31.3.15

Die Reise zum sichersten Ort der Erde

Schweiz 2013 Regie: Edgar Hagen 104 Min. FSK: ab 0

Da hat tatsächlich jemand Angst, dass die Nuklear-Energie „aussterben" könnte! Doch selbst dieser Spinner muss sich Sorgen um den Atommüll machen: „Die Reise zum sichersten Ort der Erde" verfolgt so sachlich, wie man bei diesem Wahnsinn bleiben kann, die ziellosen Wege des radioaktiven Abfalls. Sowie die eher kläglichen oder skrupellosen Versuche, sie zu lagern. Dazu kommen „Experten" zu Wort, also gut bezahlte Wissenschaftler, die wissen, dass in den nächsten hunderttausenden Jahren an den entsprechenden Lagerstätten der strahlenden Ewigkeits-Lasten nie was passierend wird.

Die Weltreise dieses Dokumentarfilms führt zu besonders originellen Lösungen: Bei Yucca Mountain im US-Staat Nevada sollte die strahlende Zeitbombe direkt neben einem jungen Vulkan gelagert werden. Sehr schön auch die Antwort auf ein Projekt, britischen und Schweizer Müll in Australien zu vergraben: Dort hülfen sie gerne ... das Zeugs bei den Leuten zu entsorgen, die es produziert haben.

So wird über fast zwei Stunden mehr oder weniger unterhaltsam ausgemalt, dass es kein Endlager, also keine Lösung für das Konzept Kernenergie geben kann. Was die Leute, die diesen Film sehen werden, wohl auch schon vorher wussten. Während alle Energiekonzern-Saurier, die immer noch auf Kosten der Ewigkeit Milliarden verdienen wollen, das weiterhin nicht interessiert.

Das blaue Zimmer

Frankreich 2014 (La chambre bleue) Regie: Mathieu Amalric mit Mathieu Amalric, Léa Drucker, Stéphanie Cléau, Laurent Poitrenaux 76 Min.

Dramatische Musik, lustvolle Schreie und eine nüchtere Frage aus dem Off. Die Bilder inniger Umschlingungen setzen sich fort, während ein Verhör Details dieser Affäre offenlegt: Julien Gahyde (Mathieu Amalric) und die attraktive Apothekerin Despierre (Stéphanie Cléau) hatten seit elf Monaten ein außereheliches Verhältnis, sahen sich in der Zeit exakt acht mal in diesem Hotelzimmer mit den blauen Wänden, so lautet die nüchtern kalte Bilanz des Verhör-Protokolls. Im Gegensatz zu den sehr sinnlichen und erotischen Ausschnitten vom nackten Paar, findet sich Julien Gahyde später in einer kalten Gefängniszelle. Scheinbar wurden seine im Rausch der Lust gesprochenen Worte zu ernst genommen - würdest du für immer mit mir zusammen bleiben, wenn mein Ehemann nicht mehr wäre?

„Das blaue Zimmer", die Verfilmung eines uneigentlichen, 50 Jahre alten Krimis von Georges Simenon, erzählt sich über eine enorm faszinierende, wie im Roman nicht chronologische Folge von Ereignissen und Erinnerungen, eine grandiose Montage von Bild- und Tonspur. Mathieu Amalric, sowohl großartiger Schauspieler („Grand Budapest Hotel", „Venus im Pelz", „Ein Quantum Trost") wie Regisseur (beim Burlesque-Ensemble „Tournée"), hält sich bei der Verkörperung des verhaltenen Julien Gahyde zurück. Die ruhige Körperlichkeit vertraut auf das feine Spiel der Mimik. Gahyde tritt Polizisten, in der Haft einem Psychologen und dem Untersuchungsrichter fast regungslos gegenüber, obwohl mittlerweile zwei Leichen für einen großen Skandal sorgten. Selten sah man auch einen Gerichtsprozess impressionistischer und kurzweiliger. Dabei bleibt die Spannung, was genau passiert ist und wer es getan hat, immer präsent. „Das blaue Zimmer" ist großes Kino in kompakter Form: Nur 76 Minuten dauert dieses intensive Drama und wieder zeigt sich, dass Filmkunst nicht von Größe oder Länge abhängt.

30.3.15

Every Thing Will Be Fine

BRD, Kanada, Frankreich, Schweden, Norwegen 2014 Regie: Wim Wenders mit James Franco, Charlotte Gainsbourg, Rachel McAdams, Marie-Josée Croze, Robert Naylor, Patrick Bauchau, Peter Stormare 118 Min. FSK: ab 6

Das Blöde an den Film-Göttern ist oft, dass sie zu Lebzeiten noch neue Filme machen. Wim Wenders ist so eine Regie-Legende, die weltweit verehrt wird, aber auch immer mal für schwächere Werke einen drüber bekommt - siehe „Palermo Shooting". Zur Zeit hat er allerdings einen echten „Lauf": Nach dem 3D-Tanzgenuss „Pina" begeisterte auch die nächste Doku, „Das Salz der Erde" über den Fotografen Salgado. Nun kehrt Wenders mit „Every Thing Will Be Fine"wieder in seine alte Sehnsuchts-Heimat Amerika zurück. Mit den Stars James Franco, Charlotte Gainsbourg sowie Rachel McAdams, einer raffiniert ausgespielten Spielfilm-Handlung von Schuld und verweigerter Sühne. Dazu noch einmal atemberaubend neue und gute 3D-Bilder.

