29.6.15

Ich seh, ich seh

Österreich 2014 Regie: Veronika Franz, Severin Fiala mit Susanne Wuest, Lukas Schwarz, Elias Schwarz 100 Min. FSK: ab 16

„Ich seh, ich seh" ist ein echter Horrorfilm, abseits der US-Fließband-Produktionen und deshalb um so wirkungsvoller: Zwei Jungs spielen in Wäldern und auf Wiesen. Zuhause bekommt die Idylle das Gesicht des Horrors, denn ihre Mutter zeigt sich nach einer Operation mit bandagiertem Kopf. Der erste Schock wandelt sich in einen Zweifel, weil sich die extrem strenge bis gewalttätige Mama beim „Was bin ich?"-Spiel selbst nicht erkennt. Es fehlt auch ein Muttermal und deshalb kommen die Zwillinge zum Entschluss: „Wir wollen unsere Mama zurück, du bist nicht unsere Mama!" Der gegenseitige Psychokrieg eskaliert. Und mit dem Zwillingsbruder stimmt auch irgendwas nicht. Jedenfalls ignoriert die Mutter einen von beiden total.

Nicht nur der Österreicher Dialekt, auch die Unerbittlichkeit im Grausamen von „Funny Games" verorten „Ich seh, ich seh" in der vergletscherten Gesellschaft der Alpenrepublik. Unterstützung erhielten Veronika Franz und Severin Fiala vom Produzenten Ulrich Seidl („Paradies"-Trilogie), doch mit sehr kunstvoll komponierten Bildern, schaurigen Albträumen, einen Terrarium voller Schaben und dem auch ohne Spiegel immer wieder nett umgesetzten Zwillingsmotiv entstand ein ganz eigenständiger und reizvoller Horror, der eher bei Cronenberg anzusiedeln ist und öfters unter die Haut geht. Der Bogen von der horrend lieblichen „Guten Abend, gute Nacht"-Originalaufnahme der Trapp-Familie bis zum schaurigen Familien-Schlussbild des Films ist ein gelungener.

Men & Chicken

Dänemark, BRD 2015 (Mænd & høns) Regie: Anders Thomas Jensen mit Mads Mikkelsen, David Dencik, Nikolaj Lie Kaas, Søren Malling, Nicolas Bro 104 Min. FSK: ab 12

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm

Da denkt der Kritiker, er hat alles gesehen. Bis aus Dänemark „Men & Chicken" kommt und man erinnert, dass die Sache mit Dogma, Lars von Triers „Idioten" und den anderen früher eigentlich viel wilder war. Selbstverständlich gehört Anders Thomas Jensen zu den anderen, ist als Autor und manchmal auch als Regisseur einer der führende Kopf der „Dänischen Delikatessen". Die diesmal wieder besonders seltsam, komisch und nachhaltig irritierend zubereitet werden. Eine der Hauptzutaten von Jensen ist nach „Adams Äpfel" auch diesmal wieder Mads Mikkelsen - kaum wieder zu erkennen.

Extrem schräg ist schon die Perspektive, in der ein Vater per Video posthum zu seinen beiden Söhnen spricht: Das Stativ rutscht runter und man sieht nur Unterleib und Beine. Schockender noch die Nachricht, Elias (Mads Mikkelsen) und Gabriel (David Dencik) seien gar nicht von ihm, ihr biologischer Vater Evelio Thanatos lebe auf der abgelegenen Insel Ork und sie hätten dort drei Brüder.

Schon die Reise auf das verlassene Eiland mit seiner Geisterstadt und der seltenen Fährverbindung verläuft abstrus. Der Empfang im alten Sanatorium der Rest-Familie dann niederschmetternd. Denn die extrem debilen Kerle Gregor (Nikolaj Lie Kaas, „Eine zweite Chance"), Franz (Søren Malling), Josef (Nicolas Bro aus „Antman" und „1864") prügeln auf alles Fremde ein, es könnte ja jemand vom Amt oder dem Krankenhaus sein. Elias scheint sich direkt wohlzufühlen, er prügelt eifrig mit und verdient sich so den Respekt der Blutsverwandten. Die Hasenscharte bei allen fünf lässt keinen Zweifel an der Abstammung.

Den Vater bekommt man wegen Bettlägerigkeit nicht zu Gesicht. Die fünf unterschiedlichen Mütter auch nicht, sie sollen alle bei der Geburt verstorben sein. Dafür gibt es eine Menge Viehzeugs: Die äußerlich wie innerlich verlotterten Jungs pflegen intensiven Sexualverkehr mit den Tieren, die in den Wohnräumen herumlaufen. Auch das passt dem sex-süchtigen Elias, während der abartig kluge Gabriel - aufgrund der Prügel mittlerweile im Rollstuhl gelandet - zaghaft versucht, ein paar Jahrhunderte menschlicher Entwicklung nachzuholen. Dabei wirken die Brüder selbst wie Tiere, Gabriel weise wie die Eule, Elias als aufbrausender Stier, Gregor treu anhänglich wie ein Hund.

Die Creme de la Creme des dänischen Films ist versammelt - schauspielerisch und mit Anders Thomas Jensen („Zweite Chance", „In einer besseren Welt", „Nach der Hochzeit", „Open Hearts") als Autor und Regisseur. Doch selbst einen Fan kann „Men & Chicken" endlich mal wieder verwirren. Bis es zur humanistischen (oder ironischen?) Kernaussage kommt, dass wir alle irgendwie verwandt sind, ist eine lange Strecke genial inszenierten groben Wahnsinns zu durchstehen. Lebendige Hühner zu vögeln oder ausgestopfte als Waffen zu missbrauchen, sich kindisch über die Verteilung der Tellerchen mit den Tiermotiven zu streiten oder bei jeder Gelegenheit loszuschlagen, das alles erscheint als durchaus unterhaltsamer Wahnsinn ohne besondere Wahrheit. Die enthüllt sich jedoch schließlich mit durchdringender Wucht. Der von hinten entschlüsselbare Sinn des Ganzen lässt lange denken und diskutieren.

„Men & Chicken" ist eine absurde Komödie auf einer Inzest-Insel mit Geisterstadt, ein Thriller mit verbotenen Oberstübchen und Kellerverließen, ein Frankenstein-Horror mit schaurigen Experimenten. Dazu das Verbot, zu entdecken, wer wir sind und wo wir herkommen. Ein provokanter, umstrittener und streitbarer Film - nicht das schlechteste in Zeiten feiger, berechenbarer Fließband- und Sender-Produktionen. Die Bibel wird als unglaubwürdiges Märchenbuch vorgelesen, die Opferung Isaacs durch seinen Vater Abraham mit der Genmanipulation in Zusammenhang gebracht. Das ist letztendlich viel mehr als ein Statement und als die Wiedergeburt politisch unkorrekter Filme, es ist ein komisches und komplexes Gedankengebäude zur Einzigartigkeit oder zur näheren Verwandtschaft der menschlichen Rasse.

23.6.15

Atlantic

Niederlande, Belgien, BRD, Marokko 2014 Regie: Jan-Willem van Ewijk mit Fettah Lamara, Thekla Reuten, Mohamed Majd 95 Min. FSK: ab 0

Während der marokkanische Fischer Fettah (Fettah Lamara) mit dem Surfbrett entlang der Atlantikküste versucht, Europa zu erreichen, erinnert er sich an das Leben, dem er entfliehen will. Der exzellente Windsurfer wählt die gefährliche, 300 Kilometer lange Strecke, weil die Meeresenge von Gibraltar scharf überwacht wird. „Atlantic" erlaubt sich lange einsame Sequenzen ohne Dialog auf dem Meer, dann zu schwebender Musik Fettahs Ausflüge in die reichen Bereiche der Touristen, wo er als Surf-Lehrer als Freund und gleichwertig behandelt wird - für die Urlaubstage. Verliebt in eine niederländische Touristin, die ihn an die verstorbene Mutter erinnert, driftet sein Leben immer mehr ab.

Einen großen Teil überlässt der Film fast meditativen Surf-Sequenzen mit eindrucksvollen Aufnahmen der Meeres-Weite und poetisch klingenden, arabischen Off-Texten sowie Liedern. In den Kommentaren spricht Fettah von einem kleinen Mädchen, dass er zurückließ oder von seiner Mutter. Die Mischung aus einer musikalischen Stimmung wie in Albinonis Adagio und den bedeutungsschweren Off-Texten erinnert entfernt an den assoziativen Montagestil von Terrence Malick. Doch dann sind da wieder die eindrucksvollen Surfbilder wie aus einem Sportfilm. Dank der präsenten Spiels von Fettah Lamara als Fettah ist „Altantic" mehr als ein ansehnliches Bildspektakel. In einigen Momenten spannend und generell eher poetisch als mit Thesen eine ungewöhnliche Flüchtlingsgeschichte erzählend.

