28.12.15

Unter Freunden (2015)

Frankreich 2015 (Entre amis) Regie: Olivier Baroux mit Daniel Auteuil, Gérard Jugnot, François Berléand, Zabou Breitman 91 Min. FSK: ab 12

Drei alte Greise und ihre aktuellen Partnerinnen bilden den albernen Haufen, der vom Angeber Richard (Daniel Auteuil) angeführt, mit einer Luxus-Jacht nach Korsika schippert. Mit an Bord: übertrieben gute Laune, Anzüglichkeiten, Wahrheits-Spielchen, die bald die Fassade fallen lassen. Unweigerlich folgt die Katastrophe des Unwetters nachdem schon die Toiletten verstopft sind. Nun reden alle Klartext, jahrzehntelange Freundschaften geht über Bord. Und wenn sich der Kritiker anschließt, kaum erholt von dieser cineastischen Seekrankheit, kann er nur Sicherheits-Westen empfehlen: Ganz fest um Augen und Ohren gebunden. Das lahme Boulevard-Stückchen erweist sich als überlange Banalität, die durch überkandidelte Schauspiel- und Kamerabewegungen über und unter Wasser noch mehr bloßgestellt wird.

Kirschblüten und rote Bohnen

Japan, Frankreich, BRD 2015 Regie: Naomi Kawase mit Kirin Kiki, Masatoshi Nagase, Kyara Uchida 109 Min. FSK: ab 0

Erst letzte Woche verzauberte „Unsere kleine Schwester" mit einer atemberaubenden Kirschblüten-Allee und vielen kulinarischen Köstlichkeiten. Nun folgt noch ein japanisches Meisterwerk mit mehr Kirschblüten und einer bewegenden Geschichte um eine besondere Leckerei.

Eine alte, etwas schrullige Frau bewirbt sich beim Imbiss für einen Job. Hier werden Dorayaki verkauft, japanische Pfannkuchen mit einer Füllung aus roter Soße. Kein Job für alte Leute, doch Tokue (Kirin Kiki) macht dem stillen, wortkargen Sentaro (Masatoshi Nagase) hinter der Theke klar, dass die Bohnenpaste namens „An" (so auch der Originaltitel) von ihren Händen in stundenlanger Arbeit hergestellt, seiner industriell gefertigen haushoch überlegen ist. Sentaro wird zum Schüler, staunt darüber, wie Tokue mit den Bohnen spricht, und plötzlich stehen die Kunden Schlange. Dann erfährt Sentaro, dass die neue Mitarbeiterin, die ihm ans Herz gewachsen ist, in einer Lepra-Klinik lebt.

Mit enormer Sorgfalt bereitet Tokue die Bohnenpaste für die beliebten Dorayakis zu: Da wird jede einzelne Bohne vor dem Waschen und Einweichen angeschaut; der Geruch verrät, wenn sie fertig gekocht sind. Die große Wertschätzung der Bohnen, die „extra von den Feldern hergekommen" sind, fiel auch jeder einzelnen Film-Szene anheim. Da ist nicht nur immer wieder der Zauber der Kirschblüten-Allee im Wechsel der Jahreszeiten sehr sehenswert. Das packt, lange bevor sich das bewegende Drama um die Lepra-Kranke zeigt. In einem alten Buch über die furchtbare Ausgrenzung dieser Menschen erklingt das Flehen „Wir wollen auch die Sonne sehen". Genau dieses Gefühl gibt Naomi Kawases Film in seinen Bildern wieder, während er auch Vorurteile und Ängste gegenüber der Lepra in den Gesichtern spiegelt. Kawase, die 2007 in Cannes den Großen Preis der Jury für „Mogari No Mori" erhielt, gelingen wie in ihren vorherigen Filmen („Still the Water" 2014) eindringliche Naturbilder. Zudem ist „An" eine Geschichte von zwei Menschen, die aus verschiedenen Gründen aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Sehr berührend in den traurigen, aber immer mit schönen Bildern und hoffnungsvollen Geschichten.

27.12.15

Sture Böcke

Island 2015 (Hrutar/Rams) Regie: Grímur Hákonarson mit Sigurdur Sigurjónsson, Theodór Júlíusson 93 Min.

Wie bei der enorm wichtigen Wahl zum Schafsbock des Jahres der eine Bruder den anderen mit einem halben Punkt Unterschied schlägt, macht alles klar: Dies ist eine perfekt eingespielte Feindschaft mit wortloser Disharmonie. Gummi (Sigurdur Sigurjónsson) und Kiddi (Theodór Júlíusson) leben in einem abgelegenen isländischen Tal direkt nebeneinander und sprechen seit vierzig Jahren nicht mehr miteinander. Da überbringt halt der Hund die Rechnung für zerschossene Fenster. Doch die komischen Käuze lieben ihre Schafe - tatsächlich, jetzt ganz ohne Spott und hinterhältige Bedeutung. Als eine tödliche Krankheit bei Kiddis Schafen ausbricht, ist das ganze Tal in seiner Existenz, also in seinen Schafen bedroht. Gummi bringt selbst alle seine 164 Tiere um. Ein entsetzliches Bild für die Veterinäre. Der sich der flächendeckenden Keulung
widersetzende Kiddi wird hingegen von der Polizei abtransportiert. Doch als schließlich ein paar letzte Überlebende gerettet werden können, müssen sich die Brüder helfen ... in einem dramatischen Kampf mit den Elementen.

„Sture Böcke" ist nicht nur eine dieser Komödien über schrullige Nordländer oder Kelten. Ohne viele Worte kommt zwar auch dieser nordischen Filme aus, aber sein hohes Maß an Respekt für die Protagonisten verzichtet auch auf billige Scherze. Mit Staunen und wachsendem Interesse nähert man sich diesen Sonderlingen - selbst in einer sonderbaren Gesellschaft - an. Und das Sonderbare wird auch nicht im Stile vieler Wohlfühl-Komödien aufgelöst. Gummi und Kiddi behalten - was bei diesen Namen und ihren Norweger-Pullovern echt schwer ist - die Würde ihrer Eigensinnigkeit. Wofür man dem ruhigen und schönen Film dankbar ist.

Joy - Alles außer gewöhnlich

USA 2015 Regie: David O. Russell mit Jennifer Lawrence, Robert De Niro, Bradley Cooper, Isabella Rossellini, Diane Ladd, Virginia Madsen 124 Min.

Selten mal war dieser dämliche deutsche Zusatz-Titel treffender: „Alles außer gewöhnlich" ist bei dieser, ja: ungewöhnlichen Miss-Erfolgsgeschichte vor allem der frische Stil, mit dem Regisseur und Autor David O. Russell nach „American Hustle" und „Silver Linings" erneut auftrumpft. Mit dabei sind wieder Jennifer Lawrence und Bradley Cooper.

Nur wenige Menschen werden dem Wischmop bisher besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Trotz großer Bemühungen, diesen unansehnlichen Haushaltsartikel mit technischen Neuerungen aufzupeppen. Das Äquivalent dieses fiesen grauen Dingsbums auf den TV-Kanälen ist der HomeShopping-Sender - anrüchig, billig und vor allem schmierig. David O. Russell zeigt jedoch auf packende Weise, wie die von Jennifer „Mockingjay" Lawrence gespielte Joy Mangano nach einer wahren Geschichte mit einem neuen Wischmop zur Queen von QVC wird.

