbewerb machte verständlich und ausführlich anhand des von NSA und Mossad produzierten Stuxnet-Virus klar, dass die Bedrohung durch Cyber-Krieg ebenso ernst zu nehmen sei, wie die durch Atomwaffen.

Ein anderer Gast aus den USA schmeichelte Europa: Michael Moore eroberte in seiner komischen und erschreckenden Dokumentation „Where to invade next" stellvertretend für das US-Militär (die hätten ja seit Korea nur noch Kriege verloren!) vor allem europäische Länder und entführte deren besten Eigenschaften. Aus Italien die vielen Urlaubstage, aus dem „Land der Liebe" Frankreich die Sexualerziehung und aus Deutschland Arbeitermitbestimmung und die Beschäftigung mit unserer Nazi-Vergangenheit.

Die Aussichten in dieser weiten Themen-Spanne von Vergangenheit bis Zukunft beim Wettbewerb sind für Kino-Gänger nicht berauschend: Zwar ist, wer unter mehr als 400 Filmen der Berlinale nichts Gutes findet, selbst schuld. Oder irgendwie dem seltsamen Irr-Glauben verpflichtet, im Wettbewerb würden die besten Filme laufen. Die Favoriten-Frage bringt einen Tag vor dem Ende zudem das bekannte Apfel und Birnen-Problem ans Licht. Oder: Kraut und Rüben. die Härtesten erholen sich noch vom philippinischen Acht Stunden-Opus „Hele Sa Hiwagang Hapis" des hochverehrten Langfilmers Lav Diazvom. Filme wie „Genius", der Biografie des Lektors von Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald und Thomas Wolfe, sind immer nur wegen der Stars dabei, diesmal waren Colin Firth, Jude Law, Laura Linney und Guy Pearce anwesend. Die Vergangenheit des analogen Filmmaterials tauchte noch einmal wie eine Meerjungfrau aus dem Märchen im chinesischen Beitrag „Chang Jiang Tu" auf, einem langen Bilderfluss entlang des Jangtse, der wohl nicht nur deshalb die schönsten Bilder im Wettbewerb zeigte. Ganz große Emotionen löste das extrem private und doch politische „Kleine Fernsehspiel" „24 Wochen" von Anne Zohra Berrached aus. Hauptdarstellerin Julia Jentsch könnte für ihre Rolle als Schwangere mit mehrfach behindertem Kind ihren zweiten Schauspiel-Bären erhalten.

Die noch nicht ausgeformte Zukunft des Filmvertriebs von Pay TV-Produzenten wie Netflix oder Amazon zeigte sich mit dem Festival-Hit „Chi-Raq" vom alten Aktivisten und Komödianten Spike Lee – leider außerhalb des Wettbewerbs. Wie auch Doris Dörries ausgeschlossene „Grüße aus Fukushima" mit der großartigen Rosalie Thomass („Taxi") Preise verdient hätten. Und dann die ganzen TV-Serien der Sektion „Berlinale Special Series"! Susanne Biers Geheimdienst-Geschichte „The Night Manager" etwa, von der zwei Folgen liefen. Das ist mittlerweile auch „besser" als vieles im Wettbewerb. Deshalb sollte man sich, egal wie Meryl Streep, Lars Eichinger und Kollegen die Festival-Preise verteilen, keinen Bären aufbinden lassen: Gute Filme gibt es reichlich, es stellt sich nur vermehrt die Frage, wo man suchen muss, und wem man die Suche nach dem filmischen Glück anvertraut.

19.2.16

Berlinale 2016 Mysteriöser Aachen-Tag

Ist es eine unbekannte Form von Heimweh oder einfach unheimlich: Dass in der etwas langen, aber sehr eindringlich gespielten Neuverfilmung von „Das Tagebuch der Anne Frank" Aachen auftaucht, war zu erwarten. Schließlich hatte die Familie Frank Verwandte in Aachen und – so sagt es der Vater im Film – ist deshalb in Amsterdam geblieben und nicht schon früh in die Schweiz geflohen. Doch dann in der Spätvorstellung nach einer Woche Festival dieser rätselhafte iranische Film „Ejhdeha Vared Mishavad!" (Ein Drache taucht auf) von Mani Haghighi. Drei junge Männer untersuchen 1964 einen gespenstigen Friedhof mit einem großen, alten Schiff eindrucksvoll mitten in der Wüstenlandschaft. Die Ereignisse mit Geheimdienst und blutigen Ritualen überschlagen sich und einer der Freunde, so wird in diesem komplett in Farsi gesprochenem Film erzählt, flieht nach ... Aachen! Damit ist der Film zumindest für einen Kritiker extrem rätselhaft und wirklich unheimlich. Ein Zufall? (Es gibt 149 Menschen mit Namen Haghighi in Deutschland.) Oder ein Zeichen, dass dieses Festival jetzt zu Ende gehen kann?

Drehbuch-Preis für Katinka Kulens-Feistl

Die aus Übach-Palenberg stammende Regisseurin Katinka Kulens-Feistl hat am Mittwoch in einer feierlichen Gala im Rahmen der Berlinale zum zweiten Male in ihrer Karriere den mit 20.000 Euro dotierten „Thomas Strittmatter Preis" für ihr Drehbuch „Irmas wildes Herz" erhalten. Das Coming-Of-Age-Roadmovie, das in Heidelberg und Irland spielt, erzählt von der scheuen Irma, die mit 62 Jahren mit dem raubeinigen, sexbesessenen LKW-Fahrer Dillon eine Fahrt nach Irland antritt, die mitten ins Herz ihrer eigenen traumatischen Vergangenheit führt. Katinka Kulens-Feistl dreht seit ihrem Studium in Aachen und Berlin regelmäßig Fernsehfilme mit starken Frauenrollen („Siehst Du mich?", „Bin ich sexy?").

Auch ihr Engagement im Vorstand von „ProQuote Regie", der Gleichstellungsinitiative in der Film- und Fernsehbranche, zeigt Ergebnisse: Die ARD gab am Mittwoch bekannt, dass sie die Anzahl der Regisseurinnen deutlich erhöhen will. Wie es aktuell aussieht, belegt die Nominierung von Kulens-Feistl letztem Film „Nele in Berlin" für den Jupiter-Preis der Zeitschrift Cinema: Sie war die einzige Frau unter den über zehn nominierten Filmemachern! (ghj)

16.2.16

Berlinale 2016 Les premiers, les derniers (Panorama)

Max von Sydow singt! Im neuen Film des aus Kelmis stammenden Schaupielers und Regisseurs Bouli Lanners hat dieser seine persönlichen Filmhelden versammelt: Michael Lonsdale und Max von Sydow spielen in „Les premiers, les derniers" zwei kauzige alte Herren. Der Film sieht aus wie ein Western, spielt aber in eine post-industrielle Brache Nordfrankreich im Heute. Zwei hartgesottene Gangster (Lanners, Albert Dupontel) auf der Suche nach einem Handy, ein geistig behindertes Pärchen auf der Suche nach einer verlorenen Tochter und der übliche Abschaum mit vielen Knarren sowie Pferdestärken unter der Motorhaube. In dem apokalyptischen Szenario, das laut dem belgischen Filmemacher Bouli Lanners „Hoffnung machen soll", spielt der Bahnhof von Montzen eine Nebenrolle. Vor allem begeisterten beim Hit in der Panorama-Nebenschiene der trockene Humor auch von Lanners selbst und die tollen Szenerien, die anstelle vom Grand Canyon Eindruck machen. „Ein Western, für den ich nicht ins Flugzeug steigen musste." (Lanners)

15.2.16

Hail, Caesar!

USA, Großbritannien 2016 Regie: Joel Coen, Ethan Coen mit Josh Brolin, George Clooney, Ralph Fiennes, Scarlett Johansson, Frances McDormand, Tilda Swinton, Channing Tatum, Christopher Lambert 106 Min.

Aber hallo! Die Komödie „Hail Caesar" ist eine wunderbare Sammlung filmischer Kabinettstückchen, eine Huldigung des nicht für alle Goldenen Zeitalter Hollywoods, etwas Skandalgeschichte der Traumfabrik und dann noch eine Glaubensfrage. Wieder einmal amüsieren Joel Coen und Ethan Coen sich und ihr Publikum. Oberclown Clooney ist auch mit dabei und zieht sich kein einziges Mal um!

George Clooney ist mit herrlich dämlichem Grinsen der Filmstar Baird Whitlock, gerade wieder mal auf Sandalen unterwegs, um einen Film dieser speziellen, in den 50er Jahren beliebten Sandalen-Gattung zu drehen. Doch am Set von „Tale of the Christ" schauen diesmal nicht die judäischen Verschwörer verschlagen aus der Umhang-Wäsche, es sind die Statisten an Leier und Kelch. Letzterer macht auch voll mit Schlafmittel voll mit und bald findet sich der Star – noch immer in römischer Rüstung mit unpraktischem Schwert – in den Händen kommunistischer Drehbuchautoren. Dies, in echt bald von McCarthy sogar bis in den Tod verfolgte Völkchen, wird von den Coens in ein Strandhaus nach Malibu versetzt und damit veralbert.