Antboy – Die Rache der Red Fury

Dänemark, BRD 2014 (Antboy: Den Røde Furies hævn) Regie: Ask Hasselbalch mit Oscar Dietz, Amalie Kruse Jensen, Samuel Ting Graf, Astrid Jucher-Benzon, Nicolas Bro 87 Min. FSK: ab 6

Bestes kribbeliges Superhelden-Kino für Kids - das ist auch die zweite Verfilmung von Kenneth Bøgh Andersens Kinderbüchern um Pelle, den der Biss einer mutierten Ameise zu Antboy machte. Inzwischen 13-jährig, steckt der schmächtige, aber clevere Junge mitten drin in den übermenschlichen Herausforderungen eines Teenagers: Der besten Freundin sagen, dass man sie liebt, die Eifersucht auf den vegan schleimigen Konkurrenten verarbeiten und die Angriffe der versetzten und gemobbten Mitschülerin Maria abwehren. Da diese einen Erfindervater hat, macht sie bald unsichtbar oder mit coolem roten Kapuzenmantel dem armen Pele das Leben schwer. Und auch der große Gegner aus dem ersten Teil, der Floh (Nicolas Bro, der dänische Kriegsminister aus der aktuellen historischen Serie „1864"), piesackt aus dem Gefängnis heraus mit zwei kleinen Nachahmern den verliebten Superhelden.

Der (sichtbar in Deutschland gedrehte) zweite Film um Antboy macht mit den Qualitäten des auch international sehr erfolgreichen dänischen Kinder- und Jugendfilms weiter: Sympathische Figuren, „altersgerechte Action" und das witzige Spiel mit den Superheldenfilmen, etwas im selbstironischen Spruch, dass der Comic besser sei als die Verfilmung. Mit der neuen, kleinen Superheldin Red Fury kommen einige frische Ideen in den Film. Aber vor allem gelingt es - auch dank des jungen Hauptdarstellers Oscar Dietz - völlig entspannt und unaufgeregt, die ganz normalen Teenager-Erfahrungen mit dem netten Superhelden-Klamauk zu verbinden. Sieht einfach aus, ist aber große und nicht zu unterschätzende Kunst!

22.6.15

Freistatt

BRD 2014 Regie: Marc Brummund mit Louis Hofmann, Alexander Held, Stephan Grossmann, Katharina Lorenz, Max Riemelt 108 Min. FSK: ab 12

Ohne dass explizit auf sie verwiesen wird, schwebt in den weichgezeichneten, pop-bunten Bildern von Kamerafrau Judith Kaufmann etwas von den freien 68ern. Doch für den 14-jährigen Wolfgang (Louis Hofmann) ist die Freiheit ganz schnell zu Ende, als ihn sein gewalttätiger Stiefvater (Uwe Bohm) in ein Heim steckt. Freistatt heißt das diakonische Fürsorgeheim südlich von Bremen. Ein höhnischer Name, den man sich nicht ausdenken musste, denn der Film wurde sogar am genau so genannten, historischen Ort dieser Unmenschlichkeiten gedreht.

Die Begrüßung durch den freundlich wirkenden Leiter, Hausvater Brockmann (Alexander Held), verspricht auch pädagogische Freiheit im Geiste von Willy Brandt, dessen Plakate in der Stadt hängen. Doch direkt am ersten Abend wehrt sich der ungemein gerechte Wolfgang gegen die Quälereien, die ein kleiner, dicklicher Junge erleiden muss. Er bietet dem Leithammel unter den Heimjungen die Stirn. Doch das ausgeklügelte System der Unterdrückung braucht einige Zeit, um in seiner ganzen Perfidität verstanden zu werden. Die schwächeren Heimkinder zahlen mit Tabak und Geld für Schutz der Großen, und wenn einer versucht, zu fliehen, müssen alle zur Strafe hungern.

Die gemeinen Unterdrückungen finden unter den Augen der Aufseher statt, die sich „Brüder" nennen. Nach dem Prinzip „Good Cop, Bad Cop" führt der sadistische Bruder Wilde (Stephan Grossmann) mit unverhohlener Gewalt und seinem Gummiknüppel die Maßgaben des Unterdrückungssystems durch. Der gütigere Bruder Krapp (Max Riemelt) lässt den Jungs auch mal ihren Spaß, nimmt einzelne in Schutz. Eine bittere Nächstenliebe, denn später stellt sich heraus, dass Krapp Päderast ist.

Auch an diesem Duo zeigt sich die Vielschichtigkeit des exzellenten Films mit seinen psychologisch tief verflochtenen Schicksalen: Selbst Wilde hat Szenen, in denen sein Zwang gezeigt wird, in denen man sein Handeln besser
verstehen lernt. Das System, Zwang weiterzugeben, ist ein weiterer, eindrucksvoller Hauptakteur in „Freistatt". Der Priester und die Kirche machen alles mit, überdecken alles mit ihrem Mantel der Liebe. Freistatt ist ja schließlich ein Heim des Diakonisches Werkes, dessen schwere Kindesmisshandlungen an 300.000 Jugendlichen 2009 und 2010 auch im Bundestag behandelt wurden.

Eindringlich erzählt „Freistatt" die Geschichte eines Gefangenen- und Arbeitslagers mitten in Deutschland während der 68er-Rebellion. Das Lied von den Moorsoldaten, 1933 von Häftlingen des Konzentrationslagers Börgermoor bei Papenburg im Emsland geschrieben, ist nicht ganz unpassend, wenn die Zöglinge zum brutal harten Arbeitseinsatz losziehen. Wie ein Deichgraf hoch zu Ross überwacht Hausvater Brockmann aus der Ferne die Ausbeutung der Jungs, während Bruder Wilde selbst mit dem Spaten zuschlägt. Zumindest das lernt der rebellische Wolfgang schnell, um mit seinem Freund, dem doppelt schikanierten „Negerjungen" Anton (Langston Uibel), zu fliehen.

Es ist einfach sehr selten, dass deutschen Filmemachern derart viele Szenen in einem Film derart grandios gelingen: Da gibt es diese Flucht wie in den Sümpfen der Südstaaten. Bei einem der wenigen Momente des Glücks während eines Bades in der freien Natur jubelt auch die Landschaft in großartigen Bildern während am Himmel die Zugvögel ziehen.

Doch die Flucht misslingt und führt nur zu noch härter Folter und Isolationshaft. Der Zögling Wolfgang wird zum gepanzerten Zombie, der seine Gefühle nur noch mit Gewalt ausdrücken kann. Das diakonische Heim Freistatt konserviert nicht nur thematisch im System der Verpanzerung junger Männer zu preußischen Zuchtanstalten, die hier vorher standen und die dem Faschismus zugrunde lagen. Auch filmisch darf man den Vergleich zum Verfilmung „Der junge Törleß" von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 1965 nach Robert Musils Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" wagen. „Freistatt" erhielt beim Filmfestival Max Ophüls Preis 2015 den Publikumspreis und den Preis der Jugendjury und ist schon jetzt als einer der besten und eindringlichsten Filme des Jahres sowie ein Favorit für die nächsten Filmpreise. Und Regisseur Marc Brummund ein Name, den man sich merken muss.

Die Liebe seines Lebens

Australien, Großbritannien, Schweiz 2013 (The Railway Man) Regie: Jonathan Teplitzky mit Colin Firth, Nicole Kidman, Jeremy Irvine, Stellan Skarsgård, Hiroyuki Sanada 108 Min. FSK: ab 12

Wie eine heiße Kartoffel wurde dieser „Railway Man" (so der Originaltitel) aus dem Jahr 2013 seit Monaten auf dem Startkalender hin und her rangiert, der englische Titel noch sinnloser und verlogener als üblicherweise verhunzt. „Die Liebe seines Lebens"? Ist das Eric Lomax' (Colin Firth) zwanghafte Obsession für Zugfahrpläne und Eisenbahn-Modelle? Oder die Erinnerung an den japanischen Folterer Nagase (Hiroyuki Sanada)? Die eher nüchterne Beziehung von Eric zu Patti (Nicole Kidman) kann es kaum sein, die nimmt höchstens gefühlte fünf Minuten in diesem Film ein.

Dann wird Eric aus seinem frischen Eheglück von einem japanischen Soldaten zu einem Foltercamp abgeholt - in einem Tagtraum. Denn die japanische Gefangenschaft im 2. Weltkrieg ist 1980 schon Jahrzehnte her, aber die Traumata sind noch so lebendig, dass eine Ehe kaum möglich erscheint. Es geht um die filmisch berühmte Brücke am River Quai und all die Kilometer eigentlich unmöglicher Bahnstrecke, die unter extremsten Umständen von einer Armee aus unmenschlich behandelten Kriegsgefangenen angelegt wurde.