Entgegen Omas Prophezeiungen wurde aus der fantasiereichen Joy keine Erfinderin, sondern eine völlig überforderte alleinerziehende Mutter. Die auch noch den Vater (DeNiro herrlich zerknautscht) von dessen Geliebter zum Kümmern abgeliefert bekommt. Aber im Keller lebt ja schon Joys eigener Ex, dazu oben Mama und Oma. Der Name Joy (dt: Freude) ist ein blanker Hohn angesichts dieser Ansammlung von Blutsaugern im Leben der klaglosen Frau.

In atemberaubendem Erzähltempo mit unterschiedlichen Szenen und Stilen fährt David O. Russell dieses Chaos unglaublich lässig auf: Mama steht unter Dauerberieselung durch TV-Soaps, die Rohre tropfen wieder mal, im lausigen Job gibt es Lohnkürzung, alles bricht zusammen, doch Joy hält stand. Bis sich die Träume in Form der jungen Joy ausgerechnet in der TV-Soap vom Abstellgleis zurückmelden. Die zu neuem Leben erweckte Erfinderin Joy entwickelt einen saugfähigeren Wischmop, den die Hausfrau (wir sind in den 80er Jahren) nicht mehr mit der Hand auswringen muss. Nach zahlreichen Rückschlägen wird der „Miracle Mop" über den gerade emporkommenden Shopping-Sender QVC zum Erfolg.

Dass ein Film über einen Mop zum Erfolg wird, bezweifelt wohl auch die eigene Marketing-Abteilung - trotz Unterstützung durch Mobster DeNiro. Im Trailer hält Jennifer Lawrence öfter ein Gewehr als einen Mop in der Hand, was den Film auf den Kopf stellt. Dabei ist das ganze Figuren-Arsenal vor allem in der ersten Hälfte schrill, kantig und toll anzusehen. Jede der verrückten Figuren könnte einen eigenen Film füllen. Es passiert eine Menge, und das nicht mit dem Tempo üblicher Erzählkrücken aus Hollywood.

Damit ist „Joy" nicht einfach ein Frauenfilm um eine Heldin, die enorm viel überwindet. Wie schon bei den Haar-Szenen von „American Hustle" gelingen auch bei dem erneut bemerkenswerten „Joy" ernsthaft großartige Momente mit hoch lächerlichem Inhalt. Was leider nicht durchgehend gilt, denn irgendwann verlieren sich Figuren, die Soap-Ebene von Kommentar und Unbewusstem war auch schon mal besser verzahnt. Doch auch dieser Russell ist immer noch bemerkens- und sehenswert.

Remember

Kanada, BRD 2015 Regie: Atom Egoyan mit Christopher Plummer, Martin Landau, Bruno Ganz, Jürgen Prochnow 95 Min. FSK: ab 12

„Wir dürfen nicht vergessen" - heißt es auch und vor allem zu den grausamen Verbrechen des Holocaust. Doch was, wenn gerade einer, der das KZ von Auschwitz überlebte, wegen seiner Demenz bald alles vergessen wird. Mit schriftlichen Anweisungen gegen das Vergessen zieht Zev Guttman los, um den Mörder seiner Eltern zu finden. Am Ende des ebenso spannenden wie erschütternden Thrillers „Remember" (Erinnere!) von Atom Egoyan steht eine unfassbare Entdeckung, eine bittere und geniale Pointe.

Schon vergisst Zev Guttman (Christopher Plummer) bei jedem Nickerchen, dass sein Frau Ruth vor zwei Wochen gestorben ist. Doch Max Zucker (Martin Landau), sein Freund im Altersheim, erinnert ihn. Auch an einen gemeinsamen Plan: So lange es noch geht, soll Zev den ehemaligen Auschwitz-Blockführer Otto Walisch ermorden. Der lebt unter dem Namen eines ermordeten Juden als Rudy Kurlander auch in Nord-Amerika. Nur es gibt sechs Rudy Kurlander...

Die Flucht Zevs aus dem Alten- und Pflegeheim nach dem schriftlichen Anweisungen seines Freundes Max und begleitet von dessen Buchungen und Arrangements, geht erst in ein Waffengeschäft zum Kauf einer Pistole. Danach folgen alle denkbaren Schwierigkeiten eines dementen Mannes, der sich wie in „Memento" das Wichtigste auf den Arm schreibt, neben die KZ-Nummer.

Die Schwierigkeit, sich zu erinnern, dieses gesellschaftliche Phänomen alter Nazis, befällt ganz banal neurologisch auch alte Überlebende des Holocaust. Doch Zev findet alle Rudys. Der eine (Bruno Ganz), immer noch offen Antisemit, hat in Afrika unter Rommel gekämpft. Ein anderer (Heinz Lieven), bettlägerig im Krankenhaus, war als Homosexueller selbst Gefangener. Der nächste ist schon tot, doch sein Sohn setzt als faschistoider State Trooper das Erbe fort - samt Schäferhündin namens Eva! Bis nur noch einer übrig bleibt. Doch dessen Geständnis fällt anders aus als erwartet...

Atom Egoyan beschäftigte sich seit seinen ersten Filmen („Family Viewing") in den 80er-Jahren mit Erinnerung. Vor allem an den türkischen Völkermord an den Armeniern, der Aghet („Katastrophe"), die Egoyans Vorfahren traf. Wie im genialen flämischen Demenz-Thriller „De zaak Alzheimer" mit Jan Decleir ist das Vergessen ein individuelles und ein gesellschaftliches Symptom. Bis hin zu den Enkeln der Täter, die in den USA - in „Remember" gar nichts mehr wissen. Mit großem filmischem Vermögen schickt Egoyan hier Zev auf eine Odyssee, deren Ziel er immer wieder vergisst. Mit Thriller-Musik geht es ins Waffengeschäft, die Irritationen der verwirrten Mannes vermitteln geschickt dissonante Klänge. Doch dann wieder versteckt Max sehr raffiniert seine Pistole an der Grenze zu Kanada.

Es ist ein ungewöhnlicher Ansatz, mit Holocaust, mit dem Erinnern und der Rache umzugehen. Aber nie arbeitet Egoyan spekulativ, nie nutzt er die Grauen der Geschichte für seine Handlung aus. Selbst nicht in einer Tarantino-ähnlichen Episode. Im Gegenteil, diese packende und traurige Geschichte brennt die Erinnerung durch eine neue Perspektive noch einmal ein. Ein grandioser Thriller - auch unabhängig vom Thema, doch nur mit ihm funktionierend.

Die Vorsehung

USA 2015 (Solace) Regie: Afonso Poyart mit Anthony Hopkins, Jeffrey Dean Morgan, Colin Farrell 101 Min.

Besser als „Das Schweigen der Lämmer", zumindest von der Geschichte her, ist dieser vorausschauende Anthony Hopkins-Thriller um das Duell zweier Hellseher. Ein sehr raffinierter Plot und eine schwieriges moralisches Dilemma geben der fesselnden Geschichte Substanz.

Ein Serienkiller ist zu clever für das FBI. Wenn fragt man dann? Klar: Anthony Hopkins. Diesmal spielt er allerdings nicht den Psychopathen Hannibal Lector, sondern auf der vermeintlich guten Seite den ehemaligen Profiler John Clancy. Der seit dem Krebs-Tod seiner Tochter total zurückgezogen lebt. Deshalb muss der jüngere Ex-Kollege und Freund Jeffrey Joe Merriweather (Dean Morgan) einige Überzeugungsarbeit leisten, aber es ist vor allem die neue FBI-Agentin Katherine Cowles (Abbie Cornish), die Clancy zurückholt. Wir wissen dank ein paar Schock-Sekunden, dass der hellsichtige Clancy bereits das Ende von Katherine erlebt hat. Aber auch, nach einer Vorfolgungsjagd mit „vorausschauender" Fahrweise, dass nicht alles so eintreffen muss, wie Clancy es vorhersieht...