James Franco, sehr gehypter US-Star, überzeugt bei Wenders als Schriftsteller, der bei winterlicher Autofahrt seinem Handy zu viel Aufmerksamkeit schenkt und dann ein Kind überfährt. Wobei schon das Vorspiel und der Unfall „Every Thing Will Be Fine" zu etwas ganz anderem als zu einem dieser Schuld verzehrten Dramen (Glasers „Gnade" oder „Layla Fourie") machen.

Francos Tomas Eldan erwacht in einer Fischerhütte auf einem Eissee, in die er sich zurückzog, um ein neues Buch zu schreiben. Mit dem es nur mäßig läuft, wie aus den Telefonaten mit der Freundin deutlich wird. Auf der Heimfahrt führen Wetter, eine Umleitung und die Handy-Unsitte zur Tragödie. Deren Entdeckung uneigentlich wie überraschend aus einer anderen Ecke kommt. Ein erzählerisches Gefühl, das man noch ein paar Mal erleben wird.

Nach dem ersten Schrecken nimmt Tomas den kleinen Christopher, der verstört vor dem Auto im Schlitten sitzt, an die Hand und führt ihn erleichert zu dem einsamen Haus oben auf dem Hügel. Christophers Mutter Kate öffnet die Tür und erst dann springt uns aus dem Gesicht von Charlotte Gainsbourg die entsetzliche Erkenntnis an, dass noch ein kleiner Bruder auf dem Schlitten war...

„Every Thing Will Be Fine" hält sich vor den folgenden Gefühlen auf Distanz, so wie auch Tomas Eldan zum Geschehen, seiner Frau, zur Familie distanziert bleibt. Immerhin gelingt ihm nach dem Unfall ein erstaunlich gutes Buch, nach langer Zeit ein weiterer Erfolg. Sollten nun Kate und Christopher Tantiemen verlangen? Das ist grob verkürzt ein Teil der ungewöhnlichen Schuld-Thematik des fesselnden Films, der über viele Jahre diesem sehr verschlossenen Schriftsteller und seinen Beziehungen zu den Mitmenschen folgt. Begleitet von der Musik Alexandre Desplats, die einen Krimi vorgaugelt, der sich tatsächlich nie ergibt.

Immer wieder gibt es magische 3D-Bilder, tanzen Staub oder Schneeflocken in der Unschärfe der Handlung. Dann in der Café-Fassade noch ein Hopper-Zitat, auch in Spiegelungen und dem Spiel mit Weite und Tiefe reizt Wenders die Bild-Möglichkeiten aus. Die zeitweilige Annäherung zwischen Unfall-Fahrer Tomas und Kate, der Mutter des Opfers, erfolgt - während eines Telefonates - auf bislang nie erlebte Weise im Bild. Wenders, der immer begeistert technische Möglichkeiten aufgegriffen hat, nutzt 3D hier im Gegensatz zu allen anderen nicht für Jahrmarkts-Effekte, sondern für eine neue Dimension der Bild-Poesie. Oft wie ein Thriller orchestriert, in reizvollem 3D inszeniert, erlebt man bei „Every Thing Will Be Fine" letztlich angenehm undramatisch, wie ein schweigsamer Schriftsteller nur langsam mit seiner Schuld leben lernt.

Best Exotic Marigold Hotel 2

USA, Großbritannien 2014 (Second Best Exotic Marigold Hotel) Regie: John Madden mit Judi Dench, Maggie Smith, Bill Nighy, Dev Patel, Richard Gere 123 Min. FSK: ab 0

Acht Monate sind im Film vergangen, seit sieben aus unterschiedlichen Gründen perspektivlose britische Rentner das Best Exotic Marigold Hotel im indischen Jaipur übernahmen. In „Echtzeit" vergingen vier Jahre, seit der Film „Best Exotic Marigold Hotel" Herzen und Publikum eroberte. Der hektische, oberflächliche Nachfolger macht nun alles falsch, was einst in der Senioren-Komödie gelang. Trotz Richard Gere als Hotelgast, ist dies nicht das zweibeste, das „Second Best Exotic Marigold Hotel" (wie der Originaltitel schon warnt), es ist das „Worst Exotic Marigold Hotel", das schlechteste!

Den nur leicht makabren morgendlichen Apell des jungen, indischen Hotelmanagers Sonny Kapoor (Dev Patel) gibt es noch: Er prüft die Gäste-Liste des Senioren-Hotels Best Exotic Marigold, um sicher zu gehen, dass alle die Nacht überlebt haben. Während man nun den Geschichten der britischen Gäste folgen könnte, die es mit einer mutigen Lebenswende hierhin geführt hat, übernimmt sehr befremdlich Sonny die Hauptrolle. So ist der ganze Film in Kapitel unterteilt, die sich an den Schritten zu seiner bevorstehenden Hochzeit entlang hangeln. Darunter werden eine dumme Eifersucht auf den reichen Freund seines zukünftigen Schwagers sowie die Bemühungen, ein zweites Hotel zu akquirieren gemischt.