Eric Lomax, Funker der Armee in Asien, war schon immer ein Nerd, ein Spezialist für Zugfahrpläne. Als die britischen Truppen sich den Japanern ergeben, beginnt die übliche Geschichte von heldenhaften Kriegsgefangenen, die nie aufgeben. Lomax bastelt ein Radio für Nachrichten aus der Heimat und Hoffnung auf baldiges Kriegsende. Als er erwischt wird, zeigt der Film hymnisch, ja sogar religiös gefeiertes Heldentum und Opferbereitschaft gegenüber einem brutalen, weitgehend gesichtslosen Feind.

Eine besondere Rolle bei den Foltern mit dem von den USA weltweit „populär" gemachten Waterboarding spielt der Übersetzer Nagase (alt: Hiroyuki Sanada, jung: Tanroh Ishida). Ihn sucht der alte Lomax schließlich mit einem Racheplan auf, gedrängt von seiner Frau und dem Selbstmord eines anderen Veteranen. Am Ort der Folter in Thailand sitzen sich Nagase und Lomax nun in umgekehrten Rollen gegenüber. Dass sie „nach einer wahren Geschichte" schließlich Freunde werden müssen, lässt sehr einen sehr unbefriedigt zurück. Wie der Rest des Films auch. Da hilft selbst ein Satz wie „Manchmal muss der Hass ein Ende haben" nicht mehr.

Das Psycho-Drama um den alten Eric Lomax macht zwischen den Rückblenden mit einem jüngeren Schauspieler (Jeremy Irvine) einen eher kleinen Teil des Films aus. So wirkt der großartige Colin Firth lange unterfordert, trotz der Schwere grausamer Ereignisse, die in Oshimas „Furyo - Merry Christmas, Mr. Lawrence" mit David Bowie und Ryûichi Sakamoto wesentlich eindringlicher und in „Unbroken" kürzlich noch viel schlimmer wiederbelebt wurden. Wie viel zeitgemäßer zum Thema traumatisierter Veteranen ist da doch Susanne Biers „Brothers", denn dieser Film blendet nicht aus, dass weiterhin solche Kriegs-Monster produziert werden - für Arbeitsplätze in der Waffenindustrie unserer Länder. Dass sich alle Soldaten systeminhärent in ihren Untaten gleichen, blendet dieses Stück Patriotismus und Militarismus aus.

Nicole Kidman sieht in einer ernsten Rolle als ehemalige Krankenschwester, als "Florence Nightingale", ebenso gut aus, wie die großartig gezeichneten Landschaften. „Die Liebe seines Lebens" ist schön gefilmt und gezeichnet, aber simpel, feige und im naiven Patriotismus sogar geschmacklos.

Strange Magic

USA 2015 Regie: Gary Rydstrom 99 Min. FSK: ab 0

„Strange" also seltsam ist alles an diesem Zeichentrick, der wohl kaum in den Kindervorstellungen funktionieren wird. Vielleicht hat die wie Ohrschmalz zum Musical geronnene Liebe zwischen einem Schmetterling und einer Kakerlake eine Chance als seltsamer Mitsing-Kultfilm im Stile von „Rocky Horror Picture Show".

Im Feen- und Märchenreich soll wieder eifrig geliebt und geheiratet werden, doch der charming Prinz erweist sich als untreuer, hinterhältiger Depp. So schwört die kämpferische Fee Marianne der Liebe ab und ist damit die ideale Partnerin für den düsteren Bog King, Herrscher der dunklen Seite dieses Films. Ja, hier klingt mit Absicht die dunkle Seite der Macht an und tatsächlich stammt die Story - mit Resten aus Shakespeares „Ein Sommernachtstraum" - von George Lucas. Aber keine Angst, auch wenn die Geschichte von „Strange Magic" ähnlich simpel ist wie die von „Star Wars" und die Figuren ebenfalls aus den hässlichsten Ecken des Universums kommen, dies wird sicher keine neunteilige Elfen-Saga.

Denn „Strange Magic" ist eine einfache Schwarzweiß-Geschichte mit erstaunlich wenig ansprechenden Farben und Figuren, die bei Streben nach Originalität wirklich einzigartig hässlich und abschreckend ausgefallen sind: Feen mit Schmetterlings-Flügeln und unbeschreiblich lang gezogenen Ohren, eine Kakerlake als romantische männliche Hauptfigur ... die trauen sich was bei der Trickschmiede von Lucasfilm!

Aber vor allem der Musical-Fan ist entsetzt: Denn in „Strange Magic" verfallen alle Figuren so schnell wie möglich in penetrantes Covern von Pop-Songs. Das ist wie ein „Moulin Rouge", bei dem alles Geniale, Wunderbare und Großartige wegradiert und von Furchtbarem übermalt wurde. Und doch, wie erstaunlich: Selbst vor diesem unfassbar mies gemalten Hintergrund wirken Evergreens wie „I'll Never Fall in Love Again" von Burt Bacharach. Von Whitney Houstons „I Wanna Dance with Somebody (Who Loves Me)" über Queens „Crazy Little Thing Called Love" bis „Wild Thing" von den Troggs aus dem Jahre 1966 reicht der Reigen mäßiger Gesangsnummern von den „Voice Talents", also Schauspielern, die man nicht sieht. Das macht schon theoretisch fraglich, für wen dieser Film eigentlich gemacht wurde: Kinderzeichnung, die selbst die übelsten Gören nicht verdient haben, mit Musik, die sie höchstens von den Großeltern kennen könnten. Strange ... sehr seltsam.

15.6.15

Die Lügen der Sieger

BRD, Frankreich 2014 Regie: Christoph Hochhäusler mit Florian David Fitz, Lilith Stangenberg, Horst Kotterba, Ursina Lardi 112 Min. FSK: ab 12

Dem Filmemacher Christoph Hochhäuser, nach „Unter Dir die Stadt" (2010) und „Falscher Bekenner" (2005) hoch gehandelt, gelingt mit „Die Lügen der Sieger" die Quadratur des Kreises: Ein spannender, aktueller Polit-Thriller, der nicht nur seinen Aufdeckungsjournalisten böse ins Leere laufen lässt und damit raffiniert alle Erwartungen konterkariert.

Der angesagte Florian David Fitz spielt den zuckerkranken und spielsüchtigen Enthüllungs-Journalisten Fabian Groys, den seine Assistentin nur Porschefahrer nennt. Während Groys jedoch seinen alten 911er öfters verpfänden muss, scheint seine Recherche grundsolide: Er entdeckt, dass schwer kranke Bundeswehr-Soldaten entlassen und an eine Giftmüll-Deponie vermittelt werden, damit sie aus der Statistik fallen. Doch parallel speisen ein Giftmüll-Lobbyist und der höchst unsympathische Wirtschaftsminister zusammen. Das Chemikaliengesetz zur „Harmonisierung" - sprich: Verharmlosung - mit EU-Vorschriften ist eigentlich schon durch und ein Zeitungsartikel zu dem Thema käme nicht gut.

Nun werden im packenden Thriller „Die Lügen der Sieger" im großen Stil Computer angezapft, Dokumente gefälscht, Zeugen gekauft und Betroffene eingeschüchtert. Das brisante Material, das Groys zugesteckt wird, ist längst manipuliert und am Ende ist der entdeckte Skandal nur heiße Luft. Was in der hektischen Branche keinen wirklich interessiert.

Dies alles samt einer lustig knisternden Fast-Affäre mit der Praktikantin inszeniert Hochhäusler mit beunruhigend ungewöhnlichen Perspektiven, raffiniert kribbelig machendem Soundtrack und unruhigem Schnitt. Während US-Thriller mit ähnlichem Sujet („Staatsfeind Nr. 1") mit einem Overkill an Überwachung und Tricks beeindrucken, es aber am Ende alles wieder gut sein lassen, bleibt hier eine tiefe Verstörung. Die Irritation im Detail verwebt sich mit einer hinterhältigen Geschichte zu einem ungewissen Gefühl, dass da draußen Einiges ganz und gar nicht stimmen könnte. So ein Antiklimax, wirkungsvoller als das übliche Happy End, erfordert Mut und Können. Hochhäusler beweist wieder einmal beides.

City of McFarland

USA 2015 (McFarland, USA) Regie: Niki Caro mit Kevin Costner, Carlos Pratts, Johnny Ortiz, Hector Duran, Sergio Avelar 129 Min. FSK: ab 0

Ok, noch mal ein Film mit Kevin Costner, dem herrlich Gestrigen der US-Stars. Ja, auch Maria Bello ist dabei. Aber vor allem ist „City of McFarland" ein Film von Niki Caro, der neuseeländischen Regisseurin von „Kaltes Land" und dem sensationellen „Whale Rider" über die starke Emanzipation einer neuseeländischen Häuptlingstochter.