Klarer Fall ... wenn nicht der wahnsinnige Killer, der mit dem FBI und Clancy spielt, immer ein paar Schritte voraus wäre. Er (Colin Farrell) ist tatsächlich auch ein Hellseher und ermordet nur Todkranke, um ihnen das Leid der Krankheit zu ersparen. Eine Situation, die Clancy nur zu gut versteht, war doch der quälende Tod der Tochter kaum erträglich.

Lange wirkt es, als hätte sich Hopkins als einsamer Star unter Namenlose verirrt. Doch die Geschichte der „Vorsehung" ist unfassbar gut und raffiniert. Der Thriller schockt zeitweise im Stil von „Seven", aber auch damit, dass Dr. Clancy sieht, wie Menschen, die ihn berühren, sterben werden. Hopkins selbst läuft zu Höchstform auf, wenn Clancy die Persönlichkeit der ungläubigen Agentin in ein paar Sätzen brutal entblößt. Das (Wort-) Duell beider Mentalisten mit einem ratlosen Opfer zwischen sich, ist Screwball auf des Messers Schneide. Kamera und Montage wirken zeitweise ziellos, haben dann aber auch große, wilde Momente, die sich und Clancy in die Tat-Situation versetzen. Das ist mit grandiosem Buch und genialer Story besser als „Das Schweigen der Lämmer", aber leider nicht so gut inszeniert.

20.12.15

Die Melodie des Meeres

Irland, Dänemark, Belgien, Luxemburg, Frankreich 2014 (Song of the sea) Regie: Tomm Moore 93 Min. FSK ab 0

Ein wunderbares Geschenk: „Die Melodie des Meeres" - dieser ungewöhnliche und absolut herausragende Zeichentrick wurde zu Recht von der Fachzeitschrift Variety als „einer der schönsten Animationsfilme aller Zeiten" bezeichnet und erhielt den Europäischen Filmpreis 2015 als Bester Animationsfilm. Eine magische Geschichte, die mit keltischen Motiven auch in der Zeichnung überzeugend gegen den glatten 3D-Trend auftritt.

Eine gewaltige Klippe ragt ins stürmische Meer der irischen Küste. Oben trotzt der Leuchtturm den Elementen, mächtig und stark wie sein Wärter. Doch der Tod seiner Frau hat ihn innerlich gefällt, auch wenn sich der Witwer das nicht vor seinen beiden Kindern anmerken lassen will. Streng ist er und verschlossen, wie auch der zehnjährige Ben. Der Kleine erlebte wie seine Mutter bei der Geburt der Schwester Saoirse starb. Das macht ihn nicht zum Freund des Mädchens, das nicht spricht und auch sonst recht seltsam ist. Immer wieder läuft sie ins Meer, neugierig von Seehunden beäugt. Bis es zu viel wird und die Kinder zur Oma in die Stadt müssen. Da Saoirse hier auf unheimliche Weise dahinschwindet, macht Ben sich mit ihr auf den Rückweg. Die verzauberte Odyssee führt sie zu keltischen Barden und wird begleitet von Angst einflössenden Eulen. Nur der plötzliche erklingende Gesang von Saoirse kann sie retten, aber sie wird immer schwächer...

Die fantastische Geschichte nach dem Drehbuch von William Collins wird auch noch von einer sehr menschlichen Hexe und der irischen Variante der kleinen Meerjungfrau erzählen. Reich ist die zauberhafte und kunstvolle „Melodie des Meeres" aber auch in ihren mal ornamentalen, mal ziselierten Zeichnungen: Die gewaltige Klippe vor dem Leuchtturm könnte ein Kreisbogen sein. Oder vielleicht der Kopf eines Riesen, der aus Meer ragt? Tomm Moores Animation ist wie schon bei seinem Debüt „Das Geheimnis von Kells" einerseits betont flächig, dabei aber ungemein detailreich. Wie in den Elementen der Handlung ist der keltische Einfluss nicht zu übersehen. Und mehr als nur Dekoration, wie es in einem Disney-Film wäre. Selbstverständlich zeigt - bei einem Film aus dem Land der Barden - die Filmmusik von Bruno Coulais & Kila besondere Qualitäten und die Lieder gehen wie die Geschichte und Bilder direkt zu Herzen. Dazu hat der Titelsong im irischen Original Hitqualitäten. Der Film hat noch viel mehr, ein ganz breiter Erfolg ist ihm und seinen sicher beglückten Zuschauern deshalb zu wünschen.

Mr. Holmes

Großbritannien, Frankreich, USA 2015 Regie: Bill Condon mit Ian McKellen, Laura Linney, Milo Parker, Hiroyuki Sanada 104 Min. FSK ab 0

Welch eine Tragik: Der Meisterdetektiv Sherlock Holmes, der sich an jedes Detail in seinen Fällen erinnern konnte, dem keine Kleinigkeit entging, er erinnert sich nicht mehr. Regisseur Bill Condon („Breaking Dawn - Biss zum Ende der Nacht", „Chicago", „Gods and Monsters") gelingt mit Sir Ian McKellen als altem „Mr. Holmes" erneut ein Meisterwerk.

Der 93-jährige Sherlock Holmes (Ian McKellen) verbringt seinen Lebensabend zurückgezogen auf seinem Landsitz in Sussex, im Exil. Dies als Strafe, wofür weiß er nicht mehr. Denn Holmes ist nicht nur gebrechlich, sondern auch dement. Nur Roger (Milo Parker), der aufgeweckte und neugierige Sohn der Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney) inspiriert ihn noch, seinen letzten Fall zu lösen und seine erste Geschichte selbst zu schreiben. Vom Fall, der ihn vor 30 Jahren dazu brachte, sich aus dem Detektivgeschäft zurückzuziehen. Es ging um eine schöne Frau und Japan spielte eine Rolle. Dabei führt die Spur - wie bei allen guten Detektivgeschichten - zu ihm selbst zurück: Holmes, der doch nur eine Figur aus billigen Groschenromanen war, wie er selbst kommentiert, entdeckt die Tragik seines eigenen Lebens die Diktatur der reinen Logik, an der Menschen zugrunde gingen.

Wie erwartet, begeistert Regisseur Bill Condon („Gods and Monsters") in der raffinierten Verfilmung des Romans „A Slight Trick of the Mind" von Mitch Cullin mit dem Charakter- und Gandalf-Darsteller Sir Ian McKellen als Mr. Holmes. Schon vor 17 Jahren arbeiteten sie zusammen in dem großen humanistischen Meisterwerk „Gods and Monsters" über James Whale, den Regisseur des großen humanistischen Meisterwerks „Frankenstein". So wie damals der schwule Regisseur mit dem verfolgten Monster verschmolz, verbinden sich nun die Facetten des brillanten Analytikers mit denen des hilflosen alten Mannes, die des Autors mit seiner Figur, die er selbst nie war.

Die Erinnerungslücken füllt der Film mit spannend assoziativen Bildern. Überhaupt begeistert neben dem brillanten Schauspiel von McKellen und auch des jungen Milo Parker, neben der wunderbaren Kamera-Arbeit von Tobias A. Schliessler die Verknüpfung unterschiedlicher Erzählebenen. In Anfällen von Ohnmacht, in spontan aufblitzenden Erinnerungen wirkt diese ungemein kunstvolle Montage (Schnitt: Virginia Katz) selbstverständlich harmonisch. Das ist klassischer Hollywood-Stil in edelster Form mit einer spannenden und einerberührenden Geschichte über die Einsamkeit eines Menschen, der einst der berühmte Detektiv Sherlock Holmes war. So ist „Mr. Holmes" immer auch großes Gefühlskino, vor allem in der Freundschaft zwischen altem Mann und Jungen, in der von Laura Linney verkörperten Mutterliebe. Ein bewegendes, exzellentes Werk über Demenz, über Trauer und Abschied.