Ganz vergessen werden die Alten selbstverständlich nicht: In einer eher hektischen Montage macht Judi Denchs Figur Evelyn Greenslade weiter Karriere und soll Geschäftsführerin einer Stofffabrik werden. Irritierend für Douglas Ainslie (Bill Nighy), dem schüchtern in Evelyn Verliebten. Muriel Donnelly (Maggie Smith) sorgt sich um den Fortbestand des Hotels und verschweigt Probleme mit der eigenen Gesundheit. Ein Nachbar befürchtet, er habe betrunken einem Tuktuk-Fahrer mit dem Mord an seiner Frau beauftragt. Madge Hardcastle (Celia Imrie) kann sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden. Sie würde allerdings auch den amerikanischen Gast Guy Chambers (Richard Gere) nehmen, der neu eincheckt und Sonnys Mutter den Hof macht. Der hektische und wirre Inder vermutet dabei hinter dem angeblichen Dichter einen Tester einer einflussreichen Hotelkette. Mit dem üblichen Theater solcher komödiantischen Verwechselungen.

Nein, die Marigold-WG der „Golden Agers" wirkt nicht wirklich glücklich. Aber irgendwie lassen einen ihre kleinen Problemchen seltsam kalt. Hier geht es nicht um die große Lebenserkenntnis wie im ersten Teil. Von ihr sind nur noch ein paar kluge Sätze fürs Poesiealbum übrig geblieben. Dazu gibt es Exotismus mit den Bollywood-Tanzeinlagen zur Hochzeit. Und vor allem Richard Gere, nach dessen Auftritt - mit dem der Amerikaner andere richtig blass aussehen lässt - alles endlich ruhiger und emotionaler wird.

Mit dem „Second Best Marigold" wurde zu rasch ein Nachfolger produziert. So schaut man mit lachendem und weinendem Auge auf eine schöne Idee, die ausgerechnet von John Madden, dem Regisseur des ersten „Marigold", verhunzt wurde. Es bleibt zu hoffen, dass weder Sonny noch die Produzenten, jetzt eine Hotel-Kette hochziehen wollen.

Gespensterjäger - Auf eisiger Spur

BRD, Österreich, Irland 2014 Regie: Tobi Baumann mit Milo Parker, Anke Engelke, Christian Tramitz, Karoline Herfurth, Julia Koschitz, Christian Ulmen 99 Min. FSK: ab 6

Die Erfolgsjäger vom deutschen Film haben eine Menge in Bewegung gesetzt, damit die Funke endlich überspringt: Nein, lieber Redakteur, kein Kasus-Fehler. Die Romane von Cornelia Funke landeten zwar - unter anderem mit „Tintenherz", „Die wilden Hühner ", „Hände weg von Mississippi"- recht gut in deutschen Kinos, doch nun reden Anke Engelke, Christian Tramitz und Christian Ulmen sichtbar englisch, um den internationalen Markt für die Kinder- und Jugendgeschichten der Erfolgsautorin zu erwärmen. Die erste Verfilmung der „Gespensterjäger"-Buchreihe ergibt nur anfangs einen flotten Abenteuerfilm um ein Eis-Monster, das später an zu vielen Sentimentalitäten zugrunde geht.

Nach einem kleinen Indiana Jones-Teaser erleben wir in flotter Parallel-Montage gleichzeitig, wie Anke Engelke als eigenwillige Geisterjägerin Hedwig Kümmelsaft bei der „Men in Black"-Kopie namens CGI gefeuert wird und wie ausgerechnet der besonders ängstliche 11-jährige Tom Tomsky (Milo Parker) auf ein echtes Gespenst trifft. Das grüne und schleimige MUG (mittelmäßig unheimliches Gespenst) heißt Hugo und wird von Bastian Pastewka gesprochen. Nach dem üblichen, hier aber noch unterhaltsamen Hin und Her bilden der doch abenteuerlustige Tom, die ruppige, pädagogisch ungeeignete Kümmelsaft und das ängstliche Gespenst Hugo ein unzertrennliches Team gegen einen vorzeitlichen Geist, der mit neuerlicher Eiszeit droht.

Der humorversierte Regisseur Tobi Baumann („Der Wixxer", „Vollidiot") versetzt gute deutsche Darsteller und englischsprachige Kinder in einen Mix aus „Ghostbusters"-Bewaffnung und „Man in Black"-Büros. Anke Engelke übernimmt in unmöglicher Zottelfrisur und Lederjacke souverän den Part von Alien-Jägerin Sigourney Weaver. Trotz internationaler Ambitionen bleiben die paar Effekte eher dezent, obwohl die Gespensterjäger-Organisation CGI heißt, was im der Filmbranche für „Computer-Generated Imagery" steht, also Bilder aus dem Computer. Eigentlich könnte man deshalb auf gute alte Figurenzeichnung bauen, doch nach unterhaltsamen, dichten Start der Handlung, lässt das klamaukige Trio mächtig nach und hängt zu lange am emotionalen Tiefpunkt rum. Das Abenteuer versinkt in Sentimentalitäten, dabei hätte es die eingängige Moral, dass Freundschaft sogar Eiszeiten erwärmen kann, schon getan. Und jetzt nervt das nicht lippensynchrone Gejammer und Geplapper endgültig.

25.3.15

Tod den Hippies!! Es lebe der Punk

BRD 2014 Regie: Oskar Roehler mit Tom Schilling, Wilson Gonzalez Ochsenknecht, Emilia Schüle, Frederick Lau, Hannelore Hoger 105 Min. FSK: ab 16

Oskar Roehler könnte man als den deutschen François Ozon bezeichnen: Man ahnt nie, was einen da als nächstes von der Leinwand anspringt. Ohne Angst, anzuecken, verfilmte er ebenso Michel Houellebecqs „Elementarteilchen" wie selbstzentriert seine eigene Familie in „Die Unberührbare". Dazu ein eigener Blick auf deutsche Geschichte in „Jud Süss - Film ohne Gewissen" und zuletzt in „Quellen des Lebens". Nun also die Hippies und Punks und die 80er Jahre: Beim nicht zimperlichen „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk" erinnert man sich plötzlich, dass Roehler in den 90ern die Bücher für Schlingensiefs trashige „Die 120 Tage von Bottrop", „United Trash", „Terror 2000 - Intensivstation Deutschland" schrieb. Um den Bogen zu komplettieren, wenn jemand Rainer Werner Fassbinder beerbt hat, dann dieser Roehler...