Denn obwohl hier die ungerechten Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln klar herausgestellt werden, nimmt „Hail, Caesar" die Haltung seines eigentlichen Helden, des Studio-Einpeitschers Eddie Mannix (Josh Brolin) ein. Für den, der in den wenigen Stunden des Films gleich mehrere komplexe Probleme jongliert, ist das Studio-System wie Religion. Dafür gibt es zwar nicht beste Haltungs-Noten, aber stilistisch bekommen die Coens wieder Bestmarken, wenn sie klassische Film-Genres dieser Zeit in herrlichen Szenen wiederauferstehen lassen. Das macht viel Spaß und nähert sich erst ganz am Ende, wenn Baird Whitlock ergriffen vor dem noch nicht Wiederauferstandenen steht, dem Transzendenten, das Coen-Filme auch immer gerne enthalten.

Der tief gläubige Produzent Mannix verhandelt nicht nur mit Vertretern der großen Kirchen über Details von „Tale of the Christ", er beichtet nicht nur täglich jede heimlich gerauchte Zigarette, er glaubt tatsächlich an das Studiosystem, in dem sich jeder der Fließband-Produktion stereotyper Genre-Filme unterzuordnen hat. Der größte Witz dabei ist letztlich, dass die Coens heutzutage als Autoren genau entgegengesetzt arbeiten können. Aber wir wollen nicht so genau sein und uns daran erfreuen, wie Tilda Swinton die Zwillings-Schwestern für Klatsch und Kultur spielen, die so miteinander verfeindet sind, wie sich nur E- und U-Presse hassen. Mannix macht es da wie die Coens: Er bedient einfach beide mit Leichtigkeit und Spaß.

Berlinale 2016 Jeder stirbt für sich allein (Wettbewerb) / NRW-Empfang

Berlin. Das ist er dann doch: Der im Berlinale-Wettbewerb „obligatorische wohlgemeinte Nazi-Film" (OWNF). Erst staunte man, dass „Das Tagebuch der Anne Frank" im Jugendprogramm „Generation 14plus" läuft. Aber die gute, alte Europudding-Produktion „Jeder stirbt für sich allein" (GB, FR, BRD) sorgt erwartungsgemäß für verdiente Buh-Rufe nach der Pressevorführung.

Hans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein" wurde von Primo Levi als „das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde", bezeichnet. Es erzählt, wie im Juni 1940 in Berlin Anna und Otto Quangel zu „Widerstands-Schreibern" werden, nachdem ihr Sohn als Soldat getötet wurde. Otto schreibt Postkarten mit Parolen gegen Hitler und legt sie überall im Stadtzentrum ab. Ein halbwegs rechtschaffener Polizist (Daniel Brühl) verfolgt sie, muss aber auf Druck der SS zu brutalen Maßnahmen greifen. Letztlich wird das Paar erwischt und erhängt.

Hans Fallada (1893–1947) schrieb den Roman im Herbst 1946 kurz vor seinem Tod und setzte damit dem realen Ehepaar Otto und Elise Hampel ein Denkmal. Die mittlerweile fünfte Verfilmung kommt nach internationalen Neuauflagen und einer neuen Begeisterung für das Buch mit internationalen Stars daher: Neben Brendan Gleeson beweist vor allem Emma Thompson in der Hauptrolle, dass man ihr alles abnimmt. Kulisse, Kostüme und Konzept hingegen nicht. In den wohlgemeinten Versuch, die Verantwortung des Einzelnen unter der Diktatur an Fallbeispielen zu differenzieren, laufen haufenweise abgegriffene Nazi-Klischees herum. Vom schmierigen Verräter über den verschwitzten, dicken Blockwart bis zu den strammen SS-Sadisten. Das ist mäßig spannende Unterhaltung mit etwas historischer Sättigungsbeilage. Alle Jahre wieder notwendige Vergangenheits-Bewältigung, die so nicht ausfallen darf. Wuchtiger, wichtiger und unerlässlich wird es in zwei Wochen der Cannes-Preisträger „Son of Saul" im Kino zeigen. Nicht dass man jetzt die Berlinale mit Cannes vergleichen könnte...

*****

„Jeder stirbt für sich allein" wurde im Mai 2015 für 15 Tage im Ruhrgebiet als auch in Köln und Remscheid gedreht und von der Filmstiftung NRW gefördert. Doch vom mageren Ergebnis ließ sich die Filmstiftung das Feiern nicht vermiesen und empfing auf der größten Party des Festivals Sonntag mehr als 1.000 internationale Gäste aus Film, Medien und Politik. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und die Geschäftsführerin der Film- und Medienstiftung, Petra Müller, freuten sich über 26 Filme bei der Berlinale 2016.

Midnight Special

USA 2016 Regie: Jeff Nichols mit Michael Shannon, Joel Edgerton, Kirsten Dunst, Jaeden Lieberher, Sam Shepard 111 Min.

Der neue Film der Regie-Hoffnung Jeff Nichols („Take Shelter") mit den Stars Michael Shannon und Kirsten Dunst ist „E.T. 2.0" sowie religiöser Science Fiction für das Zeitalter der Totalüberwachung. Und vor allem hoch spannend! FBI, NSA, eine christliche Sekte und auch der eigene Vater Roy (Michael Shannon), der ihn einst zur Adoption freigab – alle wollen den achtjährigen Jungen Alton (Jaeden Lieberher). Kein Wunder, oder doch gerade eines, wenn man sieht, was Alton mit seinen Augen macht, wenn gleißendes Licht eine bessere Welt verkündet. Nebenbei lesen seine Gedanken noch extrem geheime Regierungs-Informationen aus verschlüsselter Satelliten-Kommunikation aus, wie in Trance spricht er spanische Radiosender mit, die gar nicht eingeschaltet sind. Und irgendwann auf der Flucht rast wie ein Meteoritenhagel ein aus der Bahn geratener Spionage-Satellit genau auf die Tankstelle nieder, an der Roy und Alton Pause machen.

Doch Alton ist keine Waffe, kein Messias, er will nur nach Hause, in ein zumindest architektonisch futuristisches Tomorrow-Land, das im Finale versprochen wird. Erst mysteriös, dann spannend, familien-mäßig rührend und schließlich reichlich Zukunfts-Kitsch. „Midnight Special" ist großartig, aber für alle, die im Hier und Jetzt zurückbleiben, letztlich enttäuschend.

Schon in „Take Shelter" – und auch mit einem eindrucksvollen Michael Shannon - beschwor Regisseur Jeff Nichols eine drohende Apokalypse herauf. Diesmal jedoch verrät er relativ schnell, wohin die Reise geht, sortiert die Figuren in gut und böse ein. Das nimmt der immer noch spannenden Handlung eine Dimension. Trotzdem bleibt des Können von Nichols eine sehr reizvolle Hoffnung für die Zukunft!

The Boy

USA 2016 Regie: William Brent Bell mit Lauren Cohan, Rupert Evans, James Russell 98 Min.

Da knirscht es mächtig im Gebälk dieser Horrorfilm-Konstruktion: „The Boy" versucht von der ersten Minute an mit einem dunklen, alten Haus unheimlich zu wirken. Und strapaziert dann die Glaubwürdigkeit, weil die amerikanische Nanny Greta (Lauren Cohan, „The Walking Dead") im verschrobenen England eine Puppe sitten soll.

Das ist zu Beginn extrem abstrus, aber zur Entschuldigung kann man sagen, dass Greta zuhause von ihrem brutalen Freund geschlagen wurde und dabei ein Kind verlor. Außerdem macht sie das seltsame Spiel für Geld mit. Als die seltsamen, alten „Eltern" der Puppe namens Brahms sich für eine längere Weile verabschieden, wird es richtig komisch. Nicht, weil im Gewitter ein Kind schreit, obwohl außer ihr niemand mehr im Haus ist. Greta akzeptiert plötzlich, dass die Puppe ein eigenes Leben hat, akzeptiert es sogar freudig. Und auch der Botenjunge Malcolm wird überzeugt. Da steht nur noch die Eifersucht von Brahms dem trauten Glück im Wege. Als Greta mit Malcolm ausgehen will, sperrt das Haus sie auf dem Dachboden ein.

Eine Bauchredner-Puppe führte gerade schon in „Gänsehaut" Kommando und „Chucky - Die Mörderpuppe" hat man ja auch über mehrere völlig abstruse Filme irgendwie hingenommen. Zwar sind Schockmomente und der Rest in „The Boy" nicht gerade subtil eingesetzt, doch bis zum ärgerlichen, an den Haaren herbeigezogenen Action-Finale war diese Kinderstunde noch ganz nett. Die Moral der Geschichte: Frauen, wehrt euch gegen gestörte Jungs, die nicht loslassen können ... und mit euch in solche Filme gehen wollen.

Die Hüterin der Wahrheit - Dinas Bestimmung

Dänemark, Norwegen, Tschechien, Island 2015 (Skammerens Datter) mit Rebecca Emilie Sattrup, Peter Plaugborg, Søren Malling, Maria Bonnevie 96 Min.

Die Märchen- und Mystery-Geschichte „Hüterin der Wahrheit" unterhält als Kinder- und Jugendfilm auf dem hohen Niveau der dänischen Film- und Schauspielkunst. Als Vorlage dient Lene Kaaberbøls sehr beliebter Roman „Die Hüterin der Wahrheit", aber vor allem ist das Drehbuch von Anders Thomas Jensen, der sich mit unter anderem „Love Is All You Need", „Nach der Hochzeit", „Adams Äpfel" oder „Dänische Delikatessen" als einer der besten Film-Autoren in unsere Zeit eingeschrieben hat.