Die Peanuts - Der Film

USA 2015 (Peanuts) Regie: Steve Martino 89 Min. FSK ab 0

Die Infantilisierung oder Verkindlichung der Peanuts hört sich albern an, denn die Peanuts-Figuren um Charlie Brown sind schließlich Kinder und kein Erwachsener taucht bei ihnen auf. Die Reduktion auf einen Kleinkinder-Film ist trotzdem umso ärgerlicher. Denn die kleinen, seit Jahrzehnten erfolgreichen Comic-Geschichtchen von Charles M. Schulz (1922-2000) stehen ja nicht auf den Kinderseiten der Zeitungen. Sie enthalten oft durchaus alterweise Lebensbetrachtungen und freundliche Zuspitzungen menschlicher Verhaltensweisen.

In der mittlerweile sechsten Kino-Verfilmung der Zeichnungs-Miniaturen muss also wieder der Spagat zur Abend- beziehungsweise Nachmittags-füllenden Spielfilmlänge geleistet werden. Pechvogel Charlie Brown, der sympathische Star des Scheiterns, verliebt sich in einer Episode in das Mädchen mit roten Haaren. Das reicht selbstverständlich auch noch lange nicht, verzweifelt wird zudem die Leinwand mit großen Szenen us-amerikanischem Zeitvertreibs vollgestopft. Nur die surrealen Einlagen von Snoopy mit seinen Flieger-Eskapaden erheben sich dabei etwas vom Teletubbie-Niveau dieses völlig unnötigen und seinen Ursprung verratenden Filmchens.

Das erstmalig bei den Peanuts eingesetzte 3D-Verfahren sorgt zusammen mit der Computer-Animation für Baby-gerecht niedliche Figuren, ein totaler ästhetischer Missgriff. Da hätte man den ausdrücklichen Wunsch des Schöpfers Schulz, nach seinem Tod keine neuen Peanuts-Comics mehr zu veröffentlichen, auch auf die Filme erweitern sollen. Doch leider hat man sich nicht dran gehalten.

13.12.15

Unsere kleine Schwester

Japan 2015 (Umimachi Diary) Regie: Hirokazu Kore-eda mit Haruka Ayase, Masami Nagasawa, Kaho, Suzu Hirose 127 Min. FSK: ab 0

Schon dieses alte japanische Haus in Kamakura, einer Küstenstadt bei Tokio, ist ein Traum mit kleinem Garten und Pflaumenbaum, mit geflickten Pergament-Schiebetüren. Dort leben die Schwestern Sachi, Yoshino und Chika alleine, nachdem vor 15 Jahren der Vater die Familie für eine andere verlassen hat und dann auch noch die Mutter abhaute. Nun erfahren die jungen Frauen vom Tod des Vaters und erstmals von der jüngeren Stiefschwester Suzu (Suzu Hirose). Spontan bietet Sachi (Haruka Ayase) der 14-jährigen Waisen an, bei ihnen einzuziehen, was Suzu erst zögerlich, dann strahlend und dann herrlich aufblühend annimmt.

Schon in seinem ersten internationalen Erfolg „Nobody knows" ließ Regisseur Hirokazu Kore-eda 2004 eine Gruppe von Kindern selbständig ohne Erwachsene zusammen leben. Was damals dramatisch, rührend und erschreckend war. Nun ist es, wenn auch ganz leise dramatisch, pures Glück, diese kleine Gemeinschaft mitzuerleben. Das Zusammenleben ist nicht idyllisch - sie streiten sich auch gerne mal, aber wenn es drauf ankommt, halten sie zusammen. Wie bei der Riesen-Spinne in der umkämpften Dusche.

Dabei entdeckt man viele Verbindungen der anscheinend so unterschiedlichen, aber allesamt fröhlichen Schwestern, die sich dann doch in kleinen Details immer wieder sehr ähnlich sind. Da ist das Helfersyndrom bei Sachi, der Krankenschwester auf einer Palliativ-Station, und bei Suzu, die bis zuletzt für den sterbenden Vater sorgte. Und die gleichen kulinarischen Vorlieben, vor allem bei einem Film, in dem andauernd gegessen wird. Im Zyklus der Jahreszeiten wird die leichtlebige Yoshino erwachsen und Sachi, die wegen der Verantwortung für ihre Schwestern genau wie Suzu zu wenig Kindheit hatte, söhnt sich mit der verantwortungslosen Mutter aus.

Die faszinierend undramatische Folge von wunderbaren Szenen, jeweils abgeschlossen durch eine kleine Piano-Melodie (Musik: Yoko Kanno), basiert auf dem preisgekrönten Manga „Umimachi Diary" von Akimi Yoshida und dem Geiste vieler wunderschöner Familien-Filme von Altmeister Ozu Yasujirō (1903-1963). Hirokazu Kore-eda erinnert nicht nur mit Details wie den Aufnahmen in Knie-Höhe der traditionellen japanischen Sitzhaltung an sein Vorbild, er schreibt sogar seine Bücher in der Lieblings-Bar von Ozu!

Das Ergebnis ist der Glücks-Fall eines Wohlfühlfilms, der sein Wohlfühlen von Anfang an verströmt. Eine grandiose junge Darstellerin, Suzu Hirose, in der Rolle des aufgeweckten Mädchens, ein unfassbarer Kirschblüten-Tunnel, Generationen von Pflaumenwein unter dem Fußboden, ein Feuerwerk auf dem Meer, die Kimonos zum Volksfest, die Weisheit des sanften Blicks auf die Figuren und vor allem immer wieder herzerweichende Freundlichkeit und Güte zwischen den Menschen beglücken durchgehend. Dazu korreliert die typisch japanische Obacht im Leben mit der Sorgfalt einer meisterhaften Inszenierung. „Woran werde ich mich am Ende noch erinnern", fragt der Film über Abschiede und Neuanfänge. Erinnerung an Schönheit, selbst noch in der Trauer, lautet eine Antwort. Im Film und durch den Film.

Hilfe, ich hab meine Lehrerin geschrumpft

BRD, Österreich 2015 Regie: Sven Unterwaldt jr. mit Oskar Keymer, Anja Kling, Lina Hüesker, Axel Stein 101 Min. FSK: ab 0

Eine Schule, in der Wissen erfahren wird und nicht in die Schüler reingestopft. Wäre schön, aber ein mäßig witziges Pauker-Filmchen mit Gags und Tricks von vorgestern kann dafür wirklich keine Werbung machen: Felix' Schulleiterin Dr. Schmitt-Gössenwein (Anja Kling) ist streng, ungerecht, unausstehlich - und plötzlich nur noch so groß wie eine Ratte. Blöd für Felix (Oskar Keymer), der gerade auf dieser Schule seine letzte Chance bekommt. Jetzt muss er mit der geschrumpften Pädagogin zusammenarbeiten, um auch noch die Schule vor einem rücksichtslosen Investor zu retten.