Das Dorf McFarland im Süden der USA hat 13.000 Einwohner und einen neuen überqualifizierten Football-Assistenten, weil Jim White (Kevin Costner) in besten Sportlehrer-Stil einem vorlauten Schüler einen Stollenschuh ins Gesicht geworfen und damit seine letzte Stelle geschmissen hat. Er heißt tatsächlich White, was selbst im Film ein guter Witz ist, in diesem Kaff, dessen Restaurant alles in Spanisch schreibt und keine Burger hat. Die kleine Tochter fragt bei der Ankunft „Sind wir in Mexiko?"

So vergessen, wie hier alles und jeder ist, hat die Schule auch nur ein erbärmliches Football-Team. Aber die Jungs laufen - von der Arbeit zur Schule, nach der Schule zur Arbeit und während der Sportstunde. Und das immer sehr schnell. Denn alle Schüler in einem der ärmsten Örtchen der USA arbeiten auf den Feldern, noch vor der Schule, mitten in der Nacht.

Jim White wird eine ganze Reihe von Lektionen lernen, mit seinen Jungs auf die Felder gehen, deren Arbeit am eigenen Leib, vor allem im Rücken spüren und sein Team 1987 zur kalifornischen Meisterschaft im Cross Country-Lauf führen - eigentlich ein Sport für elitäre Privat-Schulen. „City of McFarland", gedreht nach einer wahren Geschichte von neun Meistertiteln in 15 Jahren, klingt nach typischem Sportfilm, ist aber viel mehr: Selbst die Trainingsroutinen sind kleine filmische Kunstwerke wenn White seine Latino-Jungs Hügel hinauf scheucht, die es in dieser Gegend eigentlich nicht gibt. Die künstlichen Berge sind aber geerntete Mandeln, die jemand wie sie gepflückt hat. Der Hintergrund ist auch Lehrgang in Sachen us-amerikanischer Kinderarbeit: Erdbeeren-Ernten ist erst mit 12 erlaubt, aber anderes schon ab 10 Jahren.

Auch wenn „City of McFarland" vom Sportkanal ESPN Films und Disney produziert wurde, Regisseurin Niki Caro zeigt die einfachen Menschen in ihrer Umgebung, was wie schon bei „Kaltes Land" zu starken Landschaftsaufnahmen führt. Costner nimmt sich und seine Figur wieder mal nicht zu wichtig, White nutzt eine Eieruhr zum Zeitnehmen sowie Schuhe vom Ausverkauf. Es ist wieder ein altmodischer Costner (-Part), mit Hochachtung für das Einfache, Ehrliche, Gradlinige. Der Film hat mehr Routine und Genre als Caros gewaltige Dramen „Kaltes Land" oder „Whale Rider". Aber für einen US-Sportfilm ist der flott und gekonnt mit Humor inszenierte „City of McFarland" ein richtiges Kunstwerk.

Trash (2014)

Großbritannien, Brasilien 2014 Regie: Stephen Daldry mit Rickson Tevez, Eduardo Luis, Gabriel Weinstein, Wagner Moura, Selton Mello, Martin Sheen, Rooney Mara 114 Min. FSK: ab 12

Sie wohnen nicht nur auf der Müllhalde, sie werden auch wie Trash, also Müll behandelt: Der 14-jährige Rafael (Rickson Tevez) gehört zu den Menschen in Rio de Janeiro, die vom und an der Müllhalde leben. Die Geldbörse, die Rafael findet, ist der Anfang einer gnadenlosen Schnitzeljagd, die letztlich Korruption im großen Stil aufdeckt. Die Liste der Schmierer und Geschmierten in der Stadt der letzten WM und der nächsten Olympiade enthält in diesem packenden Polit-Thriller von Stephen Daldry („Billy Elliot - I Will Dance") sicherlich nicht zufällig auch eine Fußball-Organisation.

Die Brieftasche eines Verräters muss geradezu hochexplosiven Inhalt haben, wenn ihr Besitzer derart brutal von der Polizei verfolgt, angeschossen und gefoltert wird. Doch es bleibt in der geschickten Montage des spannenden Polit-Thrillers „Trash" noch lange rätselhaft, wonach die Polizei und bald auch drei Jungs aus den Slums von Rio eigentlich suchen. Dabei ist das Tempo enorm, mit dem der korrupte Frederico (Selton Mello) seine Schergen in den Elendshütten suchen lässt: „Hat jemand vielleicht kürzlich viel Geld bekommen?"

Jemand mit Geld in diesem furchtbaren Drecksloch? Eigentlich ein Hohn, denn am Anfang gewährt „Trash" noch Einblicke in das Wühlen im Müll, in die Behausungen und - damit noch ein paar Namen locken - die karitative Arbeit von Pater Juilliard (Martin Sheen) sowie seiner Assistentin Olivia (Rooney Mara). Ein zeitweise auch reizvoller Einblick, denn Regisseur Stephen Daldry und sein Kameramann Adriano Goldman gestalten das Elend mit eindringlicher Bildkraft und manchmal sogar zu schön, wenn die Jungs im Fluss baden oder brasilianischen Rap genießen.

Wobei ihr Jäger, das attraktive, gut gekleidete Schwein von der Polizei, Frederico, beweist, wie äußere Schönheit täuschen kann: Der Vollstrecker, der in seiner zurückhaltenden Art fast dämonisch wirkt, zögert nicht, Kinder zu erschießen oder zu foltern. Die Reaktion von Pater Juilliard auf das Verschwinden eines der Jungs ist deutlich: Wer in die Hände dieser Polizei fällt, ist eigentlich schon tot.

„Trash" entstand nach einem Jugendbuch von Andy Mulligan, der Ähnliches bei einem Aufenthalt in Manila erlebte. Wobei es eine reizvolle Frage ist, ob die echten Kids auch schon die „Richtigen"-Sätze kennen. Denn Rafael antwortet Olivia auf die Frage, weshalb er all das mache und nicht einfach die Belohnung für die Brieftasche kassiere, mit einem klassischen „Weil es richtig ist!" Hier greift sicher schon die Mechanik eines sehr spannenden Unterhaltungs- und Action-Films, zu dem „Trash" im Verlauf immer mehr wird.

Stephen Daldry, auch Regisseur von „Extrem laut & unglaublich nah", „Der Vorleser", „The Hours", kann Film, und beeindruckt auch bei „Trash" mit starken Bildern vor oft pittoresker Kulisse, einer hervorragenden Besetzung sowie paar raffinierten Montagen. (Dabei verweist auch Wagner Moura, der Darsteller des ursprünglichen Besitzers der Brieftasche, auf den brasilianischen Erfolgsfilm zum Thema Gerechtigkeit und Korruption, „Tropa de Elite", in dem er die Hauptrolle spielte.) Die Besprechung eines Schachzuges und die in Parallel-Montage deutlich andere Entwicklung, kennt man auch aus „Oceans Eleven". In diese (Film-) Welt gehört dann auch das etwas naive Happy End, doch muss man wirklich meckern, wenn man bestens unterhalten auch noch etwas von der dunklen und korrupten Seite Rios erfahren hat?

Big Game

Finnland, Großbritannien, BRD 2014 Regie: Jalmari Helander mit Samuel L. Jackson, Onni Tommila, Felicity Huffman, Jim Broadbent, Ray Stevenson 91 Min. FSK: ab 12

Zu den Großen Tieren, die Hollywood gerne jagt, gehören neben Löwen, Bären und Haien auch US-Präsidenten. Der junge Finne Oskari hingegen will erst mal nur irgendwas erlegen beim Männlichkeits-Ritual seines Dorfes. Wie aus der schwierigen Bewährung für den nicht besonders martialischen Jungen doch noch die Hatz auf einen abgeschossenen Präsidenten wird, verläuft sensationell spannend, witzig und eindrucksvoll.

Mutig ist der 13-jährige Oskari (Onni Tommila) schon, dass er überhaupt diesen rituellen Jagd-Ausflug mitmacht, um mit möglichst eindrucksvoller Beute einen Platz in der Ahnengalerie des Ortes zu erlangen. Aber so oft er es seinem ruppigen Vater auch versichert, dieser eher schmächtige Junge ist noch nicht reif, um Jäger zu werden. Trotzdem bricht er alleine, nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet, in unwegsame Wälder und eindrucksvolle Berglandschaften auf.

Ein anderes großes Tier wird gerade über den Wolken aus seinem Versteck gescheucht: Im Präsidenten-Flieger bricht beim Anflug auf Helsinki ein Feuer aus, US-Präsident William Allan Moore (Samuel L. Jackson) wird mit einer Landekapsel evakuiert und fällt Oskari fast auf den Kopf. Das begleitende Feuerwerk ist gigantisch, weil auch die Air Force One komplett abstürzt. Ein verräterischer Insider hat den Staatsführer zum Abschuss freigegeben. Der wahnsinnige Ölscheich Hazar (Mehmet Kurtulus) ist auf dem Weg, das Fallobst einzusammeln. Weil Oskari den orientierungslosen Moore aber zuerst findet, wird die Jagd des Jungen dauernd von anderen Jägern gestört...