Heldin der Mittelalter-Geschichte ist das Mädchen Dina (Rebecca Emilie Sattrup). Sie hat als „Beschämerin" die unheimliche Fähigkeit, dass Menschen unter ihrem Blick alles preisgeben, wovor sie sich schämen - quasi Selbsterkenntnis in Sekunden, filmisch mit tiefen Blicken in die Augen einfach aber reizvoll umgesetzt. Dinas glückliches Leben mit der ebenfalls hellseherischen Mutter Melussina (Maria Bonnevie aus „Zweite Chance") endet, als beide in die Fänge von Drakan (Peter Plaugborg) geraten, einem gnadenlosen, unrechtmäßigen Herrscher, der durch Drachenblut enorme Kräfte erhält. Drakan lässt fast das komplette Königshaus ermorden und legt dem friedlichen Thronerben Nicodemus (Jakob Oftebro) das blutige Messer in die Hand. Kurz bevor auch sie gemeuchelt werden, flieht Nico mit Dina...

„Die Hüterin der Wahrheit" ist mit Drachen und adligen Intrigen eine Art „Game of Thrones" für Kinder. Dabei wird eine erstaunliche Menge Menschenkenntnis kindgerecht vermittelt, wenn Dina aggressive Männer bloßstellt und ihnen zeigt, dass sie eigentlich sehr ängstlich sind und sich minderwertig fühlen. Auch wenn sich das sehr sorgfältig inszenierte Abenteuer im zweiten Teil routiniert und wenig überraschend auf die Restitution des gerechten Herrschers und die Befreiung von Dinas Mutter zubewegt, die besondere Gabe Dinas und dieses Films, die radikale Selbsterkenntnis, ersetzt oft übliche Action. Dinas Blick gemahnt die Menschen unausweichlich, nachzudenken und nachzufühlen, was wirklich richtig ist. So lässt sich selbst der Pöbel, der den Tod der „Hexe" Melussina fordert, zur Besinnung bringen. Da sollte es mehr von geben - von solchen menschlichen Spiegeln der Seele und von solchen guten, ungewöhnlichen Kinderfilmen. Eine Verfilmung der drei weiteren Bände der Saga ist allerdings noch nicht angekündigt.

Erschütternde Wahrheit

USA, Großbritannien, Australien 2015 (Concussion) Regie: Peter Landesman mit Will Smith, Alec Baldwin, Albert Brooks, Gugu Mbatha-Raw, David Morse 123 Min. FSK: ab 12

Leider erst ein paar Tage nach dem US-Event namens Super Bowl kommt eine wahre Geschichte zum Football ins Kino: In der Stahlarbeiter-Stadt Pittsburgh, auch gesegnet und steuerlich belastet mit einem öffentlich co-finanzierten „Profi-Team", stirbt ein Sport-Held der Stadt, den man vor die Hunde gehen ließ, elend in der Obdachlosigkeit. Nur eine Rand-Notiz, käme der Leichnam nicht in die Hände des außergewöhnlichen Pathologen Dr. Bennet Omalu (Will Smith). Der ist nicht nur im Gerichtssaal ein kurioser, aber genialer Fall, auch bei der Leichenbeschau räumen die Assistenten alles andere Geschirr weg, denn Dr. Bennet arbeitet anders. Er sieht die Toten als seine Patienten, behandelt sie mit Respekt und redet sogar mit ihnen: „Verrate mir dein Geheimnis..."

Das offene Geheimnis dieses und vieler anderer Football-Spieler ist, dass die heftigen Stöße in Wettkampf und Training ihre Gehirne enorm beschädigt haben. Beschleunigungen vom hundertfachen der Erdbeschleunigung sind auf dem Football-Feld nichts ungewöhnliches, schon beim 60-fachen wird das Gehirn geschädigt. 70.000 von diesen Schlägen steckt ein Spieler in seiner Karriere weg, schon Kinder werden so gedrillt. Einmal auf diese Spur gebracht, finanziert der Immigrant Dr. Omalu selbst weitere Untersuchungen bei Profis, deren Kopf sie in den Wahnsinn oder den Selbstmord trieb. Das Ergebnis wird von der Liga so brutal bekämpft, wie ihr Sport ist.

Alec Baldwin schlägt sich als sehr reicher Sportarzt Dr. Julian Bailes hilfreich auf die Seite von Dr. Omalu. Bailes ist ein Arzt, der „seine Jungs" früher fit gespritzt und mit Medikamenten vollgepumpte hat. Trotzdem muss ausgerechnet dieser Paulus eine Fan-Rede für „das Spiel" (hier irgendeine aktuell populäre passive betriebene Sportart einsetzen) halten – dies ist immer noch ein Hollywood-Film und Los Angeles bemüht sich gerade wieder, ein bis zwei Profi-Teams mit Millionen-Geschenken anzulocken.

Furchtbare Aufnahmen aus Sportsendungen, in denen minderbemittelte Reporter viel Spaß an den Verletzungen haben, schildern so deutlich, was hier passiert, dass sogar der Sound dazu richtig weh tut. Die Gesundheits-Diskussion, die immer noch im Boxen und neuerdings wegen der Kopfbälle auch beim Fußball geführt wird, ist die erste Ebene.

Vor allem geht es um die sozioökonomische Macht der Sport-Verbände: Die Städte schmeißen den Fußballern Amerikas Millionen an öffentlichem Geld hinterher, das sie bei den Sozialausgaben einsparen. Dies sei wie die Kirche früher, meint Omalus unerschrockener Chef, „denen gehört die Stadt"! Solche ironischen Kommentare geben der Geschichte eine kritische Würze.

Will Smith spielt den engagierten und kämpferischen Pathologen sicher und trotzdem ungewohnt, weil er als nigerianischer Einwanderer Englisch mit starkem Dialekt spricht. Trotzdem ist das sehr energische Plädoyer des ansonsten so zurückhaltenden und sachlichen Arztes eine große Nummer des Schauspiel-Stars. Geschickt wird dem Wissenschaftler durch eine kenianische Untermieterin etwas Romantik an die Seite gestellt.

Beide Immigranten leiden unter einem Rassismus, der sie noch geringer als Afro-Amerikaner ansieht. Dr. Omaluk kämpft auch darum, als Amerikaner anerkannt zu werden. Was im nachdenklichen Happy End nur nachgereicht werden kann, denn der wahre Omalu wurde erst im Februar 2015 US-Bürger und lehnte allerdings vorher auch einen Job in Washington als oberster Leichenbeschauer des Landes ab.

Colonia Dignidad

BRD, Frankreich, Luxemburg 2015 Regie: Florian Gallenberger mit Emma Watson, Daniel Brühl, Michael Nyqvist 110 Min. FSK: ab 16

Colonia Dignidad stellt ein besonders düsteres Kapitel deutscher und chilenischer Geschichte da: Die Siedlung einer Sekte von deutschen Auswanderern in Chile unterstützte nicht nur Pinochets Diktatur sogar mit Folterkammern, und half, deutsche Waffen verbotenerweise zu importieren. Die eigenen Mitglieder der Kolonie, auch Kinder und Jugendliche, waren Psychoterror und Vergewaltigungen ausgesetzt. Ahnungslos freut sich die deutsche Stewardess Lena (Emma Watson) im September 1973 bei der Landung in Chile, ihren Geliebten Daniel (Daniel Brühl) wiederzusehen. Und tatsächlich findet sich der importierte Revoluzzer direkt bei einer Protestkundgebung auf den Straßen Santiagos.

Das kurze, romantische Wiedersehen wird brutal unterbrochen, als General Pinochet am 11. September mit Hilfe der CIA putscht und den Präsidenten Salvador Allende umbringen lässt. Daniel wird wie tausend andere „Linke" auf der Straße zusammengeschlagen, verhaftet und von Pinochet-Geheimdienstes Dirección Nacional de Inteligencia (DINA) in ein Folterlager der Armee verschleppt. Lena erfährt, dass Daniel zur Colonia Dignidad gebracht worden ist und verkleidet sich als gottesfürchtige graue Maus, um im obskuren Lager der religiösen Extremisten aus Deutschland aufgenommen zu werden. So gewinnt sie einen Einblick in das brutale Regime des berüchtigten Leiters Paul Schäfer (Michael Nyqvist), der mit Gewalt, Sadismus und Psycho-Terror Menschen erniedrigt, Familien auseinanderreißt und nebenbei der Diktatur dient.

Die Colonia Dignidad, die entgegen ihrem Namen so überhaupt nichts mit „Würde" zu tun hatte, gab es wirklich und trotz andauernder Proteste viel zu lang. Sie wurde aus Deutschland vor allem von CSU-Kreisen unterstützt, diente dem Waffengeschäft mit Mördern und Folterern. Der Film „Colonia Dignidad" von Florian Gallenberger, der 2001 für den engagierten Kurzfilm „Quiero ser - Gestohlene Träume" einen Oscar erhielt, hält sich mit drastischen Darstellungen zurück, ist aber auch so erschreckend genug. Unheimlich, der still weinende Junge, der anfangs aus Schäfers Raum kommt. Brutal, wie junge, kaum bekleidete Frauen von Männer-Horden in einem perversen Akt der Triebabfuhr im Rahmen der strengen Geschlechtertrennung zusammengeschlagen werden - weil sie angeblich „unrein" seien.