Anfang der 80er haust der Schüler Robert (Tom Schilling) in einem süddeutschen Internat: Das Lehrerzimmer sieht aus wie eine Kommune voller Kiffer. Auch der Rest ist großartig überzeichnet mit Sannyasins auf dem Flur und dem schwulen Neonazi Gries (Frederick Lau) als Freund. Mit dem Schlachtruf „Ich bin jung, ich will ficken und Drogen nehmen!" bricht das junge Alter Ego Roehlers in ehemalige West-Berlin auf. Ins Milliardengrab des westdeutschen Steuerzahlers, wo man samt aller denkbaren Pauschalen 1440 Mark Sozialhilfe bekommt, weil der Beamte ein Kunde in der Peepshow des Freundes Schwarz (Wilson Gonzalez Ochsenknecht) ist. So putzt der angehende Literat mit Kafka in der Tasche Kabinen voller Sperma, verliebt sich in die drogenabhängige Stripperin Sanja (Emilia Schüle) und klaut dem besonders wahnsinnigen Vater ein paar Hunderttausend, die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin bei ihm bunkerte. Dann geht ein großer Drogendeal schief und auch das Treffen mit Fassbinder klappt nur beinahe.

Doch derartige Nacherzählung greift bei einem von Anfang an prallen, deftigen und heftigen Film-Ereignis überhaupt nicht. Zahlreiche irre Szenen müssten im Detail mit allen Zitaten, Querverweisen und Cameo-Auftritten nacherzählt werden. So übernimmt im Hintergrund ein Amokläufer die Schule als Robert das Internat in Richtung Berlin verlässt. In der Peep-Show legen Blixa Bargeld (Alexander Scheer) und Nick Cave ihr frisch aufgenommenes Tape auf, später spielt sich ein großer Teil des Lebens- und Drogen-Wahns in Bargelds Kreuzberger Bar „Risiko" ab. Eine herrlich inszenierte Leere des Koks-Trips kontrastiert mit dem Bürgersteig voller Kotzender davor.

Bei all diesem wunderbaren erzählerischen und inszenatorischen Krawall bleibt Roehler sehr genau und aufmerksam: Die Neonazi-Verwandtschaft vom Punk zeigt er ebenso den orthodox jüdischen Schüler, der selbst beim pillenverseuchten Macho-Hippie die Tafel putzen muss. Doch wieder kann die Zusammenfassung den Reichtum Roehler nicht fassen. Denn dieser deftige Adoleszenz-Teil einer Lebensgeschichte mit sicherer Fortsetzung ist keiner dieser freundlich weichgespülten Rückblicke und nichts für Zartbesaitete. Hier herrscht wirklich noch der Punk, hier springt einem der Zeitgeist direkt an. Subjektiv gefiltert zwar, aber weiterhin herrlich heftig.

Mit klasse Schauspielern (Ausnahme: Ochsenknecht), noch besseren Kurzauftritten (Götz Otto, Rolf Zacher, Oliver Korittke) wie bei Fassbinder, den unerlässlichen Dramen mit den ausgesucht fiesen Eltern, tollen Songs der Zeit (von „This is not a love song" bis „Marmor, Stein und Eisen bricht" in der Kotz-Szene), grandiosen Dialogen und schamlos drastischen Szenen ist „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk" vielleicht nicht Jedermanns Sache. Aber erneut ein sehenswerter Beweis für Roehlers wahnsinnig reiche Schaffenskraft.

24.3.15

Der Nanny

Regie: Matthias Schweighöfer mit Matthias Schweighöfer, Milan Peschel, Joko Winterscheidt, Andrea Osvárt, Paula Hartmann

Das Leben läuft nicht immer so wie man sich das vorstellt ... schwafelt der in keiner Hinsicht schweigsame Schweighöfer schon im Vorspann nichtssagend. Ja, Herr Möchtegern-Regisseur, ich hab mir auch nicht vorgestellt, dass dieser schöne Kritiker-Beruf Tiefpunkte wie einen Schweighöfer-Film mit sich bringt.

Der Holzhammer kommt nicht zur Ruhe in diesem Nano-Filmchen. Gleich zu Anfang schlägt er als Abrissbirne in die Wohnung von Rolf (Milan Peschel), der sich an seinem Kühlschrank festgekettet hat: Klar und doppelt und dreifach klar: Der glatte Immobilien-Spekulant Clemens (Matthias Schweighöfer) reißt ein Viertel „voller Hartz 4-Empfänger" nieder, um luxuriöse Hochhaus-Wohnungen hinzusetzen. Und der wütende Rolf bekommt auf dem Schloss der schauspielerischen Abrissbirne Clemens dank dessen endloser Ignoranz statt Rache einen Job als Nanny. Nun sollte was mit garstigen Kindern losgehen, aber das vergisst der Film im verzweifelten Bemühen, mit viel Aufwand Langeweile zu verbreiten. Trotzdem war schon immer alles klar: Rolf unterwandert die Super-Reichen und „dreht" zuerst die vernachlässigten Kids, dann Clemens, damit der Fischer-Kiez weiter vor sich hinsumpfen kann.