Zwei Welten knallen hier mit einem phänomenalen Crash zusammen: Ein verschnarchtes finnisches Dorf mit überkommenen Ritualen und der angeblich „mächtigste Mann der Welt" ziemlich hilflos in dieser Wildnis. Aber auch das bekannte Hollywood-Kino, das wieder mal mit viel Material-Aufwand seinen Präsidenten retten muss, sowie eine sehr sympathische und super gespielte Jugend-Geschichte um den eigenen Weg, der manchmal ganz anders verläuft, als von den Älteren vorgegeben. Der Mix aus weltbekannten und lokalen finnischen Darstellern funktioniert hervorragend. (Dass dabei der Deutsche Mehmet Kurtulus den arabischen Psychopathen Hazar spielt, nehmen wir erfreut hin.) Ebenso wie der Mix aus spektakulärem Action-Kino und gut erzählter Geschichte.

Da geht so weit, dass die Figuren anfangs tatsächlich Finnisch sprechen, aber bevor man sich fragt, wie wohl Samuel L. Jackson auf Finnisch klingt, wechseln die Einheimischen doch freundlicherweise ins Englische mit nettem Akzent, der an Björk erinnert. Gut getimt sind auch die Wechsel zwischen Laut und Leise, zwischen oft origineller Rennerei und ebenso witzigen Gesprächen am Lagerfeuer mit dem kleinen Jäger Oskari und dem gejagten Politiker.

Wobei das ungleiche Verhältnis erst mal geklärt werden muss: Da fragt der aufgeweckte Junge den Alien ganz genregemäß „Did you come in peace?" (Kommst du in friedlicher Absicht?), und der Präsident will direkt Oskaris Fahrzeugt für die Vereinigten Staaten in Beschlag nehmen. Doch Macht ist relativ, hier in den Wäldern landet der Staatsmann ganz schnell auf dem Boden der Tatsachen. Was man Jackson in jeder Minute abnimmt. In einem weiteren großartigen Auftritt übernimmt Jim Broadbent als schrulliger, pensionierter CIA-Chef Herbert mit einem dicken Sandwich in der Hand die Leitung der us-amerikanischen Krisenzentrale. Wobei es immer deutlicher um einen Staatsstreich geht.

Einen Oscar wird Oskari wohl nicht von seiner Jagd mit nach Finnland bringen, dafür ist der Film dann doch zu wenig „originalsprachig". Aber der rundherum gelungene „Big Game" ist ein großartiges Beispiel für die Selbsterneuerung, die Hollywood immer mit frischem Blut und kreativen Infusionen aus dem Ausland betreibt.

10.6.15

Jurassic World

USA 2015 Regie: Colin Trevorrow mit Chris Pratt, Bryce Dallas Howard, Vincent D'Onofrio 124 Min. FSK ab 12

22 Jahre nach dem Original „Jurassic Park" von Steven Spielberg, nach einem Buch von David Koepp und dem Roman von Michael Crichton, und 12 Jahre nach dem schwachen dritten Teil wird nun der große Dino-Hype wieder ausgegraben und mit noch mehr digitalen Tricks aufgefrischt.

„Jurassic World" ist sicherlich der vorhersehbarste Film der Dekade, denn dass auf der Isla Nublar mit seinem Dino-Freizeitpark etwas mit den Tierchen schief gehen wird, ist fast so sicher zu erwarten, wie eine eher dünne Handlung.

Zwei Jungs, deren Eltern die Scheidung vorbereiten, machen Ferien bei der gestresste Tante Claire (Bryce Dallas Howard), die Managerin von Jurassic World ist. Gerade als eine neue Genmutation - größer, stärker, klüger - ausbricht und erst die altmodischen Saurier und dann die Gäste jagt. Jetzt kommen auch noch privatwirtschaftliche Militärs (unter Führung von Vincent D'Onofrios trefflich intrigantem Anführer) zum Einsatz, die Velociraptoren als Verbündete einsetzen wollen. Ganz schlechte Idee!

Aber wenigstens mal eine Idee, denn das weitgehend humorlose Großtiergetrampel kann ansonsten nur mal mit einem futurischen Gyroscope-Gefährt als Bowlingkugel zwischen Saurierbeinen aufwarten. Erst ab der zweiten Hälfte gibt es wenigstens Spannung von der Stange mit nerviger Musik-Einpeitschung. Wenn auch immer wieder durch ein albernes, zerstrittenes Pärchen auf Rettungsmission (Bryce Dallas Howard, Chris Pratt) und Gequatsche gebremst. So füttert der altmodische Familien- und Spannungs-Film wenigstens halbwegs die gierige Bestie des Genrepublikums mit ein paar abgestandenen Fleischresten. Bis zum Finale auf dem Niveau von King Kong vs Godzilla.

Auffällig war im Vorfeld, dass der Produzent seinem Film selbst nicht traute und ihn bis zur letzten Minute geheim hielt. Er versuchte sogar, Kritiken vor dem Filmstart zu zensieren. Verständlich, denn weder Regisseur Trevorrow noch die Autoren sind bislang besonders aufgefallen. Chris Pratt war super in "Guardians of the Galaxy", aber hier als humorloser Warner und sensibler Dino-Flüsterer Owen ist er nahe an einer Lachnummer.

Mag auch der neue Held im prähistorischen Vergnügungspark großer, schneller, klüger und gemeiner als der T-Rex sein, der neue Film „Jurassic World" ist ein Zwerg im Vergleich zum historischen Giganten Spielberg. So darf letztlich T-Rex wieder herrschen.

Love Hotel

Großbritannien, Frankreich, Japan 2014 Regie: Phil Cox, Hikaru Toda 75 Min.

Das Angelo Hotel in Osaka ist eines von 37.000 Love Hotels in Japan, in die täglich 2,5 Millionen Menschen gehen. Es sind keine Bordelle, sondern die einzigen Orte, wo Paare, Geliebte und selbst Einsame aus der strukturierten Gesellschaft ausbrechen können. Hier lebt die japanische Gesellschaft ihre Liebe, Wünsche, Fantasien und Geheimnisse diskret und anonym aus. Entsprechend wird im packenden Dokumentarfilm von Phil Cox und Hikaru Toda nicht wie in den Filmen von Seidl („Im Keller") das Schräge, „Perverse" gesucht und vorgeführt. Hier betritt man respektvoll staunend eine Insel der Freiheiten inmitten einer streng reglementierten Gesellschaft. Mit einem Ehepaar treffen wir eine Auswahl der Themenräume auf der beleuchteten „Menükarte". Herr und Frau Sakamoto projizieren dort alte Pornos mit einem Super8-Gerät und erzählen von ihrer Liebe und Zeiten als das mit dem Sex noch besser klappte. Ebenso einfühlsam und zurückhaltend sind die Porträts eines alten Mannes, des schwulen Paares oder der Angestellten im Love Hotel. Selbst das der Domina zeigt sie als sehr verständnisvoller Mensch. Überhaupt ist der interessante und oft berührende Film sehr menschlich und dann auch hochpolitisch. Denn am Ende will wieder eine konservative Regierung auch die letzten Freiheiten unterdrücken und das Love Hotel muss schließen.

8 Namen für die Liebe

Spanien 2014 (Ocho Appelidos Vascos) Regie: Emilio Martínez-Lázaro mit Clara Lago, Dani Rovira, Carmen Machi, Karra Elejalde 99 Min. FSK: ab 6

Wie würde „Willkommen bei den Sch'tis" auf Baskisch lauten? Auf jeden Fall mit vielen X und K, die es im Norden Spanien genauso häufig gibt wie den Regen. Um die Klischees zu komplettieren, sorgen noch ein paar ETA-Scherze für bombige Stimmung. Damit ist der Ton gesetzt für diese interkulturell spanische Liebes-Komödie. Denn als sich der Kellner Rafa (Dani Rovira) in Sevilla erst mit der sitzengelassenen baskischen Braut Amaia (Clara Lago) prügelt und danach mit ihr im Bett landet, verliebt er sich auch noch in die Frau vom anderen Stern. So vom spanischen Horizont her gesehen. Und so bricht der nicht sehr weltgewandte Jüngling tapfer auf in den Norden zu der ruppigen Frau, die nicht mehr viel von ihm weiß und vor allem nichts von ihm wissen will.