Grobe Pauker-Karikaturen, eine angestaubte Schule mit Otto Walkes als Hausgeist und die üblichen Schüler-Schikanen, angereichert mit Uralt-Tricktechnik aus den USA. „Hilfe, da schrumpft wieder ein Film irgendwas" wäre der bessere Titel für diese einfallslose, mehr als schwach gespielte und einfach nur langweilige Kinderkomödie. Vor allem die TV-Dauereinblendung Anja Kling fällt durch sehr unangenehmes Über-Chargieren in großer und kleiner Form auf. Doch das unnötig verdrehte und dadurch zu lange Buch gibt ihr auch erst nach fast einer Stunde etwas Menschlichkeit. Wenn dann das Finale im Keller der Schule für wenige Minuten ganz fern an Willy Wonka und sein Schokoladenfabrik erinnert, fragt man sich noch wehmütiger, weshalb solche uninspirierten Kindernerv-Töter überhaupt entstehen müssen.

12.12.15

Die Kinder des Fechters

Finnland, Estland, BRD 2015 (Miekkailija) Regie: Klaus Härö mit Märt Avandi, Ursula Ratasepp, Lembit Ulfsak, Liisa Koppel 94 Min. FSK: ab 0

Es ist das Jahr 1953, die Erschütterungen des Weltkriegs sind weiterhin spürbar, Stalin ist noch nicht tot: Der junge Fechter Endel (Märt Avandi) meldet sich als Sportlehrer in einem kleinen, sowjetisch besetzten Küstenstädtchen in Estland. Das sei hier nicht Leningrad betont der Direktor, was denn so ein Studierter hier wolle. Verstecken will Endel sich, sagt er nicht. Aber die deutsche Wehrmacht hatte ihn unter Zwang eingezogen und in der Sowjetunion reichten harmlosere Dinge, um für immer in sibirischen Straflagern zu verschwinden.

Nun versucht Endel an einer heruntergekommenen Schule die Reste einer umfassenderen musischen und sportlichen Schulausbildung aufleben zu lassen. Die mühsam hergerichteten Ski werden allerdings vom Militär geklaut. Obwohl es als „bourgeoiser Zeitvertreib" nicht gern gesehen wird, erfreut sich dann der Fechtunterricht großer Begeisterung. Zuerst mit Weidenruten und dann dank Endels alter Freunde in Leningrad mit richtigen Masken und Floretts. Die Kinder, die meist keine Väter mehr haben, gewinnen Selbstvertrauen und Vertrauen in Endel. Bis seine Klasse zu einem Wettkampf nach Leningrad will, wo Stalins Geheimpolizei nach ihm sucht. Und auch der kleine, opportunistische Sekretär, der dem Diktator nachahmt, schnüffelt in alten Akten...

Fechten ist hier nicht nur Hoffnung, es ist auch Ästhetik und Metapher: Ein gutes Gefühl für den richtigen Abstand sei überlebenswichtig, meint Endel. Größeren Abstand von den Geheimdiensten wäre ratsam, doch gemäß des Clubs der toten Fechter stellt er sich im (Sport-) Finale gegen die Häscher.

Das alles ist samt Liebesgeschichte wenig überraschend, aber mit starkem Hauptdarsteller und guter historischer Inszenierung vermitteln „Die Kinder des Fechters" den Staat der Angst unter Stalin. Die Synchronisation übersetzt sinnvollerweise die fremde Sprache der sowjetischen Besatzer nur in Untertiteln. Erfrischend ist dann auch der Blick mal in eine andere Ecke der Welt und hoffnungsvoll, dass auch der fürchterlichste Goliath und Diktator irgendwann am Ende ist, spätestens am Lebensende.

Madame Bovary (2014)

USA, BRD, Belgien 2014 Regie: Sophie Barthes mit Mia Wasikowska, Henry Lloyd-Hughes, Ezra Miller, Paul Giamatti, Rhys Ifans 119 Min. FSK: ab 6

Etwas muss der Gesellschafts-Roman „Madame Bovary" von Gustave Flaubert von 1856 ja haben, dass er alle Jahre mal wieder verfilmt wird. Nach der anämischen Isabelle Huppert in Claude Chabrols Variante von 1991 stürzt sich die zu allem fähige Mia Wasikowska (klasse im Horror „Crimson", in Cronenbergs „Maps to the Stars" oder in Jarmuschs „Only Lovers Left Alive") in die Zwänge eines Ehefrauen-Lebens des 19. Jahrhunderts. Die fröhliche Emma wird aus dem Kloster an den Landarzt Bovary (Henry Lloyd-Hughes) verheiratet und ist umgehend frustriert. An ihrem langweiligen und ambitionslosen Mann, an der gesellschaftlichen Öde des Dorfes, der Beschränktheit der Menschen. Ablenkung bringen Luxus und Affären, doch der Niedergang an Schulden und schlechtem Ruf folgt zwangsläufig.

„Madame Bovary" ist kein Drama der Freiheitsberaubung. Dazu ist Emma Bovary zu offen für die neue Lebenssituation, in die sie geworfen wird. Die Bovary war außerdem nie die einfache Identifikations-Figur, sie lässt sich zu schnell verführen, von den Männern, vom Konsum an Kleidern und Ausstattung. Egozentrisch, unsensibel und nicht besonders weise. Aber auch ihre Verzweiflung am Dorfleben ist nachvollziehbar und ergibt die Ambivalenz, die Flauberts Roman in immer neuen Verfilmungen lebendig hält. Vor allem die Schauspielkunst von Mia Wasikowska bringt diese Figur in vielen Facetten nahe.

Mit großen Auslassungen - etwa die Geburt der Tochter - und ein paar starken Szenen vertraut Regisseurin und Ko-Autorin Sophie Barthes weitgehend dem Stoff und ihren Darstellern. Vor allem Rhys Ifans als verführerischer Ausstattungs-Dealer Lheureux fällt noch auf. Die Ausstattung hingegen versucht nicht, Eindruck zu schinden. Sie will „echt" wirken, was auch größtenteils gelingt. Das ist in der Kombination Wasikowska / Flaubert immer noch wirkungsvoll, aber etwas Neues bringt es nicht.

Carol

USA, Großbritannien, Frankreich 2015 Regie: Todd Haynes mit Cate Blanchett, Rooney Mara, Sarah Paulson, Kyle Chandler 119 Min. FSK: ab 6

Liebe hinter Glas

Der große Favorit für die Golden Globes ist mit fünf Nominierungen „Carol" von Todd Haynes („I'm Not There", „Dem Himmel so fern"). Cate Blanchett und die großartig wandlungsfähige, schon in Cannes hierfür ausgezeichnete Rooney Mara sind selbstverständlich für ihre Hauptrollen nominiert. Dazu Bester Film, Beste Regie und Beste Musik. „Carol" ist schon vom Format her klassisches Hollywood, „wie man es heute nicht mehr macht". Allerdings mit einer großen, ergreifenden Liebesgeschichte, die Hollywood damals nie gemacht hätte

Es ist 1952, Eisenhower wird bald vereidigt, Senator Joseph McCarthy verängstigt die US-Gesellschaft mit seiner Kommunisten-Hatz, dabei liegt Josef Stalin in den letzten Zügen und eine Frau darf sich in den USA durchaus von ihrem Mann trennen. Carol (Cate Blanchett) kann nicht nur finanziell für sich sorgen. Die reiche, selbständige und selbstbewusste Frau fällt der stillen, jüngeren Kaufhausverkäuferin Therese Belivet (Rooney Mara) direkt auf. Und vice verca. Die so unterschiedlichen Frauen freunden sich an, aber am ersten gemeinsamen Abend platzt der noch nicht ganz geschiedene Ehemann herein und schnappt sich gegen die Vereinbarungen die gemeinsame Tochter.