Denn auch klassenkämpferisch funktioniert hier rein gar nichts. Weil - wer bekommt wohl letztlich die Sympathien? Der beschränkte, lustige Sonderling mit den Klamotten aus der Altkleidersammlung? Oder der dünne Typ, der mit Luxuswagen rumprollt und Geldscheine um sich wirft?

In „Der Nanny" versucht ein Schönling ohne Charisma ein Geld-Ekel zu spielen und dieses Regie-Konzept des nur in Ansätzen so Scheinens drückte Schweighöfer allen anderen auf. Selbst Milan Peschel, der alles spielen könnte, darf allein beschränkt Clownereien verbreiten. Schweighöfers inszenatorische Talent überträgt sich auch auf alle anderen Gewerke, so dass man etwa bei der Ausstattung nur ahnt, dass jemand Reichtum vor die Kamera bringen wollte. Die Handlung schleicht sich mühsam und holperig über den vorhersehbaren Weg. Begleitet von der großen Frage: Wer gibt diesem Mann Geld für Filme und zudem noch eine Rolle?

Verfehlung

BRD 2014 Regie: Gerd Schneider mit Sebastian Blomberg, Kai Schumann, Jan Messutat, Sandra Borgmann 95 Min. FSK: ab 12

„Sie haben was nicht mitgekriegt", so lautet die Kernaussage in diesem Vergewaltigungs-Drama um einen Priester. Sebastian Blomberg macht die unglaubliche Naivität seiner Figur Jakob glaubwürdig, die langsam aber doch wahrnimmt, was sein Freund und was seine Kirche verbrechen.

Drei entspannte junge katholische Priester saufen in der dritten Halbzeit nach dem Fußballspiel: „Jetzt sind wir am Drücker" feiern sie die Beförderung von Oliver (Jan Messutat). Was sie mit ihrer Verantwortung anfangen, riecht allerdings sehr nach altem Kirchenmuff. Für Jakob völlig überraschend wird sein Freund Dominik (Kai Schumann) verhaftet. Der soll in der Jugendfreizeit einen schutzbefohlenen Jungen sexuell angegriffen haben. Jakob, von Hauptdarsteller Blomberg weich und sensibel, aber auch naiv angelegt, sollte eigentlich als Gefängnispfarrer Erfahrung mit Sexualstraftätern haben. Doch als Priester wird er selbst für die hartgesottenen Verbrecher unglaubwürdig. Ausgerechnet sie sagen ihm klar, wie verachtet der Priesterstand mittlerweile ist.

Mit wachsendem Zweifel handelt Jakob, der eigentlich andere Menschen psychologisch betreuen will, weiter ahnungslos. Als Jakob die Tat seines Freundes endlich akzeptieren muss, bricht er unter der Wahrheit zusammen. Ausgerechnet er, der dem Anti-Aggressions-Training seiner Schäfchen beisitzt, sucht die Wahrheit auf dem Fußball-Platz und rempelt den bald wieder freien Dominik brutal um.

Regisseur und Autor Gerd Schneider, der früher selbst Priesteramtskandidat war, zeigt in seinem Spielfilm-Debüt eine „wie Soldaten" eingeschworene Gemeinschaft: „Es ist nicht unsere Aufgabe, zu ermitteln. Wir müssen vergeben." Vor allem den eigenen Leuten, damit die wie bisher weiter machen können. So stellt Oliver in leitender Funktion sich das vor. Auf schockierende Weise versucht er, mit Druck und Geld die Kirche freizukaufen.

„Verfehlung" konzentriert sich auf den naiv guten Jakob, verliert aber auch die Opfer nicht aus den Augen, wie den misshandelten Junge, der sich heimlich ritzt. Das klar angelegte Drama stellt deutliche Positionen auf, die hauptsächlich in intensiven Dialogen gut ausgespielt werden. „Wir sind Brüder" und andere Phrasen im System der Vertuschung machen den Hohn einer Institution klar, die ihre Glaubwürdigkeit längst verloren hat. Dabei ist der mit wenigen „großen" Bildern inszenierte deutsche Film nicht so bitter treffend wie der kroatische „Gott verhüte", kann aber dank gutem Schauspiel und den mittlerweile offensichtlichen Verbrechen packen und erschrecken.

Eine neue Freundin

Frankreich 2014 (Une Nouvelle Amie) Regie: François Ozon mit Romain Duris, Anaïs Demoustier, Raphaël Personnaz, Isild Le Besco 108 Min. FSK: ab 12

Seit „Sitcom" (1998) verbreitet François Ozon die schönsten Unruhen im französischen Film: Ob mit dem erotischen Thriller „Swimming Pool" (2003) oder dem feministischen Musical „8 Frauen" (2002). Der Provokation einer Prostituierten in „Jung & schön" (2013) und dem stillen Abschied von „Unter dem Sand" (2000). Nun stürzt er seine Figuren mit „ Eine neue Freundin" in ein ungewöhnliches Dreiecksverhältnis und uns in einen prickelnden Film-Genuss.