Nach eindrucksvollem Start, bei dem sowohl Zauberlehrling Emma Watson als auch der Halb-Spanier Daniel Brühl sehr glaubhaft spielen, gibt es einiges Bedrückendes, aber vor allem Spannung in vorhersehbaren Dramaturgien. Das beginnt damit, dass man direkt weiß, ob Daniel überlebt hat. Gallenberger kümmert sich nicht tiefergehend um die Mechanismen von Politik und Unterdrückung. Das Wesen der Beteiligten, etwa des brutalen Schlägers und Wahnsinnigen Paul Schäfer bleibt Funktion der Spannung, die tatsächlich bis zur letzten Minute packt. Bei vielen Innen-Aufnahmen wird das Innere der Figuren vernachlässigt. Anders als in Marc Brummunds exzellentem „Freistatt" über jugendliche Straftäter in katholischen Besserungsanstalten, der weniger Schwarz-Weiß, aber über das menschliche Wesen wesentlich aufschlussreicher war.

Auch logisch holpert die Handlung öfters. Trotzdem bemerkenswert, wie Michael Nyqvist, Paul Schäfer genial zwischen sanft und gnadenlos, albern und sadistisch spielt. Auch Vicky Krieps zeigt als in der Colonia geborenes Mädchen, das aus der Umzäunung raus kam, ein paar besonders beklemmende Momente. Tragischerweise macht aber erst der Abspann das ganze Ausmaß der Grausamkeiten klar. Man muss dabei erwähnen, dass Kurzfilm-Oscar-Gewinner Gallenberger schon zuletzt mit dem ebenfalls realen „John Rabe" einen historisch höchst interessanten, aber unausgewogenen Film ablieferte. Nun soll er an einem noch unbenannten Milli Vanilli-Project arbeiten.

Berlinale 2016 L' avenir (Wettbewerb)

Frankreich, BRD 2016 Regie: Mia Hansen-Løve mit Isabelle Huppert, André Marcon, Roman Kolinka, Edith Scob, Sarah Le Picard 100 Min.

Die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve beschreibt im Wettbewerb mit „L' avenir" (Die Zukunft) wie schon in „Eden" mit souveräner Ruhe einen Zustand: Nathalie ist eine völlig freie Frau, was bei dieser Lehrerin für Philosophie aus der intellektuellen Bourgeoisie bedeutet: Vom Mann verlassen, die Kinder aus dem Haus, die Mutter gerade gestorben, vom Verlag gekündigt! Dieses vermeintliche Elend spielt Isabelle Huppert mit feiner Ironie, der Film lässt zärtlich über sie lachen, auch über ihre nicht zu verbergende Hoffnung auf einen ehemaligen Schüler und aktuellen Protege. Isabelle Huppert spielt mit 62 Jahren eine merklich jüngere Frau mitten im Leben. Da erstaunt neben der Leichtigkeit der Inszenierung auch die Lebendigkeit dieser Figur. Der französische Star spielt bald auch in „Elle", dem nächsten Thriller von Paul Verhoeven ("Basic Instinct").

14.2.16

Berlinale 2016: Grüße aus Fukushima

BRD 2016 Regie: Doris Dörrie mit Rosalie Thomass, Kaori Momoi, Moshe Cohen, Nami Kamata, Aya Irizuki 104 Min.

In einer Sondervorführung gelang Doris Dörrie mit „Grüße aus Fukushima" woran Gianfranco Rosi für Lampedusa mit „Fuocoammare" im Wettbewerb scheiterte: Die Geschichte semi-dokumentarisch im Epizentrum einer Katastrophe erzählen. Dafür ging Dörrie mit ihrer wunderbaren Darstellerin Rosalie Thomass („ Anonyma – Eine Frau in Berlin") tatsächlich bis in die radioaktiv verstrahlte Todeszone um den explodierten Atommeiler von Fukushima und drehte im vom Tsunami verwüsteten Küstenstreifen. Thomass spielt die trampelige Helferin einer Geisha, die mit „Put-Zen" und Sorgfalt beim Tee-Trinken den eigenen Trennungsschmerz zu überwinden lernt. Nach „Kirschblüten – Hanami" wieder ein sehr berührender Japan-Film von Dörrie, der gut in den Wettbewerb gepasst hätte. „Grüße aus Fukushima" kommt am 10. März in die Kinos.

12.2.16

Berlinale 2016: Boris without Beatrice (Wettbewerb)

Der erste Film nach einer kompletten Lobotomie - so wirkt der neue Film von Regisseur Denis Coté: Begeisterte sein „Vic + Flo haben einen Bären gesehen" noch mit ungewöhnlichem, ist „Boris without Beatrice" eine schreckend banale und spießige Nichtigkeit. Die Wandlung eines untreuen Workaholic durch einen Auftritt vom Extremisten Denis Lavent in Inder-Mummenschanz. Das war's mehr nicht und wie gut diese Simpel-Parabel ausgeht ist extrem erschreckend: Das kann doch nicht wahr sein! Vor allem nicht im Wettbewerb. Denis ohne Coté.

Berlinale 2016 Midnight Special (Wettbewerb)

Nach dem wie erwarteten Coen „Hail Caesar" und dem enttäuschenden Denis Coté „Boris sans Beatrice" gelang dem Wettbewerb mit „Midnight Special" direkt Sensation und Aufreger zum Auftakt: Der neue Film der Regie-Hoffnung Jeff Nichols („Take Shelter") mit den Stars Michael Shannon und Kirsten Dunst ist „E.T. 2.0", religiöser Science Fiction für das Zeitalter der Totalüberwachung. Und vor allem hochspannend! FBI, NSA, eine christliche Sekte und auch der eigene Vater, der ihn einst zur Adoption freigab – alle wollen Alton. Kein Wunder, oder doch gerade ein, wenn man sieht, was er mit seinen Augen macht, wenn gleisendes Licht eine bessere Welt verkündet. Nebenbei lesen seine Gedanken noch extrem geheime Regierungs-Informationen aus verschlüsselter Satelliten-Kommunikation aus. Doch Alton ist keine Waffe, kein Messias, er will nur nach Hause, in ein zumindest architektonisch futuristisches Tomorrow-Land, das im Finale versprochen wird. Erst mysteriös, dann spannend, familien-mäßig rührend und schließlich reichlich Zukunfts-Kitsch. Das großartig, aber für alle, die im Hier und Jetzt zurückbleiben, letztlich enttäuschend. Doch sicher Stoff für aufgeregte Diskussionen auch in der Jury. Der Film startet nächsten Donnerstag in den Kinos.

10.2.16

Berlinale 2016: Chi-raq (Wettbewerb außer Konkurrenz)

Chi-raq

USA 2016 Regie: Spike Lee mit Nick Cannon, Teyonah Parris, Wesley Snipes, Angela Bassett, Samuel L. Jackson, Jennifer Hudson, John Cusack 127 Min.

„No Peace, no Pussy" – so klingt das griechische Drama „Lysistrata" von Aristophanes in Chicagos Ghetto-Viertel South Side. Regisseur und Produzent Spike Lee („She's Gotta Have It", „Do The Right Thing", „Inside Man") war eine der Stimmen, die gegen eine angeblich rassistische Auswahl bei den Oscar-Nominierungen protestierten. In seiner ersten Regie seit „Old Boy" in 2013 gelingt ihm ein umwerfend komisches und gleichzeitig erschütterndes Plädoyer gegen die Gewalt, mit denen sich junge schwarze Männer in den Städten gegenseitig umbringen.

Nachdem wieder Opfer der Straßenkämpfe zwischen den rivalisierenden Gangs der Trojaner und Spartaner in ihrem Blut liegen, beschließt eine Gruppe von Frauen, angeführt von der schönen Lysistrata, der immer mehr ausufernden Gewalt mit weiblicher List und Kraft entgegenzutreten. Mit einem Sex-Streik wollen sie die jungen schwarzen Männer, darunter auch Lysistratas Freund, den Rapper Demetrius Dupree, dazu zwingen, die Waffen niederzulegen.

Nicht nur die in Orange und Lila gekleideten Gangs klingen griechisch, Spike Lee begeistert mit kraftvollem, modernem Kino in Versform. Luck reimt sich auf Fuck, deftigster Slang hüllt sich in züchtigem Versmaß, dazu wütende Songs und politische Graffitis. Diese Sprache funktioniert in den verschiedensten Milieus humoristisch und anklagend: Vom leeren Stripper-Club bis zum empörten Muslim-Rat, vom heißen HipHop-Konzert bis ins lustvolle Schlafzimmer. Vom blockierten Muster-Macho bis zum wütenden Priester. Es ist tatsächlich „herrlich" wie die verzweifelten Männlein ihre naturgegebene Überlegenheit total überzeugt mit nur einem begründen: Sie haben einen Penis!

Lee zeigt bei der ungemein starken Geschichte all sein inszenatorisches Können und seinen ganz besonderen Stil. Bei einer besonders heißen Musical-Einlage in Army-Unterwäsche gibt es einen Split Screen, der die Geschlechter trennt. Nicht nur die Worte, auch die Körper sprechen sehr eindeutig und sexy.