Ärgerlich, verletzend, aber fast undramatisch diese Störung. Wie der ganze, wunderbar gestaltete und fotografierte Film. Ein stiller Liebesfilm im elegantesten Stil, den man zur Zeit im Kino finden kann. Die Stimmung schwebend wie bei Wong Kar-Wais „In the mood for love". Dabei sind die Grenzen für das selbstbestimmte Leben einer Frau oder gar einer Liebe zwischen zwei Frauen deutlich zu spüren. Doch eben komplett unausgesprochen, sowie auch filmisch nur angedeutet. Vor allem mit den allgegenwärtigen Glasscheiben, die - verregnet, beschlagen oder verdreckt - sich immer vor die Figuren schieben. Besonders vor das einfache Ladenmädchen - nicht im Sinne Krakauers - Therese, dieses unentschiedene Wesen „von einem anderen Stern", wie Carol bemerkt.

Wie sich Therese durch schmerzhafte Erfahrungen doch zu einer Fotografin wandelt und dafür vielleicht ihre Liebe aufgibt, ist eine der Entwicklungen im wunderschönen Fluss der Bilder. Todd Haynes machte übrigens aus der Bühnenbildnerin der Vorlage von Patricia Highsmiths frühem, noch unter Pseudonym veröffentlichtem Roman „The Price of Salt" eine Fotografin - sinnvoll für diesen großartigen Augenfilm, der seinen leicht vergilbten Farbton mit echtem Super16-Film erzeugte.

Todd Haynes zeigte sich in „Dem Himmel so nah" mit Julianne Moore als Meister des klassischen Melodrams. Nun entschied er sich für eine schwelgerisch ruhige Entwicklung. Filme mit solch stimmiger Sorgfalt und perfektem Stil werden nur noch selten gemacht. Komplexe Kompositionen und Ausleuchtungen sorgen unbewusst für ästhetisches Wohlbehagen. Dabei ist jedes Detail bedeutungsvoll, um das große Drama fein leise zu erzählen. Denn was unaussprechlich erscheint, gilt immerhin als „Unsittliches Verhalten" und reicht aus, um Carol der Psychotherapie zu überschreiben und ihr das Sorgerecht umgehend zu entziehen. Da funktioniert auch der alte amerikanische Traum, die Freiheit bei einem Roadtrip gen Westen zu suchen, nicht mehr. Wobei „Carol" gerade im Stillstand, im Gefängnisses aus unsichtbaren Glas-Wänden, als bewegende Geschichte mit betörenden Bildern und traumhaft stimmigem Soundtrack von Carter Burwell exzellent funktioniert.

8.12.15

Knock Knock (2015)

USA, Chile 2015 Regie: Eli Roth mit Keanu Reeves, Lorenza Izzo, Ana de Armas, Ignacia Allamand 100 Min. FSK: ab 16

Der Flug über das Hollywood-Zeichen und in eine schicke Villa in den Hügeln um Los Angeles ist bei allen penetrant herumhängend Bildern glücklichen Familienlebens schwer von bedrohlicher Musik unterlegt. Und tatsächlich erschreckt, was für ein erbärmliches Thriller-Filmchen Exorzisten- und „Hostel"-Regisseur Eli Roth hier abliefert: Ehemann und Papa Evan (Keanu Reeves), mit einer Armverletzung irgendwie impotenter und sexuell frustrierter Vierziger, ist für ein paar Tage allein zu Haus. Da erwischt ihn ein dreister Überfall zweier sehr knapp bekleideter, völlig durchnässter Frauen mit plumper, dummer Anmache, auf die wohl eher ein geistig schwacher Sechzigjähriger reinfallen würde. So ist die angelegte Spannung, wie lange er den jungen Frauen im Bademantel widerstehen kann, auch eine Ungeduld, wann diese grobe Entwicklung endlich vorankommt. Nach einer sexuellen Eskapade findet er am nächsten Morgen die beiden Monster in einer verwüsteten Küche und ist fortan sadistischen Spielchen der dummen Gören ausgesetzt. Den Tiefpunkt stellt der soziale Tod auf Facebook dar, während das Haus verwüstet und voller aufgemalter Penisse ist.

„Knock Knock" hat in der motivlosen Invasion was von Hanekes „Funny Games", ist aber dabei unendlich banaler. Die Bestrafung eines untreuen Ehemannes für „Eine verhängnisvolle Affäre" erscheint vorgestrig, die Frauen-Figuren wirken hohl, auf ihr chaotisches Treiben kann Keanu Reeves schauspielerisch nicht antworten. Spannung gibt es eher sporadisch, die meiste Zeit beherrscht Kopfschütteln die Szenerie. Genau so sinnloses wie dieses Spiel ist der ganze Film.

Der Perlmuttknopf

Frankreich, Chile, Spanien 2015 (El botón de nácar) Regie: Patricio Guzmán 82 Min.

Der „Silberne Bär" der letzten Berlinale ist schon in der Einordnung ein kaum zu beschreibendes großartiges Meisterwerk: Der angesehene chilenische Regisseur Patricio Guzmán erzählt eine Geschichte, die vom Meeresgrund Patagoniens bis in die Weiten des Universums reicht. Und von den Ureinwohnern der zerklüfteten Insellandschaft, mythisch wirkenden Wasser-Nomaden, bis zu den brutalen Menschenrechts-Verletzungen der Pinochet-Diktatur. Es ist in poetischen Bildern und Texten ein wunderbares Wassergedicht. Eine ethnologische Reise in die Vergangenheit mit alten Fotos und Erinnerungen der wenigen Überlebenden dieses Volkes. Und ein Essay über Zeit, Wissenschaft und das Wesen der Menschen. Das führen Radioteleskope zur Erkenntnis, dass „Fortschritt die Sehnsucht nach etwas ist, was sie schon mal wusste".

In das unbeschreiblich schöne Kaleidoskop der Aufnahmen eines Naturvolkes und seiner Umgebung mit tausenden Inseln, dort wo die Anden ans Meer stoßen, schleichen sich zuerst die Grauen der Ausrottung der Urbevölkerung ein. Damit Siedler aus dem Norden Viehzucht treiben konnten, wurden Jägern Kopfprämien gezahlt. War gerade noch das Knirschen der Gletscher ein markerschütterndes Ereignis, so finden sich im Wasser plötzlich Spuren der von Pinochet Ermordeten, die lebendig aus Flugzeugen geworfen wurden.

„Der Perlmuttknopf" ist der zweite Teil einer Dokumentarfilm-Trilogie über die Geschichte Chiles. Die Meisterschaft von Patricio Guzmán, der im Berlinale-Wettbewerb auch noch den „Preis der ökumenischen Jury" erhielt, zeigt sich in der perfekten Einheit seines Films, der unvergleichlich vielschichtig und gleichzeitig so perfekt geschlossen ist.

Dämonen und Wunder - Dheepan

Frankreich 2015 (Dheepan) Regie: Jacques Audiard mit Jesuthasan Antonythasan, Kalieaswari Srinivasan, Claudine Vinasithamby 115 Min. FSK: ab 16

Die Goldene Palme von Cannes 2015. Ein Film von Regisseur Jacques Audiard, der mit den sagenhaften Filmen „Ein Prophet" und „Geschmack von Rost und Knochen" begeisterte. Eine packende, aktuelle Flüchtlingsgeschichte. Es gibt viele Gründe, „Dämonen und Wunder - Dheepan" zu sehen. Dazu noch - im Hintergrund - die unglaubliche Geschichte des Hauptdarstellers Jesuthasan Antonythasan, der selbst tamilischer Widerstandkämpfer und Kindersoldat war, nach Frankreich floh und dort Schriftsteller wurde.