Claire ist Lauras Blutsfreundin fürs Leben und das Leben ein großer Fluss eleganter Übergänge: Vom Kindheits-Schwur zum gemeinsamen Jugendflirt, der Hochzeit erst der einen und dann der anderen, wobei die eine da schon schwanger ist. Doch bei der Taufe von Lauras Kind sitzt diese bereits schwerkrank im Rollstuhl. Bald steht ein Begräbnis an und dann - noch dieser unvergleichlich leicht erzählten Vorgeschichte - die große Überraschung während eines spontanen Besuchs Claires (Anaïs Demoustier) beim Witwer: David (Romain Duris) schaukelt sein Kind mit Frauenkleider und Perücke!

Nach dem ersten Schock gefallen Claire Rollenwechsel und Ambiguität sehr. Sie genießt das Shoppen mit ihrer neuen Freundin, die sie Virginia nennt, wird viel lustvoller im Bett mit dem eigenen Mann Gilles (Raphaël Personnaz). Die neue Freundschaft wird so vertraut, dass Claires Erschrecken irgendwann viel heftiger ausfällt, als sie ihre neue Freundin doch noch mal als Mann sieht.

Hauptdarsteller Romain Duris spielt hier mit großer Lust wieder mal eine neue faszinierende Facette seiner mutigen Entwürfe aus, mit denen er beispielsweise in „Mademoiselle Populaire", „L'auberge espagnole" und vor allem in „Gadjo Dilo - Geliebter Fremder" begeisterte. Wie er sich erstmals Lauras Kleider anzieht, macht auch beim Zuschauen enormen Spaß.

Davids Transvestie ist erst jetzt möglich, weil er seiner Frau noch vor der Hochzeit versprochen hatte, sich nie außerhalb des Hauses in Kleidern zu zeigen. Nun trägt er ausgerechnet ihre - weil es das Baby beruhigt, meint er am Anfang noch. Aber nun kann Claire auch die Jungendfreundin Laura - oder zumindest ihre Kleider in ihrem Haus - auf eine ganz andere Weise lieben. Es entsteht ein Verhältnis, aber nicht das Gewöhnliche. Denn so leicht es ist, den Ehemann Gilles zu täuschen, etwas irritierend bleibt das reizende Spiel mit den Geschlechtern doch.

Wieder erfüllt François Ozon nicht nur die Erwartungen, er übertrifft sie auch mit vielen Überraschungen: In einem nordamerikanischen Setting verbindet er die herrliche Ästhetik des klassischen Hollywood mit der Modernität offener und mutiger Geschichten. Da schillert eine Braut im Sarg, immer wieder nimmt Schminken in Großaufnahme das ganze Bild ein, wie eine Diva schreitet Valerie einmal eine Hollywood-Treppe herunter und auch die Musik zitiert munter drauf los.

Im Gegensatz zu Xavier Dolans ähnlich gelagertem, großartigem Drama „Laurence Anyways" spitzt sich bei der neuen Freundin - nach Ruth Rendells Erzählung „The New Girl Friend" - kein Konflikt zu. Im Gegenteil: Bis hin zur einer Wiedergeburt als Frau löst sich alles im Schönen und Märchenhaften auf. Ein wunderbarer Film zum Schwelgen und Träumen.

23.3.15

Zu Ende ist alles erst am Schluss

Frankreich 2014 (Les Souvenirs) Regie: Jean-Paul Rouve mit Michel Blanc, Annie Cordy, Mathieu Spinosi, Chantal Lauby 94 Min. FSK: ab 0

Will man Lebensweisheiten vom Tankwart erfahren? Wahrscheinlich immer noch besser als von Astro-TV und in dieser sehr stillen Komödie „Zu Ende ist alles erst am Schluss" tatsächlich das Wahre! Nach einem Roman von David Foenkinos („Nathalie küsst") sucht ein junger Mann die Richtige und den richtigen Weg für sein Leben. Am Ende sucht er nicht mehr und findet - derartige Geduld belohnt auch der Film.

Romain Esnard (Mathieu Spinosi) kommt zu spät zum Begräbnis - er hat sich zwischen zwei Friedhöfen für den falschen entschieden. Typisch für den jungen Literaten und verhinderten Roman-Schreiber Romain, der auf dem Wartegleis des Lebens erst noch mal in einem Hotel jobbt. Sein Vater Michel (Michel Blanc) jedoch, macht immer genau das Falsche: Der als Pensionär orientierungslose Postbeamte verfrachtet seine frisch verwitwete, 83-jährige Mutter Madeleine (die französische Chanson-Ikone Annie Cordy) bei erster Gelegenheit ins Seniorenheim. Und will von den Brüdern und der Familie noch Bedauern hören, weil er immer alles erledigen muss. Ein Unsympath in Nebenrolle, denn der Film folgt vor allem Romain, der sich blendend mit Oma versteht, Spaß mit seinem Chef im Hotel hat und verzweifelt die Frau sucht, die er beim Begräbnis zufällig traf.

Es sind kleine, undramatische Episoden, bis Madeleine vom Seniorenheim abhaut und heimlich in die Normandie reist. Romain fährt hinterher und plötzlich fügt sich einiges, auch beim Film. Die Geschichte von Omas Flucht 1940 begeistert eine Grundschullehrerin, selbstverständlich klingt Proust an, wenn sich eine Madeleine erinnert. (Hier legt der Originaltitel „Les Souvenirs" auch mehr passende Ernsthaftigkeit an den Tag.) „Zu Ende ist alles erst am Schluss" könnte die Leichtigkeit der Marcel Pagnol-Verfilmung „Das Schloss meiner Mutter" haben, bringt aber nicht dessen Lebensfülle. Dafür einen optimistischen Blick aufs Leben, er ist von Begräbnis zu Begräbnis ein sehr hoffnungsvoller Film. Selbst der tragischen Figur des Vaters, der feige und kleingeistig alles verdrängt, Kaffee aus dem Automaten liebt und sich nur noch über freie Parkplätze vor dem Haus freut, bringt der Film Sympathie entgegen.