Das ist umwerfend komisch, aber auch schockend, wenn ein schleimig-smarter Versicherungsvertreter der Mutter eines schwarzen Jungen eine Lebensversicherung verkaufen will – weil er ja hier sicher nicht lange überleben wird. Chicago trägt in der US-amerikanischen Hip-Hop-Szene den Namen „Chi-Raq". Ein Begriff, der darauf anspielt, dass die berüchtigte South Side als Mord-Hauptstadt der USA gilt. Zwischen 2001 und 2015 starben hier 7356 Menschen durch Waffengewalt, mehr us-amerikanische Soldaten in Afghanistan und Irak. Eine „nationale Notlage", wie Regisseur Spike Lee mit fetten roten Lettern mitteilt. Selten traf der Begriff Tragikomödie mehr zu, hier folgen Lachen und Weinen ganz dicht aufeinander

Dieser grandiose Film ist exzellent gemacht und hochkarätig besetzt: Neben Wesley Snipes als Cyclops, der schon 1986 bei „She's Gotta Have It" dabei war, sind Angela Bassett und Samuel L. Jackson in elegantem ockergelben Anzug mit Hut und Stock als Erzähler Dolmedes zu erleben. John Cusack als Priester des Viertel eine lange, flammende Rede gegen die Waffenhändler, die Arbeitslosigkeit, das mangelhafte soziale Netz, eine umwerfende Szene.

Also genügend KandidatInnen für einen Schauspiel-Oscar. Nur ist „Chi-raq" nicht in den US-Kinos sondern bei Amazon als „Pay per View" gestartet. Er darf deshalb nicht mitmachen. Leider auch nicht bei der Berlinale – hier läuft er außer Konkurrenz. Sonst wäre neben einem Schauspiel-Bären auf jeden Fall ein Preis für das Drehbuch drin gewesen, das Spike Lee zusammen mit Kevin Willmott nach „Lysistrata" von Aristophanes schrieb. Zudem gefällt die sehr zurückhaltende Musik von Terence Blanchard.

Dass dieser großartige und so enorm wichtige, weil für den Frieden in den Ghettos kämpfende Film bisher nur im Fernsehen stattfand, macht tatsächlich noch einmal den Wert auch dieses Filmfestivals deutlich. In einer sehr diversifizierten und verflachenden Medienlandschaft braucht es Festival-Scheinwerfer, die nicht nur am Roten Teppich leuchten, damit solche Werke ihre höchst verdiente Aufmerksamkeit bekommen.

8.2.16

Feuer bewahren - nicht Asche anbeten

BRD 2015 Regie: Annette von Wangenheim 86 Min. FSK: ab 0

Diese wunderbare Dokumentation folgt dem berühmten Choreografen Martin Schläpfer bei seiner Arbeit und auf ganz privaten Wegen, bis zu seinem Sommerrefugium im Tessiner Maggia-Tal. Der vielfach ausgezeichnete Schläpfer zählt zu den bedeutendsten Tanzschöpfern Europas. Sein Ballett am Rhein erreicht die unterschiedlichsten Zielgruppen im In- und Ausland, von Düsseldorf bis Moskau, von Barcelona, Paris oder Tel Aviv bis Muscat im Oman. Neben faszinierenden Tanzsequenzen von fertigen Aufführungen, die modernen Tanz auch mal mit Spitzenschuh zeigen, gibt es Probearbeit und Blicke hinter die Kulissen. Eine echte Home Story im frech selbst gestalteten Wohneigentum macht ungemein Spaß. So angenehm und inspirierend wie der hier gezeigte Mensch Schläpfer sind seine Gedanken zur Kunst und zum Leben allgemein zu hören. Besonders reizvoll dabei ein Solostück, dass der legendäre Hans van Manen für ihn choreografiert. Also eine Choreografie über den Choreografen ... der dabei vor allem viel denken soll. Zu dem begeisternden Reichtum dieses dichten Films gehören auch Bilder des vertrauten Fotografen von Schläpfer. Großartige Kunst für Kopf, Augen und das Herz.

Ungezähmt

USA 2015 (Unbranded) Regie: Phillip Baribeau 102 Min. FSK: ab 0

2010 ritten vier Männer über 3200 km von Mexiko bis Kanada. Also eigentlich die Pferde, und die sind sogenannte Mustangs, die geschützt und wild auf öffentlichem Land leben. Wenn Grand Canyon, Yellowstone und Glacier National Park auf der Strecke liegen, liefert das gute Bilder. Ansonsten ist die ganze Aktion trotz des aufgepfropften Plädoyers für den Erhalt des Mustang-Lebensraums äußerst uninteressant. Die Reise erweist sich als ein anstrengender Job - für die Pferde. Die sind aber die einzigen, die nicht dauernd in die Kamera quatschen. Sympathisch! Anfangs begleitet sie sogar ein Riesen-Trailer mit Nahrung und Heu! Auch das Kamera-Team ist immer in der Nähe und öfters mal auch auf der anderen Seite des Grand Canyon dabei. Nicht wirklich authentisch und wohl nur für Pferde-Fans nicht unerträglich uninteressant.

Colonia Dignidad

BRD, Frankreich, Luxemburg 2015 Regie: Florian Gallenberger mit Emma Watson, Daniel Brühl, Michael Nyqvist 110 Min. FSK: ab 16

Colonia Dignidad stellt ein besonders düsteres Kapitel deutscher und chilenischer Geschichte da: Die Siedlung einer Sekte von deutschen Auswanderern in Chile unterstützte nicht nur Pinochets Diktatur sogar mit Folterkammern, und half, deutsche Waffen verbotenerweise zu importieren. Die eigenen Mitglieder der Kolonie, auch Kinder und Jugendliche, waren Psychoterror und Vergewaltigungen ausgesetzt. Ahnungslos freut sich die deutsche Stewardess Lena (Emma Watson) im September 1973 bei der Landung in Chile, ihren Geliebten Daniel (Daniel Brühl) wiederzusehen. Und tatsächlich findet sich der importierte Revoluzzer direkt bei einer Protestkundgebung auf den Straßen Santiagos.

Das kurze, romantische Wiedersehen wird brutal unterbrochen, als General Pinochet am 11. September mit Hilfe der CIA putscht und den Präsidenten Salvador Allende umbringen lässt. Daniel wird wie tausend andere „Linke" auf der Straße zusammengeschlagen, verhaftet und von Pinochet-Geheimdienstes Dirección Nacional de Inteligencia (DINA) in ein Folterlager der Armee verschleppt. Lena erfährt, dass Daniel zur Colonia Dignidad gebracht worden ist und verkleidet sich als gottesfürchtige graue Maus, um im obskuren Lager der religiösen Extremisten aus Deutschland aufgenommen zu werden. So gewinnt sie einen Einblick in das brutale Regime des berüchtigten Leiters Paul Schäfer (Michael Nyqvist), der mit Gewalt, Sadismus und Psycho-Terror Menschen erniedrigt, Familien auseinanderreißt und nebenbei der Diktatur dient.

Die Colonia Dignidad, die entgegen ihrem Namen so überhaupt nichts mit „Würde" zu tun hatte, gab es wirklich und trotz andauernder Proteste viel zu lang. Sie wurde aus Deutschland vor allem von CSU-Kreisen unterstützt, diente dem Waffengeschäft mit Mördern und Folterern. Der Film „Colonia Dignidad" von Florian Gallenberger, der 2001 für den engagierten Kurzfilm „Quiero ser - Gestohlene Träume" einen Oscar erhielt, hält sich mit drastischen Darstellungen zurück, ist aber auch so erschreckend genug. Unheimlich, der still weinende Junge, der anfangs aus Schäfers Raum kommt. Brutal, wie junge, kaum bekleidete Frauen von Männer-Horden in einem perversen Akt der Triebabfuhr im Rahmen der strengen Geschlechtertrennung zusammengeschlagen werden - weil sie angeblich „unrein" seien.

Nach eindrucksvollem Start, bei dem sowohl Zauberlehrling Emma Watson als auch der Halb-Spanier Daniel Brühl sehr glaubhaft spielen, gibt es einiges Bedrückendes, aber vor allem Spannung in vorhersehbaren Dramaturgien. Das beginnt damit, dass man direkt weiß, ob Daniel überlebt hat. Gallenberger kümmert sich nicht tiefergehend um die Mechanismen von Politik und Unterdrückung. Das Wesen der Beteiligten, etwa des brutalen Schlägers und Wahnsinnigen Paul Schäfer bleibt Funktion der Spannung, die tatsächlich bis zur letzten Minute packt. Bei vielen Innen-Aufnahmen wird das Innere der Figuren vernachlässigt. Anders als in Marc Brummunds exzellentem „Freistatt" über jugendliche Straftäter in katholischen Besserungsanstalten, der weniger Schwarz-Weiß, aber über das menschliche Wesen wesentlich aufschlussreicher war.

Auch logisch holpert die Handlung öfters. Trotzdem bemerkenswert, wie Michael Nyqvist, Paul Schäfer genial zwischen sanft und gnadenlos, albern und sadistisch spielt. Auch Vicky Krieps zeigt als in der Colonia geborenes Mädchen, das aus der Umzäunung raus kam, ein paar besonders beklemmende Momente. Tragischerweise macht aber erst der Abspann das ganze Ausmaß der Grausamkeiten klar. Man muss dabei erwähnen, dass Kurzfilm-Oscar-Gewinner Gallenberger schon zuletzt mit dem ebenfalls realen „John Rabe" einen historisch höchst interessanten, aber unausgewogenen Film ablieferte. Nun soll er an einem noch unbenannten Milli Vanilli-Project arbeiten.

Die Hüterin der Wahrheit - Dinas Bestimmung

Dänemark, Norwegen, Tschechien, Island 2015 (Skammerens Datter) mit Rebecca Emilie Sattrup, Peter Plaugborg, Søren Malling, Maria Bonnevie 96 Min.