Mit Ausweisen einer verstorbenen Familie steigen ein Mann, eine Frau und eine gerade im tamilischen Flüchtlingslager gefundene neunjährige Waise nachts in Boote. Sie versuchen, dem Bürgerkrieg in Sri Lanka zu entkommen. Direkt danach sieht man ihn, Dheepan (Jesuthasan Antonythasan), aus traumhaften Lichtspielen auftauchend, als Straßen-Verkäufer von Nippes in Paris. Der Übersetzer beim Flüchtlingsamt hilft ihm, das Richtige zu sagen, und so wird Dheepan ohne Französisch zu können, Hausmeister in einer von Kriminellen kontrollierten Sozial-Siedlung.

Jacques Audiards packender Film „Dämonen und Wunder - Dheepan" schafft es, fühlbar zu machen, wie fremd dem Immigranten diese Welt ist. „Wie im Kino" stehen Dheepan und seine Schein-Frau Yalini (Kalieaswari Srinivasan) nachts am Fenster, sehen den Partys und Deals der Drogenhändler zu. Ja, diese heruntergekommene Vorstadt-Siedlung ist ein seltsamer Ort, aber auch hier herrscht Krieg wie in Sri Lanka, diesmal der Kampf der Dealer um das Territorium.

Durch einen Pflege-Job beim kranken Vater des Gangster-Bosses kommt Yalini auf die andere, verführerische Seite der Siedlung und nach einem Überfall durch Konkurrenten wird aus dem intensiven, bewegenden Sozialdrama ein knallharter Thriller.

Nicht nur die ergreifende Geschichte von Dheepan und seiner neuen Familie in der gewagten, aber gelungenen Kombination von Sozialdrama und Thriller, macht „Dämonen und Wunder" so gut. Es sind die immer wieder atemberaubenden Bilder und Szenen von Regisseur Jacques Audiard und seinem Kameramann Époine Momenceau, durchmischt von indischen Klänge und verfremdenden Geräuschen, die etwas Herausragendes gestalten. Dabei überwiegen im Vergleich zu Audiards früheren Filmen die Dämonen, wenn die Seilschaften des Bürgerkrieges auch hier versuchen, Dheepan wieder einzuspannen.

Doch ein kleines Wunder ist zumindest das intensive Schauspiel von Jesuthasan Antonythasan, der mit 16 Jahren den Liberation Tigers of Tamil Eelam (kurz LTTE) beitrat. 1993 migrierte er nach Frankreich, schlug sich mit Gelegenheitsjobs unter anderem als Hausmeister durch, bevor er unter dem Namen Shobasakthi einige seiner Kurzgeschichten, Theaterstücke, politische Essays und Literaturkritiken veröffentlichte.

Mistress America

USA 2015 Regie: Noah Baumbach mit Greta Gerwig, Lola Kirke 85 Min. FSK: ab 6

Noah Baumbach ist so etwas wie der neue Woody Allen - mit etwas weniger Slapstick, aber großem Gefühl für die Lebenswelten der intellektuellen Stadt-Amerikaner seiner Generation. Er schrieb Bücher für Wes Anderson („Der fantastische Mr. Fox" 2009, „Die Tiefseetaucher" 2004), aber auch zu „Madagascar 3: Flucht durch Europa". „Greenberg" war 2010 die erste Zusammenarbeit mit Baumbachs späteren kreativen und Lebens-Partnerin, der auf die Erde geplumpsten Göttin Greta Gerwig. Ihre sagenhafte „Frances Ha" stellte dann 2012 den Durchbruch für Regisseur und Schauspielerin dar. Nach dem etwas älter angelegten „Gefühlt Mitte Zwanzig" schrieben Baumbach/Gerwig nun mit „Mistress America" eine jüngere Version von „Frances Ha" über das komplizierte Gefühlsleben einer Literaturstudentin in New York.

Greta Gerwig spielt diesmal die selbstüberschätzte Twitter-Prominente Brooke. Eigentlich zu alt für das Studium, wirkt sie auf ihre zukünftige Stiefschwester Tracy Fishko (Lola Kirke) wie ein Star der New Yorker Studenten-Szene. Die schüchterne, einsame College-Anfängerin wird dann auch sofort vereinnahmt und zur Assistentin der Möchtegern-Restaurantbesitzerin, die nicht kochen kann. Als der stetige Rede- und Handlungs-Fluss der umtriebigen Brooke mit der Absage ihres Freundes abbricht, macht sich ein unharmonisches Quartett auf die Reise zu Brookes reichem mittlerweile verheiratetem Ex-Ex-Freund, um einen Kredit zu erbetteln. So wie es ein Hellseher geraten hat!

Wieder ist eine ungewöhnliche, ungleiche Frauen-Freundschaft der rote Faden einer verrückten Geschichte, die mit Lubitsch-artigen Screwball-Szenen auftrumpft, mit spielerisch leichtem und prickelndem Ensemble-Feuerwerk. In einem Käfig voller selbstverliebter Narren ist Tracy die mitschreibende Beobachterin, eine sensible Verwandte von „Francis Ha". Ihr intensives Verhältnis zu Brooke zerbricht so schnell, wie es entstand. So erfreulich frisch und individuell alle Figuren wirken, es entsteht doch ein genaues Zeitbild: Die Lebenswelten der 18- bis 30 Jährigen sind unendlich reich an Möglichkeiten und Ablenkungen, aber trotzdem fehlt etwas - eine echte Freundschaft beispielsweise. So mischen Baumbach und Gerwig ihrer Komödie der jungen New Yorker von heute eine Menge Melancholie bei, ein Markenzeichen aller Baumbach-Filme. Das Markenzeichen von Greta Gerwig, nämlich mit dieser wunderbar unverstellten Tapsigkeit nicht perfekt zu sein, macht auch diesen Film wieder unbedingt sehenswert.

7.12.15

Der kleine Prinz (2015)

Frankreich 2015 Regie: Mark Osborne 107 Min. FSK: ab 0

Mark Osborne, der Regisseur von „Kung Fu Panda" zauberte eine sehr überraschende und gelungene Adaption von Antoine de Saint-Exupérys Geschichte „Der kleine Prinz" auf die Leinwand: Nach einem kurzen Zeichenprolog lernen wir ein Mädchen mit durchgeplanter Kindheit kennen, die nur aus Lernen und Optimierung für ein erfolgreiches Arbeitsleben besteht. Aber der sonderbare Nachbar in dem bruchfälligen Schlösschen bringt nicht nur mit einer Explosion samt umherfliegendem Propeller das quadratisch-praktische Wohnviertel sowie diesen Plan durcheinander. Von hier flattert dem Kind per Papierflieger eine Seite von „Der kleine Prinz" herüber. Obwohl im Lehrplan für einen Freund erst im kommenden Sommer, einmal pro Woche 30 Minuten Zeit wäre, lässt es sich in eine fantastische Welt entführen, findet ausgerechnet in einem Haufen von Geldmünzen Spielfiguren.

So wie der Kleine Prinz das Mädchen rettet, befreit das Kind die Märchenfigur in einem dramatisch düsteren Finale aus einer Welt der grauen Herren, in der im Dienste der Energie-Konzerne aus Sternen Büroklammern gepresst werden. Dabei ist nicht nur gelungen, wie die kleinen Parabeln von den verschiedenen Planeten von Antoine de Saint-Exupéry in gegenwärtige Lebenswelten von überforderten Kindern geholt werden. Auch die Verzahnung einzelner Elemente wie dem Flugdrachen im Garten des alten Mannes und den Vögeln, die den Prinzen von Planet zu Planet tragen, zeigen eine Sorgfalt, die bei solchen Kinderfilm-Produktionen nicht immer selbstverständlich ist.