Um das Beste aus dem kreativ verhunzten deutschen Filmtitel zu machen: Zum Ende hin, vom Ende her gewinnt „Zu Ende ist alles erst am Schluss" enorm - aber man muss einige Inszenierungs-Längen durchstehen, bis der schöne Schlusssong die ultimative Weisheit erklingen lässt: Habe keine Angst vor dem Glück, es existiert nicht!

18.3.15

Terry Pratchett-Filme

Mit 66 Jahren ist der britische Fantasy-Autor Terry Pratchett letzte Woche nach einem langen Kampf gegen Alzheimer gestorben. Mit seiner Roman-Reihe begeisterte der Schöpfer der Scheibenwelt weltweit Millionen, doch Verfilmungen sind seltsam selten, weil wohl bei so einem Ausbund an Fantasie und verrückten Ideen schwierig: Immerhin sind von den TV-Serien, Kurzfilmen und Video-Spielen nach Pratchett zwei Scheibenwelt-Silberscheiben noch im Handel. Sowohl „Hogfather" nach dem Scheibenwelt-Roman „Schweinsgalopp" (GB 2006, ca. 180 Min.) als auch „The Color of Magic" nach „Die Farben der Magie" und „Das Licht der Phantasie" (GB 2008, ca. 180 Min.) wurden von Vadim Jean inszeniert. „The Color of Magic" erzählt vom erfolglosen Magier Rincewind (Sir David Jason), der unfreiwillig zum Reiseführer des ersten Scheibenwelt-Touristen Zweiblum (Sean Astin) und seiner intelligenten Holztruhe wird. Gemeinsam erleben sie einen abenteuerlichen Trip an den Rand der Scheibenwelt, kämpfen gegen Zauberer, entkommen Druiden und reiten auf Drachen. Aber kann Rincewind auch Trymon (Tim Curry), seinen größten Feind, besiegen und die Scheibenwelt vor der Zerstörung retten? Wie erwartet wird der Film der Scheibenwelt nur teilweise gerecht. Eigentlich sollte man es mit dem Zauber der digitalen Trickserei noch einmal versuchen, das hätte Pratchett bestimmt gefallen. Es sind auch tatsächlich noch zwei Stoffe in Arbeit, die Animation „Truckers" von DreamWorks und ein Kurzfilm.

17.3.15

Die Bestimmung - Insurgent

USA 2014 (Insurgent) Regie: Robert Schwentke mit Shailene Woodley, Theo James, Naomi Watts, Octavia Spencer, Suki Waterhouse, Kate Winslet, Zoë Kravitz 119 Min.

Mal wieder im Angebot: Weniger als ein halber Film zum ganzen Preis plus 3D-Zuschlag! Nach dem schwachen Trilogie-Auftakt mit „Die Bestimmung - Divergent" hängt auch der Mittelteil dieser Teenager-Dystopie nach einer Vorlage von Veronica Roth mächtig durch. Erst zum Ende hin simuliert „Insurgent", ein anständiger Film zu sein. Doppelt enttäuschend, weil auch der mit Abstand schwächste Film von Regisseur Robert Schwentke („R.I.P.D.", „R.E.D.", „Flight Plan", „Eierdiebe").

„Die Bestimmung" fand eigentlich eine nette Metapher für verbreitete Teenager-Probleme: Wo gehöre ich hin? Ich passe nirgendwo rein. Beatrice Taylor (Shailene Woodley) sitzt als „divergente" junge Frau zwischen den Stühlen der fünf Fraktionen, in die ein post-apokalyptisches Chicago aufgeteilt ist. Nachdem eine der Anführerinnen, Jeanine Matthews (Kate Winslet), einen von ihr selbst inszenierten Überfall auf die Konkurrenz Flüchtlingen in die Schuhe schiebt - ein beliebter Standard aus Diktator-Handbuch, muss sich Beatrice verstecken. Doch wenn die frische Waise mit dünnen Hemdchen in ihrer Flüchtlingshütte mitten in der Natur steht, sich die Haare mit grober Schere abschneidet und danach mit perfektem Bubikopf rumläuft, kristallisiert sich ein großes Problem des Films heraus: Beatrice Taylor / Shailene Woodley gibt nur eine ganz schwache Katniss Everdeen-Kopie her und ist ein Ausfall im Zentrum der Aufmerksamkeit. Alle anderen Darsteller wirken wesentlich talentierter und präsenter: Theo James als der Liebhaber von Tris, Ansel Elgort als ihr Bruder Caleb und vor allem Miles Teller („Whiplash") als Verräter. Dazu als Krönung Kate Winslet als Diktatorin, mit mörderischer Kühle berechnend, auf ihren High Hell thronend.