Bis Amaias Papa Koldo (Karra Elejalde) überraschend im Hafen landet und den Bräutigam kennenlernen will, von dem er auf hoher See gehört hat. Nun soll Rafa mit rudimentären Kenntnissen des Baskischen einen statthaften Schwiegersohn mimen. Was er so gut macht, dass er sogar zum Anführer des Widerstands wird. Bestes Komödienmaterial also. Mit den üblichen Peinlichkeiten um den ruppigen Schwiegervater, ein paar Verwechslungsszenen, einer doppelten Portion Romantik und einem Happy End, das selbst die Verliebten ziemlich kitschig finden.

Es sind spezielle spanische Verhältnisse, bei denen einen die Telefongesellschaft nicht nur auf Kastillisch und Catalan, sondern auch Gallizisch und selbstverständlich Baskisch begrüßt - sonst gibt's Ärger! Das durchschaut der einfache Spanientourist nicht immer in Gänze, aber ihm erscheinen dabei auch ein paar der Platituden nicht ganz so platt. So unterhalten die „8 Namen für die Liebe", die im Original eigentlich acht Familiennamen sind, recht nett und sogar erdkundlich informativ.

Love & Mercy

USA 2014 Regie: Bill Pohlad mit John Cusack, Paul Dano, Elizabeth Banks, Paul Giamatti 120 Min. FSK: ab 6

„God only knows ...." - Gott allein weiß, was die hier machen wollten. Nun ist die Geschichte der „Beach Boys" ebenso faszinierend wie ihre Musik, die sich vom kalifornischen Surf-Sound der 1960er-Jahre hin zum epochalen Konzeptalbum „Pet Sounds" entwickelte.

Brian Wilson war der kreative Kopf der Familienband „Beach Boys" und ist der einzige Überlebende der drei Wilson-Brüder. Was schon ein Wunder ist, wenn man diesen Film sieht, der sich auf Brians Lebenskrise konzentriert und die Entwicklung der Band als Hintergrund-Geräusch mitlaufen lässt. Wir lernen Brian Wilson (John Cusack) Anfang der 90er-Jahre vor allem als psychisches Wrack unter totaler Kontrolle des ekligen Therapeuten Eugene Landy (Paul Giamatti) kennen. Genau wie die Autoverkäuferin Melinda Ledbetter (Elizabeth Banks), die sich in Brian verliebt und ihn schließlich aus der Medikamenten- und Therapeuten-Abhängigkeit rettet.

In Rückblenden zeigt „Love & Mercy" Brians Emanzipation von einem übermächtigen, prügelnden Vater, die Zweifel an all den genialen Einfällen, die heute Musikgeschichte sind. Oder eher krampfhaft die Entstehung von „Good vibrations" in noch so einem bunten Drogen-Rausch. Das Ergebnis allerdings bringt keine guten Schwingungen. Trotz des guten Spiels von Cusack als altem und der großartigen Darstellung von Paul Dano als jungem Brian Wilson. Viel Psychodrama, schlecht inszeniert und montiert. „This is the worst trip I've ever been on..." Da kann man nur den Seitenblick auf eine freie, poetische Wilson-Episode in „Grace of my heart" empfehlen. Es wäre also schön, wenn das Thema jemand noch mal anständig umsetzt... Wouldn't it be nice?!

9.6.15

Miss Bodyguard - In High Heels auf der Flucht

USA 2015 (Hot Pursuit) Regie: Anne Fletcher mit Reese Witherspoon, Sofia Vergara, Matthew Del Negro 88 Min.

Eine unterschätzte Polizistin darf erstmals raus aus dem Büro und trumpft beim Schutz einer Gangsterin groß auf. Diese Handlung gab es nicht nur bei „Spy" erst letzte Woche wieder mal, sie ist - freundlich gesagt - übersichtlich. Dass „Miss Bodyguard" trotzdem ein klasse Spaß wurde, liegt an den Hauptdarstellerinnen Reese Witherspoon und Sofia Vergara. Wobei vor allem Witherspoon mehr ist als das erfolgreiche Dummchen aus „Natürlich blond". Sie erhielt nicht nur 2006 den Oscar als Beste Hauptdarstellerin in der Johnny Cash-Bio „Walk the Line", sie produzierte sich daneben klug selbst in dem Aussteigerdrama „Der große Trip - Wild" sowie in „Mein Schatz, unsere Familie und ich" (2008) und „Penelope" (2006). Auch bei dem David Fincher-Thriller „Gone Girl - Das perfekte Opfer" hielt sie hinter den Kulissen Fäden in der Hand.

In „Miss Bodyguard" gibt Witherspoon die herrlich - oder weiblich - verschrobene Polizistin Cooper, deren tapferer Einsatz mit dem Elektroschocker gegen den Sohn des Bürgermeisters im Internet Funken schlug. Deshalb schiebt die Tochter eines Polizisten, die praktisch im Einsatzwagen aufwuchs, Dienst in der Asservatenkammer. Bis sie anstandshalber die Frau eines Kronzeugen aus dem Drogenkartell zum Gericht begleiten soll. Doch schon bald schießen sich gleich mehrere Gruppen gegenseitig über den Haufen, sodass Cooper mit der extremen Latina-Zicke Danielle Riva (Sofia Vergara, aus „Kiss the Cook") allein auf der Flucht vor Gangstern und korrupten Cops in Texas ist.

Witherspoon macht selbst aus albernen und blödsinnigen Sachen was Gutes. Sie gibt schon im Department eine super Witznummer, wenn ihre Polizistin Cooper nach dem Regelbuch der Ausbildung „wie ein kleiner Roboter" in Codes redet, die selbst Kollegen kaum verstehen. Auch draußen ist das Auto ein „persönliches Fahrzeug", was nicht nur Riva in den Wahnsinn treibt. Aber auch die Koks-Königin wird kräftig karikiert, wobei für beide Frauen gilt, dass sie immer ihre Würde und viel Stolz behalten. Wenn es eine detaillierte Beschreibung der Menstruation gibt, ist das mal eine Ekel-Einlage mit feministischer Klasse, weil sie Leben rettet angesichts zweier Killer mit Angst vor Körperflüssigkeiten. Das gleiche gilt für die lesbische Nummer mit der sie einem schießwütigen Farmer entkommen. Gemein ist wirklich nur der Running Gag, in dem bei den Fahndungsmeldungen die kurz gewachsene Cooper immer kürzer und Riva immer älter wird. Wie sich diese blondierten Thelma und Louise im Zickenkrieg bewähren, ist ein großer Spaß mit Stil und viel Frauen-Power. Was auch der bewährten Erfolgsregisseurin Anne Fletcher („Unterwegs mit Mum", „Selbst ist die Braut", „27 Dresses") zu verdanken ist.

Victoria

BRD 2015 R: Sebastian Schipper D: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff, André M. Hennicke, Anna Lena Klenke, Eike Schulz

Ein Weltrekord! 140 Minuten für eine ununterbrochene Szene! Das ist länger als Aleksandr Sokurovs „Russian Ark", die Endlosfahrt durch die Zeitgeschichte der Eremitage von St. Petersburg aus 2002. Und echter als die scheinbare Endlosfahrt in „Birdman", bei der viel digital getrickst wurde. In „Victoria", dem Wettbewerbsfilm der Berlinale 2015, ergeben 140 Minuten Sebastian Schippers („Absolute Giganten", „Mitte Ende August") faszinierenden Nacht-Trip durch Berlin.

Die ersten Bilder flashen mit Stroboskop und House-Music eines Clubs. Dann lässt sich Sebastian Schipper eine Stunde Zeit, um die enge Freundschaft von vier rauen Berliner Jungs miterleben zu lassen: Sonne, Boxer, Blinker und Fuß kennen sich schon ewig und halten immer zueinander - wie „Victoria" auf komische und tragische Weise zeigt. Doch zuerst geht es um die beginnende Anziehung zwischen dem sympathischen Sonne (Frederick Lau) und der spanischen Kellnerin Victoria (Laia Costa). Sonne ist ein einfacher Typ mit viel Herz, Straßen-Schläue und furchtbarem Englisch. Die spontane und lebenslustige Victoria hingegen wird sich als Flüchtling der eigenen Biographie erweisen, wenn sie am Klavier eine Brillanz hinlegt, deren jahrelange Aneignung ihr die Kindheit raubte.

Doch „Victoria" ist vor allem auch äußere Bewegung: Nachdem es ungeschnitten aus dem Club auf die Straße, auf ein Hochhausdach, in ein Kaffee ging, und man schon etwas den Drive von Schippers Debüt „Giganten" vermisst, beginnt nach einer Stunde ein knallharter Krimi, eine hochdramatische und romantische Geschichte, die jede Minute packt. Denn um eine alte Schuld vom Knasti Boxer zu begleichen, müssen die Freunde ein krummes Ding durchziehen. Weil einer von ihnen zu betrunken ist, soll ausgerechnet Victoria die Rolle der Fahrerin übernehmen. Was sie als ultimativen Bruch mit ihrer bürgerlichen Kinderstube sofort annimmt. Doch aus Spiel wird plötzlich Ernst, die Begegnung mit der schwer bewaffneten Gang von Gangster Andi (André M. Hennicke) ist beängstigend und atemberaubend. Doch noch längst nicht der Höhepunkt dieses bemerkenswerten Films.