Die Märchen- und Mystery-Geschichte „Hüterin der Wahrheit" unterhält als Kinder- und Jugendfilm auf dem hohen Niveau der dänischen Film- und Schauspielkunst. Als Vorlage dient Lene Kaaberbøls sehr beliebter Roman „Die Hüterin der Wahrheit", aber vor allem ist das Drehbuch von Anders Thomas Jensen, der sich mit unter anderem „Love Is All You Need", „Nach der Hochzeit", „Adams Äpfel" oder „Dänische Delikatessen" als einer der besten Film-Autoren in unsere Zeit eingeschrieben hat.

Heldin der Mittelalter-Geschichte ist das Mädchen Dina (Rebecca Emilie Sattrup). Sie hat als „Beschämerin" die unheimliche Fähigkeit, dass Menschen unter ihrem Blick alles preisgeben, wovor sie sich schämen - quasi Selbsterkenntnis in Sekunden, filmisch mit tiefen Blicken in die Augen einfach aber reizvoll umgesetzt. Dinas glückliches Leben mit der ebenfalls hellseherischen Mutter Melussina (Maria Bonnevie aus „Zweite Chance") endet, als beide in die Fänge von Drakan (Peter Plaugborg) geraten, einem gnadenlosen, unrechtmäßigen Herrscher, der durch Drachenblut enorme Kräfte erhält. Drakan lässt fast das komplette Königshaus ermorden und legt dem friedlichen Thronerben Nicodemus (Jakob Oftebro) das blutige Messer in die Hand. Kurz bevor auch sie gemeuchelt werden, flieht Nico mit Dina...

„Die Hüterin der Wahrheit" ist mit Drachen und adligen Intrigen eine Art „Game of Thrones" für Kinder. Dabei wird eine erstaunliche Menge Menschenkenntnis kindgerecht vermittelt, wenn Dina aggressive Männer bloßstellt und ihnen zeigt, dass sie eigentlich sehr ängstlich sind und sich minderwertig fühlen. Auch wenn sich das sehr sorgfältig inszenierte Abenteuer im zweiten Teil routiniert und wenig überraschend auf die Restitution des gerechten Herrschers und die Befreiung von Dinas Mutter zubewegt, die besondere Gabe Dinas und dieses Films, die radikale Selbsterkenntnis, ersetzt oft übliche Action. Dinas Blick gemahnt die Menschen unausweichlich, nachzudenken und nachzufühlen, was wirklich richtig ist. So lässt sich selbst der Pöbel, der den Tod der „Hexe" Melussina fordert, zur Besinnung bringen. Da sollte es mehr von geben - von solchen menschlichen Spiegeln der Seele und von solchen guten, ungewöhnlichen Kinderfilmen. Eine Verfilmung der drei weiteren Bände der Saga ist allerdings noch nicht angekündigt.

The Boy

USA 2016 Regie: William Brent Bell mit Lauren Cohan, Rupert Evans, James Russell 98 Min.

Da knirscht es mächtig im Gebälk dieser Horrorfilm-Konstruktion: „The Boy" versucht von der ersten Minute an mit einem dunklen, alten Haus unheimlich zu wirken. Und strapaziert dann die Glaubwürdigkeit, weil die amerikanische Nanny Greta (Lauren Cohan, „The Walking Dead") im verschrobenen England eine Puppe sitten soll.

Das ist zu Beginn extrem abstrus, aber zur Entschuldigung kann man sagen, dass Greta zuhause von ihrem brutalen Freund geschlagen wurde und dabei ein Kind verlor. Außerdem macht sie das seltsame Spiel für Geld mit. Als die seltsamen, alten „Eltern" der Puppe namens Brahms sich für eine längere Weile verabschieden, wird es richtig komisch. Nicht, weil im Gewitter ein Kind schreit, obwohl außer ihr niemand mehr im Haus ist. Greta akzeptiert plötzlich, dass die Puppe ein eigenes Leben hat, akzeptiert es sogar freudig. Und auch der Botenjunge Malcolm wird überzeugt. Da steht nur noch die Eifersucht von Brahms dem trauten Glück im Wege. Als Greta mit Malcolm ausgehen will, sperrt das Haus sie auf dem Dachboden ein.

Eine Bauchredner-Puppe führte gerade schon in „Gänsehaut" Kommando und „Chucky - Die Mörderpuppe" hat man ja auch über mehrere völlig abstruse Filme irgendwie hingenommen. Zwar sind Schockmomente und der Rest in „The Boy" nicht gerade subtil eingesetzt, doch bis zum ärgerlichen, an den Haaren herbeigezogenen Action-Finale war diese Kinderstunde noch ganz nett. Die Moral der Geschichte: Frauen, wehrt euch gegen gestörte Jungs, die nicht loslassen können ... und mit euch in solche Filme gehen wollen.

7.2.16

Sisters (2015)

USA 2015 Regie: Jason Moore mit Amy Poehler, Tina Fey, James Brolin, Dianne Wiest, John Leguizamo 118 Min. FSK: ab 12

Verwöhnte Gören, die mittlerweile zur Kategorie 40+ gehören, müssen endlich das Chaos ihres Kinderzimmers aufräumen. Kennt man vielleicht, doch wie die Abrissparty im elterlichen Haus ausartet und was die beiden Schwestern sonst noch so aufräumen, macht diese deftige Frauen-Komödie tatsächlich unterhaltsam. Was auch an den Profis der legendären „Saturday Night Live Show", den Hauptdarstellerinnen Amy Poehler und Tina Fey, liegt. Sie führen den Humor auf bescheuerte Abwege.

Den „Ausverkauf der Kindheit" beschreien Maura (Amy Poehler) und Kate (Tina Fey), angesichts des bereits vollzogenen Verkaufs des Elternhauses. Papa (James Brolin) und Mama (Dianne Wiest) haben die Nase voll von den anstrengenden Mädchen, die auch mit Vierzig nicht erwachsen werden wollen. Nun ist Ruhestand, nur das seit Jahrzehnten überfüllte Kinderzimmer muss noch leergeräumt werden. Mit kindischer Protesthaltung will der beleidigte Nachwuchs aber noch einmal eine Party im Haus durchziehen. Auch weil die chaotische Kate meint, auch Maura müsse einmal Sex in ihrem Kinderzimmer gehabt haben. Es bräuchte gar nicht des Vorlesens alter Tagebücher, um den Gegensatz zwischen der rücksichtslos egoistischen, sexlüsterne Lebefrau und der braven Mutter Theresa aufzuziehen. Diesmal soll es jedoch anders werden: Kate will eigentlich nicht, aber wird nüchtern bleiben, während sich Maura erstmals gehen lassen darf. Mit bis zur Absurdität ordinärer Anmache ist dafür schon ein Nachbar ausgemacht worden...

Eine koreanische Schaumparty, ein in der Pubertät steckengebliebener Scherzkeks voller Drogen, der Pool voller blauer Farbe - „wir feiern wie die Wikinger, weil wir wissen, dass wir heute schon sterben könnten". Allein die Aufzählung der Drogen qualifiziert „Sisters" als weibliche Blutsverwandte von männlich pubertären Bad Taste-Orgien wie „Superbad" oder „Project X". Das „Project X" für Ü40 trinkt sich die Midlife-Crisis schön, vergisst mal den Frust, über ein eigenes Leben, das feststeckt, bevor es eigentlich losging. Denn im Gegensatz zu den saufenden, koksenden, vögelnden und kotzenden Komödien der unreifen Männer, gibt es hier angesichts eines Raumes voller tickender Uhren ernstzunehmende Lebensbetrachtungen.

Und vor allem einen Humor, der nicht von der Hollywood-Stange kommt. Dafür steht neben den ehemaligen „Saturday Night Live Show"-Stars Amy Poehler und Tina Fey auch die Drehbuchautorin Paula Pell („Immer Ärger mit 40"), die aus der gleichen Qualitäts-Ecke kommt. Das macht aus der anzüglichen Komödie zeitweise echte Comedy, beispielsweise beim zu verständnisvollen und damit völlig idiotischen Dialog mit der koreanischen Fußpflegerin. Oder bei der klassischen Ankleide-Szene, die gleich mehrfache Parodie wird. Deshalb lautet der entscheidende Dialog des Films: „Ich hab nachgedacht..." - „Wieso?".

69 Tage Hoffnung

USA, Chile 2015 (The 33) Regie: Patricia Riggen mit Antonio Banderas, Rodrigo Santoro, Juliette Binoche, James Brolin 127 Min.

Antonio Banderas wird hunderte Meter tief unter der Erde verschüttet, wie schrecklich. Juliette Binoche verkauft oben gutherzig Empanadas, leidet aber auch ganz furchtbar unter dem Unglück ihres Schauspiel-Kollegen. Wenn Stars einfache, arme Arbeiter spielen, kann das schon mal richtig schief gehen. So auch bei der unglücklichen Verfilmung eines noch in der Erinnerung befindlichen Unglücks: Am 5. August 2010 brach ein Schacht in der abgelegenen Mine San José in Chile ein. 33 Bergarbeiter, die dort Gold und Kupfer abbauten, wurden 700 Meter unter der Erde eingeschlossen. Erst nach 69 Tagen konnten sie gerettet werden.