Mark Osborne arbeitet mit zwei ganz unterschiedlichen Animations-Stilen: Die etwas gewöhnliche Computer-Animation für die graue Gegenwart des Mädchens und Stop-Motion mit der Haptik von Papier bei den fantastischen Fabeln vom kleinen Prinz, die den Buchzeichnungen nachgeahmt wurden. Allmählich nähern sich die Geschichten im Stil einander an, jedenfalls sieht das Mädchen ihre Welt nun mit anderen Augen. Das ist nicht nur für kleine Kinder traumhaft, rührend und als Interpretation im Geist des Originals sehr gelungen.

By the sea

USA 2015 Regie: Angelina Jolie mit Brad Pitt, Angelina Jolie, Mélanie Laurent, Niels Arestrup 108 Min. FSK: ab 12

Angelina Jolie und Brad Pitt an der französischen Küste. Also quasi ein Home-Video der Familie Jolie-Pitt, das ist doch ein Hit! Aber auch in ihrem dritten Spielfilm als Regisseurin erweist sich Angelina Jolie als erstaunliche Künstlerin, die es nicht nötig hat, dem Massengeschmack hinterher zu drehen: „By the sea" ist ein bestechend exzellent gefilmtes und gespieltes Beziehungs-Drama.

Mit einer „Göttin" rollen sie herein in die kleine Urlaubsbucht, ein DS-Cabrio bringt den amerikanischen Schriftsteller Roland (Brad Pitt) und seine depressive Frau Vanessa (Angelina Jolie) Anfang der Siebziger Jahre zu der französischen Strand-Bar und dem etwas höher gelegenen Hotelgebäude. Der Raum mit Blick aufs wird sofort ummöbliert, Roland baut seinen Schreibtisch am Fenster auf. Hier müsste sich doch die Schreibblockade überwinden lassen. Der bodenständige Wirt Michel (Niels Arestrup) ist ihm in den folgenden Tagen Gesprächs- und auch Trinkpartner. Mit dem Notizbuch im Hosenbund wird ergründet, was Liebe denn so sei, erzählt der stille Witwer Michel von seinem Verlust und Roland deutet Probleme an.

Denn Vanessa sonnt sich auf dem Balkon depressiv und negativ im eigenen Leid, leblos wie eine Mumie. Bis ein junges Paar ins Nebenzimmer zieht und ein Guckloch in der Wand Vanessa magisch anzieht. Eine frische Liebe mit gesunden Sexleben, das hatten sie auch mal. Irgendwie anrührend und stimulierend, selbst wenn sich das zynische amerikanische Paar den naiven Franzosen sehr überlegen fühlt. Man und vor allem Vanessa beginnt mit den jungen Nachbarn zu spielen ...

„By the sea" ist ein stiller Film, bei dem man viel von der Action im Kino nebenan hört. Es liegt eine erstickende Schwere in den sonnenüberfluteten Bildern. Nicht nur Premmingers „Bonjour Tristesse" wird Jolie beeinflusst haben, man fühlt sich gleich angenehmst in eine ganze Retrospektive französischer Arthouse-Filme des Sechziger- und Siebziger-Jahre versetzt. Das sieht in den Bildern von Haneke-Kameramann Christian Berger und mit schönen Ausstattungsdetails wie der roten Olivetti-Schreibmaschine Valentine nicht nur gut aus. Es stimmt auch mit der Geschichte überein.

Derart reizvoll gestaltet Jolie ihre Geschichte, dass die Auflösung der Beziehungstragik nur wenig die Spannung zu halten braucht. Kleine Details wie der Fischer, der allmorgendlich aus der Bucht rudert und abends zurückkehrt, erzählen sich als Sinnfragen selbst. „Peeping Jolie" und schließlich beide am Guckloch zum Nebenzimmer campierend ist ebenso reizvoll wie die kunstvollen Spiegel-Motive in der sehr sicheren Inszenierung.

Jolie selbst zeigt sich versteckt hinter riesigem Hut und enormer Sonnenbrille als unberührbare, verblühende Schönheit. Der Selbstmord ist wie ihre Pillen und das Meer immer nur einen Schritt weit entfernt. Leben kommt in Vanessa nur bei bösen Psychospielchen und genügend Alkohol. Vor allem Brad Pitt kann sich als großartiger Schauspieler beweisen. Diesmal trotz Schnurrbart, langen Koteletten und Goldkettchen mit den Nuancen eines unglücklich in die eigene Frau Verliebten. Wenn die noch die Autorin, Regisseurin und Produzentin Angelina Jolie ist, kann man die Anhänglichkeit durchaus verstehen.

1.12.15

Im Rausch der Sterne

USA 2015 (Burnt) Regie: John Wells mit Bradley Cooper, Sienna Miller, Daniel Brühl, Omar Sy 102 Min. FSK: ab 6

Er ist der Beste und dazu noch besessen. Deshalb kann niemand dem Sterne-Koch Adam Jones (Bradley Cooper) eine zweite Chance verwehren, obwohl sein plötzlicher Abgang in Paris vor zwei Jahren ein Knaller war. Nun belagert Adam in London seinen ehemaligen Freund Tony (Daniel Brühl), um dessen Restaurant zu bekommen. Er bedrängt die junge Köchin Helene (Sienna Miller) bei einem befreundeten Konkurrenten, bis die bei ihm anfangen muss. Und beleidigt einen Fast Food-Zauberer, der sogar für einen Job bei Adam zahlen würde.

Dieser Protagonist ist ein jederzeit unsympathischer Typ, dazu cholerisch, rücksichtlos und egozentrisch. In seiner Küche herrscht ein Kasernenton; was nicht perfekt ist, fliegt in den Müll oder an die Wand. Ein Konkurrent charakterisiert Adam treffend als Süchtigen, der auch ohne Alkohol oder andere Drogen noch immer süchtig nach seinem eigenen Erfolgskick bliebe. Die Psychologin (Emma Thompson), bei der sich das schillernde menschliche Wrack wöchentlich auf Drogen testen lassen muss, braucht etwas länger und mehr Worte.

So verfolgt man Adams Kampf um drei Michelin-Sterne, die vorsichtige Annäherung einer alleinstehenden Kollegin, die handfesten Forderungen ehemaliger Drogendealer und zwischendurch immer mal die Herdplatte. Sehr viel Aufwand treibt der Film beim Darstellen von Zutaten und Zubereitung, die Ingredienzen in Form von Darsteller und Kamera sind auch nicht schlecht. Trotzdem wird man nie richtig warm mit Adam Jones und gerade der im deutschen Titel versprochene „Rausch" tritt nicht ein. Das trifft es das „Burnt" (verbrannt) vom Originaltitel besser: Inhaltlich könnte es packend sein, wie sich Adam aus seinem Panzer raustraut, den er sich nach einer persönlichen Verletzung zulegte. Mit der simplen Moral, ohne Liebe gibt es keine Sterne, ohne gegenseitige Liebe und (Be-) Achtung der Mitmenschen. Dabei interessiert - trotz seltsamem Dialekt - Daniel Brühls Figur des schwulen Restaurantchefs Tony viel mehr. Hier ist das Drama nur angedeutet, nicht ausgewalzt. Irgendwie bekommt man hier Lust auf eine einfache Portion Pommes oder auf Jon Favreaus genial lustvollen Kochfilm-Spaß „Kiss the Cook".