Erstaunlich dabei, dass man den Weltrekord-Versuch glatt vergisst. Denn schon die Vorstellung, mitten in Berlin mehr als zwei Stunden Film an über 20 Sets ununterbrochen aufzunehmen, ist schweißtreibend. Wohl vor allem für den norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen. So kann man sich zwischendurch immer mal wieder fragen, ob der Passant oder dieser Polizei-Wagen geplant oder zufällig durchs Bild streifen. Nach zwei kompletten Durchgangs-Versuchen war Schipper mit der dritten Aufnahme für „Victoria" zufrieden.

Zu Recht: Das Spiel ist kraftvoll und lebendig, kleine Unfälle und Aussetzer werden spontan integriert. Trotzdem sind die Figuren exakt charakterisiert, die haltlos Jugendlichen aus dem echten Berlin, die Spanierin Victoria, deren Lebenstraum als Pianistin gerade gescheitert ist und die alles mitmacht. Es war angeblich der dritte und letzte Versuch, diesen einen „Take" auf die Festplatte zu bekommen. Ein origineller Aufmacher, ein nettes Alleinstellungsmerkmal. Doch ganz krass gesagt: Ein paar Schnitte hätten den guten Film noch besser gemacht!

8.6.15

Rico, Oskar und das Herzgebreche

BRD 2015 Regie: Wolfgang Groos mit Anton Petzold, Juri Winkler, Karoline Herfurth, Katharina Thalbach, Henry Hübchen, Ronald Zehrfeld, Moritz Bleibtreu 95 Min. FSK: ab 0

Mut und Klugheit können es ganz schön weit bringen - wenn diese Eigenschaften auf zwei sehr eigene Jungs verteilt sind, reicht es damit sogar zur tollen Filmtrilogie. „Rico, Oskar und das Herzgebreche", der zweite Film nach einem Roman von Andreas Steinhöfel, ist auf jeden Fall wieder ein außergewöhnlich gut gelungener Spaß für Klein und Groß.

In der „Dieffe 93", einer Straße in Berlin-Kreuzberg, wartet der zehnjährige „tiefbegabte" Rico Doretti (Anton Petzold) sehnsüchtig auf seinen hochintelligenten und hochneurotischen Freund Oskar (Juri Winkler), mit dem er letztes Jahr in „Rico, Oskar und die Tieferschatten" einen Kindesentführer überführte. Wegen dem „Inkoknito" hat der ängstliche Oskar seinen Helm abgelegt und versteckt sich nun hinter einer altmodischen, also nun wieder hippen Sonnenbrille. Da sieht man auch die Tränen nicht, denn der Kleine hat sehr damit zu kämpfen, dass ihn sein Vater loswerden will. Bei Rico und seiner herzlich chaotischen Mutter Tanja Doretti (Karoline Herfurth) ist der Zeit-Waise eigentlich gut aufgehoben. Würde das clever Kerlchen nicht bemerken, dass Mama Doretti beim Bingo betrügt!

Das ist dann wieder eine Aufgabe für das Detektiv-Duo aus blitzgescheit und tiefbegabt. Es entdeckt, dass Mama von der böse Bingo-Tante (herrlich fies: Katharina Thalbach) erpresst wird, geklaute Schlangenledertaschen zu verkaufen. Dabei braucht der sympathisch langsam denkende Rico immer noch seinen Kassettenrekorder als Gedächtnisstütze. Und auch die wunderbaren Wortkreationen des Autors Andreas Steinhöfel begeistern aus seinem Mund weiterhin. Da meint der Kleine auf die Frage, ob Mamas Job in der Nachtbar Mausefalle „verrucht" sei: „Mamas Geruch ist ganz okay, den haben wir aus der Parfümerie." Dass Rico immer nur Pizza Meeresfrüchte aus Rache an den Fischen isst, die angeblich seinen Vater gefuttert haben, ist ein weiteres Beispiel für den netten Humor, der den Film so herzlich macht.

Anton Petzold erweist sich als sehr guter Schauspieler für diese Rolle. Außerdem ist „Rico, Oskar und das Herzgebreche" ganz außergewöhnlich grandios besetzt bei den Erwachsenen: Da legt Henry Hübchen eine halsbrecherische Verfolgungsjagd als nicht mehr ganz Führerschein tauglicher Herrn von Scherten hin. Moritz Bleibtreu entdeckt als schielender, stotternder Gangster-Depp tatsächlich noch mal eine neue Facette seines Ausdrucksvermögens. Annette Frier flippt als Pizza-Kellnerin aus. Milan Peschel ist wieder der seltsame Nachbar, der Steine züchtet. Er wird wohl im dritten Teil eine größere Rolle spielen. Ronald Zehrfeld ist sowieso auch im Kinderfilm ein Knaller, was nicht nur die verliebte Nachbarin Tanja Doretti meint. Wenn ihre Kollegin mit klassischem osteuropäische Zungenschlag grammatikalisch naseweis meint: „Wenn ich habe die falsche Artikel, geh ich umtauschen im Supermarkt", dann ist das einer der vielen klasse Einfälle, die es auch für Erwachsene gibt.

So braucht man nicht bis zum sehr happy Ende für ein bis zwei gebrochene Herzen zu warten, um zu erkennen, das hier sehr viel Gutes zusammen kommt. Die schnelle Fortsetzung des letztjährigen Erfolges wurde sichtlich nicht übers Knie gebrochen. Die Regie übernahm nach Neele Leana Vollmar diesmal mit Wolfgang Groos („Systemfehler - Wenn Inge tanzt", „Die Vampirschwestern", „Vorstadtkrokodile 3", „Hangtime") ein richtig Guter, der sich auch mal eine schwindelerregende Vertigo-Variante im Treppenhaus erlaubt. Zwischendurch gibt es immer wieder nette animierte Zeichnungen und auch Lehrreiches in einem kleinen Trickfilmchen wie bei Artes „Karambolage". Auch wenn „Rico, Oskar und das Herzgebreche" etwas weniger dicht und spannend als der erfolgreiche Vorgänger erscheint, ist dieser herzliche Kinder- und Erwachsenenspaß um Freundschaft, Liebe, Tierliebe und Verantwortung immer noch ein Glückfall des deutschen Kinos.

2.6.15

Camino de Santiago

Schweiz 2015 Regie: Jonas Frei, Manuel Schweizer 86 Min. FSK: ab 0

„Ich bin dann mal weg" sagen auch immer mehr Filmteams und stehen sich dann wahrscheinlich ziemlich auf dem Jakobsweg im Weg. Die Schweizer Filmemacher dieser Dokumentation versuchen es mit Blitzinterviews von der Strecke. Das ist zwar nicht ganz so atemlos wie die Kurz-Verhöre von Sportlern direkt nach Abpfiff, aber das Missverhältnis zur eigentlichen Sache ist ähnlich: Während sich Menschen auf vorsätzlich langen und besinnlichen Wegen befinden, sollen kurze Gespräche die Essenz davon einfangen. Das ergibt ein internationales Kaleidoskop an Motiven, vom sportlichen bis zum - seltenen - spirituellen. Stichworte sind Scheideweg oder „Reset" des Lebens. Die Kameras zeigen dazu immer wieder Wege und Landschaften, Stadtansichten. Besonders stolz ist der nur mäßig interessante Film auf seine Luftaufnahmen, die nett aussehen, aber keine Vertiefung irgendeines Themas ergeben.

Die behauptete Bescheidenheit der Pilger legt der Film hier selbst nicht an den Tag. So irritiert auch, dass viele Gespräche wohl gleich mit zwei Kameras aufgenommen wurden. Das Team machte sich selbst zu viert mit Fahrrädern auf den Weg. Die Gerätschaften für die Luftaufnahmen waren auch dabei. Insgesamt also eher Über- als Einblick.

Das eindimensionale Ergebnis enthält so gut wie keinen historischen, soziologischen oder sonst irgendeinen Hintergrund. Nur ein paar kritische Worte zum Ende hin, wenn angesichts überfüllter Herbergen der inflationäre Jakobsweg-Tourismus beklagt wird. Die einfachen Eindrücke, von denen es sehr viele gibt, können kaum interessieren, geschweige begeistern. Dafür kann die Musik mächtig nerven.

Die Mafia mordet nur im Sommer

Italien 2013 (La Mafia uccide solo d'estate) Regie: Pierfrancesco Diliberto mit Cristiana Capotondi, Pif, Alex Bisconti, Ginevra Antona 90 Min.