Die mexikanische Regisseurin Patricia Riggen beginnt den Film mit einem Familienfest, das aussieht, wie eine Oscar-Verleihung. Klar und strahlend gefilmt wie ein Hollywoodfilm – so leuchtend sieht das Leben vor Ort sicher nicht aus. Wie bei allen Katastrophenfilmen reihen sich nun Schicksale auf: Der Alte auf einer seiner letzten Schichten, der Mann der Schwangeren, der ungeliebte „Gastarbeiter" aus Bolivien. Parallel werden Warnungen des Vorarbeiters ignoriert, sehr deutliche Vorzeichen übersehen. Dick aufgetragen wie die Musik von James Horner ist auch der Blick des Neulings zurück bei der Einfahrt in die Mine. Die lange Fahrt in die Tiefe, vorbei an Marien-Figuren und Fotos bereits Verstorbener, macht die Situation noch eindrucksvoll mit Übelkeit und einem dramatischen Schwenk in die Abgründe fühlbar. Der unweigerlich und erfreulich rasch folgende Einsturz kann diese Erwartungen allerdings nicht erfüllen, er ist für heutige Möglichkeiten nicht übermäßig eindrucksvoll, selbst wenn da gleich ein ganzer Bagger mit der Tunneldecke herunterfällt.

Die 33 titelgebenden Minenarbeiter kommen knapp vor dem herunterbrechenden Gestein im Rettungsraum unter. Während sich nun klaustrophobische Spannung mit dem Knirschen des Berges breit machen sollte, schaltet der Film fröhlich nach oben, wo die Familien vor den Toren der Mine protestieren und tatsächlich Rettungsversuche für die längst von der Firma „abgeschriebenen" Arbeiter erzwingen. Plötzlich steht ein Spezialist mit tollen geologischen 3D-Aufnahmen des Berges in der Hütte, unten gibt es Streit ums Essen, oben wird mal schief gebohrt, bevor schon zur Mitte des Films ein schmaler Tunnel Erlösung verspricht. Doch nicht für das Publikum. Zwar gibt es nun Nahrung und sogar einen Video-Chat mit großer Projektion auf ein Bettlaken! Die internen Spannungen der Eingeschlossenen nehmen zu, als man erfährt, dass der nicht ganz unumstrittene Anführer Mario (Antonio Banderas) einen Buchvertrag über die Ereignisse abgeschlossen hat.

Doch keine Sorge, eine zweite Ebene wie beim „Reporter des Satans" mit Kirk Douglas bekommt hier nie Luft zum Atmen. Unglaubliche Zustände unter Tage rufen nicht nachhaltig Wut oder Entrüstung hervor. Die Rolle des Staates mit einem unsympathischen, opportunistisch agierenden Präsidenten nimmt man schulterzuckend hin. Stattdessen wird Raum für das Verhältnis zwischen Star Binoche und dem Regierungsvertreter verschwendet. Was fürs Herz muss ja auch dabei sein. Es ist unglaublich, wie so eine natürlich beklemmende und nicht nur vom Gebirge her sehr angespannte Situation einen so kalt lassen kann.

Dirty Grandpa

USA 2016 Regie: Dan Mazer mit Robert De Niro, Zac Efron, Zoey Deutch, Aubrey Plaza 102 Min.

Nach den ordinären Komödien für Frauen - siehe „Sisters" - zeichnet sich eine neue Welle ab: Ordinäre Senioren. Das könnte man gleich mit dem anderen Mist eintopfen, wenn DeNiro es nicht schaffen würde, sogar dieser dumpfen Gröhl-Vorlage noch etwas Klasse zu geben.

Anwalt Jason (Zac Efron) hat ein großes Herz, weshalb er seinen frisch verwitweten Großvater Dick (Robert De Niro) nach Daytona kutschiert. Dass der Senior gar nicht so pflegebedürftig ist und zum orgiastischen Spring Break will, um nach 40 Jahren Ehe endlich wieder wilden Sex zu haben, erfährt der spieße Jason erst auf der chaotischen Tour. Ein cooler, völlig amoralischer und ungezügelter Rentner und ein Langeweiler, der selbst seine begeistertste Studien-Bekanntschaft vertreibt - diese unpassende Paarung ist Grundausstattung auch dieses Buddy-Movies. Dass die folgenden Exzesse ausführlich gezeigt werden und auch irgendwann Jasons kontrollsüchtiger Verlobten Meredith unter die Augen kommen, wird höchstens einen Kinobesucher vom Mars überraschen. Routine mittlerweile auch, wie Jason dank vieler Drogen doch noch in Schwung kommt. Also insgesamt eine total neue, in den kühnsten Koks-Konferenzen noch niemals entwickelte Idee...

Robert DeNiros Grandpa gibt sich abwechselnd als Professor oder Golf-Lehrer aus, säuft dauernd und wenn er den Flachmann mal absetzt, flucht er deftigst. Seinen verklemmten Enkel bezeichnet immer als lesbische Tochter, einen schwulen Bekannten macht er kurz und knapp runter. Ein Saufwettbewerb zu „Freude schöne Götterfunken", eine Swastica aus Penissen auf der Stirn als Party-Scherz, ein halbes Kamasutra schon auf der Tanzfläche abgearbeitet. Reihenweise krampfhaft herbei geführte peinliche Situationen, die selbstverständlich direkt ins Gefängnis führen. Regisseur Dan Mazer, Autor, Produzent und Regisseur von „Brüno", „Der Diktator" oder „Borat", hakt alle Stationen dieses Unterhaltungs-Formats ab, ohne dass irgendwas davon organisch oder locker wirkt. Grandpas Obsession, unbedingt mit einer Studentin ins Bett gehen zu müssen, ist ebenso uninteressant wie die aufgeregten Versuche Jasons, ihn daran zu hindern. Die Emanzipation eines Hampelmannes von seiner lieblosen, diktatorischen Verlobten soll eine romantische Komponente ankleben. Doch das Erstaunlichste an diesem völlig unnötigen Komödien-Versuch ist, wie alles an DeNiro abgleitet.

Nichts passiert

Schweiz 2015 Regie: Micha Lewinsky mit Devid Striesow, Maren Eggert, Lotte Becker, Annina Walt 88 Min. FSK: ab 12

Ein mörderischer Softie - das ist ebenso unwahrscheinlich wie psychologisch reizvoll in dem erschütternden Schweizer Film „Nicht passiert". Diese Figur fasziniert wie der Erzähler aus dem „Fight Club" oder Patrick Bateman aus „American Psycho".

Schon in der ersten Szene, der Sitzung bei einer Therapeutin, fächert Devid Striesow als unerträglich widerstandsloser Journalist Thomas eine atemberaubende Figur auf. Erst einmal sorgt er für Beklemmungen, dieser Mann, der einen mit seiner Unentschlossenheit und der Unfähigkeit, Position zu beziehen, bald in den Wahnsinn treibt. Mit ihm muss nicht nur die Familie in den Ski-Urlaub, auch Sarah (Annina Walt), die Tochter seines Chefs, sitzt mit im bleibeschwerten Boot, beziehungsweise Auto. Gleich am ersten Abend wird Sarah vom Sohn des Vermieters vergewaltigt, als die beiden spinnefeinden Mädchen feiern gehen. Sarah vertraut sich nur Thomas an, der sie weinend findet und fortan zu allem bereit ist, um Verbrechen und Leid zu vertuschen. Bis hin zum Mord...

Es ist gleichzeitig abstoßend und bedauernswert, wie dieser hilflose Hansel manipuliert. Als Sarah zur Polizei will, den Vergewaltiger anzuzeigen, gibt er sich unterstützend, während er subtil das völlig verstörte Mädchen unsicher macht. Dazu denkt er sich in seiner Angst um Job und allgemeine Familienseligkeit horrende Lösungen aus: Da soll es etwa reichen, wenn der Täter sich mit einem Handschlag entschuldigt. Das ist unerträglich und grenzwertig, wie der Film das mitmacht. Und kann eigentlich nur auf ein noch schlimmeres Unglück hinauslaufen.

Wie weit man dem exzellent inszenierten Film folgen will, ist tatsächlich eine Frage der dicken Distanzierungs-Haut im Kino. Denn Regisseurin Micha Lewinsky wagt sich weit hinaus mit dieser Figur. Wenn es aber klappt, liegt dies vor allem an Striesow, der auf der Strecke vom Schaudern zum Grauen alle Nuancen derart glaubwürdig verkörpert, dass man ihm erst einmal mit Personenschutz ausstatten sollte. Bei dieser komplexen Figur kommen alle anderen zu kurz, auch das Opfer der Vergewaltigung, worauf sich sicher ein Teil des gekonnt provozierten unangenehmen Gefühls beim Betrachten richten wird. Doch diesen Psycho-Film mit seinen immer wieder sehr treffenden Momenten sollte man nicht zu leicht nehmen, etwa weil deutsch gesprochen wird. Diese Figur, dieses ganze Konstrukt ist äußerst bemerkenswert in der Galerie der (Kino-) Psychopaten.

Die wilden Kerle - Die Legende lebt

BRD 2016 Regie: Joachim Masannek mit Michael Sommerer, Aaron Kissiov, Ron Antony Renzenbrink 100 Min. FSK: ab 0

Nein, das Rad, beziehungsweise den Ball, hat dieser Neustart der Wilden Kerle-Reihe nicht erfunden. Der sechste Film nach den populären Büchern von Joachim Masannek spielt mit ganz neuer Mannschaft einfach den Erfolg von 2003 nach. Das ist nicht originell, was das junge Zielpublikum von heute überhaupt nicht interessiert. Deshalb ist „Die wilden Kerle - Die Legende lebt" einfach, aber auch einfach gut gemacht.