In Palermo verläuft das Leben immer etwas anders - so beginnt Arturo (Pif) die Geschichte seines Lebens mit einer überzeugenden Szene seiner Zeugung, die parallel mit einer heftigen Mafia-Schießerei ein paar Etagen tiefer verläuft. Da wundert es nicht, wenn das erste Wort, das der Kleine sagt, Mafia lautet! Die allgegenwärtige Cosa Nostra, die übrigens nie was mit den vielen Morden in der Stadt zu tun hat - da stecken immer nur Frauengeschichten dahinter, meint der Volksmund. Der kleine Arturo schließt daraus: In Palermo werden Männer umgebracht, wenn sie Frauen lieben. Eine tödliche Bedrohung für den pubertierenden Knaben, vor allem als die neue Mitschülerin Flora auftaucht.

Die autobiografisch eingefärbte Lebensgeschichte des sizilianischen Fernsehmoderators, Regisseurs, Drehbuchautors und Schauspielers Pierfrancesco Diliberto ist im Sizilien der 80er Jahre humoristisch aber auch unausweichlich mit der Cosa Nostra verbunden. Als Arturo den Aufsatzwettbewerb der Schule gewinnt, wird die Preisverleihung abgebrochen, weil die Mafia den Parteichef der PCI ermordet hat. Und der freundliche Staatsanwalt aus dem Haus von Flora wird ebenso Opfer eines Bombenattentats wie schließlich 1992 der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone. Diese verheerende Explosion erschüttert dann aber alles im Film und im Leben. Die Sizilianer haben mittlerweile die Mafia wahrgenommen und protestieren in großer Zahl gegen sie. Und endlich fügt sich für Arturo die lange, lange Romanze um Flora...

Selbst ohne genauere Kenntnisse der italienischen Politik bereitet diese ernste Parodie furchtbarer Zustände viel Vergnügen. Wenn sich Arturo bei einem Kostümfest als (der mafiös verstrickte) Ministerpräsident Andreotti verkleidet, ist das ebenso schrecklich schräg wie die haarsträubende Art der Mafia, mit Problemen der Ehe-Ehre umzugehen: Da hat sich einer von ihnen in eine Tochter mit geschiedenen Eltern verliebt, was streng verboten ist. Aber dann bringen wir doch einfach den Vater um, dann ist die Frau als Halbwaise wieder ehrenwert! Der Humor von „Pif", der sich selbst spielt, ist immer wieder „treffend" und doppelbödig. Auch wenn die Lebensgeschichte des engagierten aber naiven Journalisten im Tonfall des Narren keine Überraschungen parat hat. Aber wenn sich diese einfache, raffiniert mit dem Politischen und mit dokumentarischen Aufnahmen verknüpfe Tragikomödie, mit den Mahntafeln des Kampfes gegen die Mafia vollendet, dann hat man diese schreckliche und Mut machende Chronologie tatsächlich ein Stück mitgelebt. Pierfrancesco Diliberto, erhielt 2014 dafür den Europäischen Filmpreis in der Kategorie Beste Komödie.

Parcours d'Amour

BRD 2014 Regie: Bettina Blümner 81 Min. FSK: ab 0

Die letzten Gigolos dümpeln nicht nur auf Kreuzfahrt-Bunkern herum, auch in Pariser Clubs bieten sich vor allem ältere Herren als Tanzpartner an. Nach ihren ausgezeichneten Dokumentationen „Prinzessinnenbad" und „Scherbenpark" lernt man mit der Regisseurin Bettina Blümner nun agile Menschen einer erstaunlich unabhängig denkenden Senioren-Generation kennen. Da ist auf der einen Seite der gepflegte Tanzabend, für den sich der „Taxiboy" Michel locker 200 Euro plus Nebenkosten zahlen lässt. Daneben begleitet Blümner ihre Herren und Damen auch „privat", erfährt von aufdringlichen Männern, die sich auch mit 70 oder 80 Jahren noch nicht binden wollen. Aber auch von der erstaunlichen Beziehung dieses strengen Supertänzers Michel, der ganz offen von schwieriger Kindheit erzählt. „Parcours d'Amour" gewährt einen reizvollen, unverstellten Einblick in diese reife Tanz-Clique, der seinen Menschen sehr nahe kommt.

1.6.15

Kind 44

USA, Großbritannien, Rumänien, Tschechien 2015 (Child 44) Regie: Daniel Espinosa mit Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman, Vincent Cassel 138 Min, FSK: ab 16

Irgendwann wird es in der Kulturgeschichte des Möchtegern-Zaren und Kriegsherren Vladimir Putin (Tschetschenien, Georgien, Ukraine) eine Fußnote zum Film „Kind 44" geben. Denn ohne die Mithilfe des speziellen Freundes von Depardieu, Blatter und Schröder würde dieser mittelmäßige historische Krimi niemals so viel Aufmerksamkeit bekommen. Was zahlt Hollywood eigentlich den Diktatoren für einträchtige Verbotsaktionen wie bei „The Interview" in Nord-Korea oder jetzt mit „Kind 44" in Russland?

Anfang der Fünfziger Jahre überzieht Stalin die Sowjetunion mit einer letzten, im Vergleich zum Großen Terror der Dreißiger, kleinen „Säuberungswelle" mit „nur" tausenden und nicht Millionen Opfer. Doch als der Sohn des Geheimdienst-Offiziers Alexei Andreyev (der Schwede Fares Fares) in Moskau ermordet wird, muss es ein Unfall gewesen sein, weil es im Arbeiterparadies der Stalinzeit keine Verbrechen geben darf. Wassilis Freund und Kollege beim inneren Geheimdienst NKWD Leo Demidow (Tom Hardy) unterstützt wider besseres Wissen und aus Angst vor dem allgegenwärtigen Überwachungs-Terror die Lüge. Wenig später, als sie wieder einen Unschuldigen verhaftet und der Folter überlassen haben, denunziert der anscheinend Leos Frau Raisa Demidow (Noomi Rapace). Doch den Verrat an der Geliebten, diesen Loyalitäts-Beweis verweigert der Held der Sowjetunion. Das Paar wird in eine ferne Arbeiterstadt deportiert, Raisa von Lehrerin zur Putzfrau und Leo zum Hilfspolizisten degradiert. Der neurotische und intrigante Wassili (Joel Kinnaman) hat nun Leos Posten, will aber mehr. Doch die Kindermorde setzen sich fort, auch am Ort von Leos Verbannung....

Was für eine gute Idee, die Gewalt eines unfassbar grausamen Staates in den Gewalttaten gegenüber wehrlosen Kindern zu spiegeln! Denn sowohl Leo als auch der Täter sind auch sträflich vernachlässigte und geschundene Waisen. Nur dumm, dass der Historienfilm „Kind 44" diese Historie aus den Augen verliert. Dass Leo unbedingt einer der Rotarmisten mit der Fahne auf dem Reichstag sein muss, ist dabei ohne weitere Funktion weit hergeholt.

Der schwedische Regisseur Daniel Espinosa („Safe House", 2012) erzählt mit einer nicht stringenten Überfülle von ziellos eindringlichen Szenen vom Staats-Terror, von der Jagd auf einen Serien-Mörder und von einer schwierigen Liebesgeschichte unter Terror-Angst. Das poltert munter durcheinander, Tom Hardy stapft nur stoisch mit hoch rasierten Haaren und seinem typischen schiefen Kopf durch die Handlung. Der schwedische „Millennium"-Star Noomi Rapace („The Drop", „Babycall") wirkt als blonde Russin dauernd deplatziert. Wobei gerade das Drama ihrer Figur Raisa viel Potential hat. Heiratete sie doch den verliebten und ungeheuer naiven Geheimdienst-Offizier Leo nur aus Angst, weil man solchen Leuten im Terror-Staat nicht Nein sagen darf. Erst seine Weigerung, sie zu verraten, kann ihr Herz langsam erweichen und macht sie zur Partnerin im Kampf um Leben und Tod.

Doch so wie die Gewalt im äußerlich düsteren „Kind 44" auffällig unübersichtlich montiert wird, verlieren sich die großen Gedanken und Themen im Gewühl der Ereignisse. So bleibt nicht mal eine Ahnung vom Leben in einem Land voller Denunzianten, der Täter ist weder bedrohlich noch tragisch. Und dass am Ende unter viel Rührung wenigstens zwei Waisen ein besseres Zuhause bekommen sollen, erscheint ebenso aufgesetzt wie die Psychologie beim Geständnis.

So ist das Interessanteste an „Kind 44" letztlich, wie einen viele gute Schauspieler (Tom Hardy, Noomi Rapace, Gary Oldman, Vincent Cassel...), eine außerordentliche Epoche, ein historischer Mordfall und eine besondere Liebesgeschichte letztlich unbewegt und ratlos zurücklassen. Doch der Schuldige steht fest: Putin mit seinem Verbot des Films.