Eine Schatzkarte schickt sechs Jungs auf Abenteuer-Suche in ihrem Städtchen. Und tatsächlich, sie befinden sich auf historischem Grund des legendären Wilden Kerle-Fußballteams. Da wird das Wiederfinden eines alten Bolzplatzes im „Wilde Kerle-Land" wie die Entdeckung von Atlantis inszeniert und bald finden sich auch die üblichen Gegner. Denn auch hier geht es nicht ums Miteinander spielen, sondern immer ums Gegeneinander. Das allerdings gemeinsam und deshalb kommt per Casting noch ein integrations-mäßig dringend benötigtes Mädchen ins Team. Was den Leithammel Leo (Michael Sommerer) kurzzeitig beleidigt ins Abseits befördert. Dann aber kann im Finale der Bolzplatz gegen Abriss und Immobilien-Spekulation verteidigt werden...

Der Kinderfilm um eine neue Generation der auch im Merchandise final ausgequetschten „Wilden Kerle" baut auf die älteren Geschichten auf, ja kopiert sie unverfroren. Bei der konstruierten Konkurrenz und der 10 Tage-Frist bis zum Entscheidungsspiel wirken die größeren machohaften Jungs des Gegners bedrohlich, für Spannung sorgt die Musik, erfundener Kinder-Slang macht die Dialoge flott, netter Kinder-Pop füllt dramaturgische Lücken. Dabei spielen die Kids der Wilden Kerle erstaunlich gut, was umso mehr auffällt, weil die Jungs von „Big M" erstaunlich schlecht sind. Einen Kurzauftritt haben die Original-Kerle, doch überzeugend ist vor allem die solide Inszenierung von Regisseur Joachim Masannek mit einigen Glanzlichtern und vielen witzigen Ideen, wie den Kampf um das Baumhaus Camelo, der zum fantastischen Spaß geriet.

2.2.16

Mittwoch 04:45

Griechenland, BRD, Israel 2015 (Tetarti 04:45) Regie: Alexis Alexiou mit Stelios Mainas, Adam Bousdoukos, Mimi Branescu 117 Min. FSK: ab 12

Der Jazzclub-Besitzer Stelios sitzt im Wagen eines alten Bekannten. Es gibt Geplauder über die Familie, während man ahnt, dass eine schmerzhafte Erinnerung an seine Schulden folgen wird. Die hat der Idealist Stelios bei einem Rumänen, der nebenbei, nach einem Statement über Globalisierung und Kapitalismus, die Zeiten erwähnt, zu denen die Tochter des Schuldners Musikunterricht hat. Wir sind in Athen, im Winter 2010. Es herrscht Geldmangel, Stelios hat 40.000 in Schecks rumliegen, die er nicht einlösen kann. Auf der Straße würde man für 20 Euro erstochen und er hat fast 150.000 Schulden. Einen Tag bleibt ihm nun, um seinen Club zu retten.

Der Künstler Stelios ist in der Falle, aber auch Beobachter des sozialen Dramas auf den Straßen. Der ausgebrannte Mercedes, die brutale und mörderische Kinderbande im Tunnel wie einst bei „Clockwork Orange", im Fernsehen die Bürgerkriegs-artigen Unruhen Athens. Es herrscht eine aggressive Stimmung, jeder scheint am Rand der Belastbarkeit zu sein. Er sei zu weich für diese Welt, hört Stelios. Und die zynischen Kommentare seiner Frau, die sich vom unzuverlässigen Partner trennen will. Denn Stelios ist kein Held, kein unschuldiges Opfer: Sein Leben verläuft, wie man sich das für Jazzclub-Besitzer (außer bei Murakami) vorstellt: Jazz, Alkohol, Koks, Sex mit der Geliebten. Dann aber schallen seine entschlossenen Schritte wie bei „Bullitt" auf der Tonspur.

„Mittwoch 04:45" ist eine treffende und betroffen machende Sozialstudie, dazu ein echter und echt guter dunkler Thriller, mit einem wahnsinnigen finalen Shoot Out, wie es Tarantino früher hinbekommen hätte. Stilsicher und raffiniert inszeniert, etwa beim Mord an einem anderen Vater, der mit dem Schmelzen des Eis vom Sohn parallel geschnitten wird. Die dichte Szenenfolge, jede erneut eindrucksvoll, öffnet Augen, lässt erschreckt staunen. Zwischendurch ist der grandiose Sozial-Thriller stimmungsvoll und gleichzeitig in den Bildern ein dokumentarischer Essay, unterbrochen von griechischen Schlagern. Inszenierung, Schauspiel, Kamera mit dem schmutzig gelben Licht, alles stimmt und funktioniert. (Mit dabei übrigens Adam Bousdoukos, bekannt aus Fatih Akins „Soul Kitchen", „Gegen die Wand" oder „Kebab Connection".)

Ein Künstler unter Gangstern, das steht auch für den gesamten intensiven und packenden Film, der einerseits als kluger Autorenfilm und dabei gleichzeitig als packender Thriller begeistert.

1.2.16

Suffragette

Großbritannien 2015 Regie: Sarah Gavron mit Carey Mulligan, Helena Bonham Carter 107 Min. FSK: ab 12

„Gibt es denn heute noch Frauen-Proteste?" fragte eine junge Zuschauerin beim Sehen von „Suffragette". Grund dafür gibt es genug, auch wenn das Frauenwahlrecht, für das die Suffragetten vor hundert Jahren in Großbritannien kämpften, spät aber doch fast überall einführt wurde. Und Grund genug, noch einmal diesen wichtigen Kampf in einem bewegenden, exzellent besetzten Spielfilm nachzuvollziehen.

Maud Watts (Carey Mulligan) wurde nicht nur quasi in der Großwäscherei geboren: Ihre Mutter arbeitete schon dort unter furchtbaren Bedingungen, und für so etwas wie Schwangerschaft durften Frauen ihre Arbeit selbstverständlich nicht unterbrechen. Im Alter von sieben Jahren war Maud dann selbst Arbeiterin und bald danach wie andere Mädchen das sexuelle Opfer des Chefs.

Dies sind nur die Eckdaten eines erschütternden Berichts, den Maud im Jahr 1912 einigen Parlamentsabgeordneten in London vorträgt. Zufällig kam sie dazu, weil die eigentliche Sprecherin von ihrem Mann zusammengeschlagen wurde. Ein weiterer Grund, weshalb Frauen auch die Gesetze mitgestalten wollten, die über sie verfügen. Doch die Anhörung war nur eine Farce, einen Gesetzesantrag sollte es nicht geben. Dafür dann erneute Proteste der nicht mehr braven Frauen auf der Straße, eingeschlagene Schaufensterscheiben und kleine Anschläge, wie das Abfackeln von Briefkästen.

Die junge Ehefrau und Mutter Maud gerät eher zufällig in diese Protestbewegung der Suffragetten genannten Frauen. Eine Kollegin und eine Ärztin (Helena Bonham Carter) haben sich bereits im Kampf ausgezeichnet. Spezielle Aufmerksamkeit bekommt Maud jedoch durch den leitenden Polizisten Inspector Arthur Steed (Brendan Gleeson), der diese Bewegung brechen soll. So erlebt Maud bald die brutale Gewalt der - selbstverständlich männlichen - Polizisten am eigenen Leib, wird willkürlich verhaftet und im Gefängnis beim Hungerstreik gewaltsam und extrem schmerzhaft zwangsernährt. Heute nennt man dies Folter. Nach der Freilassung schmeißt Mauds Mann sie auf Druck der Wäscherei, bei der auch er arbeitet, aus der Wohnung. Ihren Sohn darf sie nicht mehr sehen...

Die Suffragetten sind Heldinnen eines enorm wichtigen Kampfes um Gleichberechtigung. Zwar dauerte es noch 16 Jahre bis das allgemeine und aktive Frauenwahlrecht tatsächlich eingeführt wurde. Und die Liste vom Zeitpunkt, zu dem das in anderen Ländern passierte, ist verblüffend im Ausmaß allgemeiner Rückständigkeit. Doch der als Schimpfwort gedachte Name hat mittlerweile einen guten Klang.

Sarah Gavrons Film würdigt dies mit einer fiktiven „Suffragette", zeigt man(n)igfaltiges Unrecht in einem konventionellen Polit-Film. Merksätze zum Frauenrecht reichen bis zur allgemeinen Staatsphilosophie: Wenn das Recht nicht gerecht ist, muss es geändert werden. Das ist vorhersehbar, nicht nur weil der Film historisch korrekt sein will. Es ist, vor allem weil die fast schon unterforderte Carey Mulligan („Am grünen Rand der Welt", „Der große Gatsby", „Inside Llewyn Davis") hervorragend spielt, gut anzusehen. Zu gut, wenn die Wäsche in zu strahlenden und sonnigen Straßen des Londoner Arbeiterviertels Westend hängt. So wie man das wirkliche Elend nur ahnen kann, so vermutet man eventuell weitergehende Gedanken. Klingt beim - tatsächlich so geschehenen - Opfertod einer Suffragette beim Pferde-Rennen vor der Medienöffentlichkeit um König Georg eine Diskussion um Extremismus an? Zielt die wiederholte Betonung vom Wert des aktiven Protests eine Kritik an den passiven Facebook-Demonstranten von heute an? Wohl kaum, aber der trotzdem überzeugende Film ist auch wegen seiner Thematik wichtig und sehenswert.