Ohne schnelle Geschichte und scheinbar mit sparsamerem Ausstattungs-Etat fällt frappierend auf, wie oberflächlich diese Polit-Parabel daherkommt: Alle laufen in mäßig interessanten Settings herum, bleiben für einiges Gerede stehen und laufen dann weiter. Action bedeutet orientierungslose Rennerei mit Sprüngen vor Zügen, die falsch getimt sind. Dazu eine Beziehung ohne Chemie, eine billige melodramatische Familiengeschichte, kaum Dramen, und die dann nicht richtig ausgespielt. Ein filmischer Totalausfall, bis endlich die virtuellen Simulationen starten, die mit ihren Effekten auch schon im ersten Teil auffielen. Beatrice muss, um irgendeinen MacGuffin zu öffnen, fünf Test durchlaufen. Diese fantastischen Szenen machen viel Eindruck und gute Anleihen bei Gilliams „Brazil".

Auch die politische Lehreinheit verzettelt sich: „Insurgent" feiert das Martialische eines bewaffneten Aufstandes, obwohl gerade noch über die Last von Blut an den Händen gequatscht wurde. Krieg ist wieder mal alternativlos - so hätten es die Machtpolitiker gerne. Was in den „Hunger Games" erst im Finale schockiert, wird hier überdeutlich aufgetischt: Alle Revolutionen, die friedlichen oder die anderen, sind nur ein manipulierter Zug im gnadenlosen Spiel der nächsten skrupellosen Machthaber.

Letztlich rundet der schwache Film alles Misslungene mit einer bescheuerten Pointe ab. Selten wurde die absurde Nichtigkeit der Existenz so freudig gefeiert. Naomi Watts wird im dritten Teil die Rolle der Diktator-Hexe mit der bösen Schwiegermutter verbinden - wenigstens darauf kann man sich freuen.

Viel Gutes erwartet uns

Dänemark 2014 (Så meget godt i vente) Regie: Phie Ambo 100 Min. FSK: ab 0

Ein alter dänischer Bauer und ehemaliger Ingenieur lebt nicht nur für, sondern beinahe mit seinen Roten dänischen Milchrindern, einer fast ausgestorbenen Rasse. Niels will auf seinem Bauernhof nördlich von Kopenhagen das Gruppenbewusstsein der Kühe verstehen und auch den Zyklus des Löwenzahn. Dieser wundervolle Dokumentarfilm von Phie Ambo zeigt, dass Niels damit immerhin die Macher des besten Restaurants der Welt, des Kopenhagener Nobelschuppens Noma begeistert.

Der sympathisch kauzige Mann wirtschaftet ganzheitlich und esoterisch, hat seine eigene Philosophie, basierend auf den bio-dynamischen Lehren des Anthroposophen Rudolf Steiner. Dass ein Kraut Lichtstrahlen vom Universum aufgenommen hat und wegen des Mars so rot ist, wird einigen vielleicht zu spleenig vorkommen. Die Begeisterung über die Gerüche der Kräuter beim Mähen der nicht normierten Wiese, steigt einem dagegen beinahe selbst in die Nase. Wunderbare Aufnahmen der roten Rinder in der Ferne einer grünen Wiese, mit in der Unschärfe vorbei flatternden Schmetterlingen und huschenden Schwalben gehören zu den bislang besten Kinobildern des Jahres.

„Viel Gutes erwartet uns" ist nicht nur thematisch interessant und vermag Sichtweisen zu erweitern. Regisseur Phie Ambo, der zusammen mit Maggie Olkuska auch die Kamera führte, gelingen wunderbare Bilder. Dazu gibt es immer wieder wortlose Sequenzen, begleitet von andächtiger Musik (Jóhann Jóhannsson) und so entstand eine dieser seltenen Dokumentationen, die ganz frei und offen begeistern können. Wenn bei der Geburt eines Kalbes der Kameramann selbst mithilft, ist dies Engagement für eine gute Sache zwar eine Basis für das Gelingen, außergewöhnliches filmisches Können und eine gesunde Distanz gehören auch dazu.

16.3.15

3 Herzen

Frankreich/Deutschland/Belgien, 2014 (Trois coeurs) Regie: Benoît Jacquot mit Benoît Poelvoorde, Charlotte Gainsbourg, Chiara Mastroianni, Catherine Deneuve 104 Min. FSK: ab 6

Drei Gesichter könnte dieser Film auch heißen, denn sein vortrefflich gemeines Liebes-Drama spielt sich vor allem auf den Gesichtern von Charlotte Gainsbourg, Chiara Mastroianni und Benoît Poelvoorde ab. Doch wir wollen nicht den netten Auftritt der Deneuve als Film- und echte Mutter (von Mastroianni) übersehen, ebenso wenig die geniale Kamera von Julien Hirsch, die den drei Gesichtern einen trefflichen Rahmen gibt. Was zusammen bis zum Höhepunkt einer entsetzten Nahaufnahme eine hammerharte französische Menage a trois ergibt.

Ja, Erfahrungen mit Frauen habe er schon, aber er lerne sie einfach so kennen, ohne irgendwas Spezielles zu machen. Das erzählt Marc (Benoît Poelvoorde), ein unscheinbarer Steuerprüfer in der Provinz, der gerade dort den Zug nach Paris verpasst hat, der Zufallsbekanntschaft Sylvie (Charlotte Gainsbourg). Es folgt ein langer Spaziergang durch die Nacht, ein wenig „Before Sunrise". Nur älter, aber wieder ebenso so unrealistisch blöd ohne Austausch von Telefonnummern, mit vager Verabredung in Paris. So scheitert das Treffen an Marcs schwachem Herzen und der Film wird wortlos zu einem ganz bitteren Melodram. Denn einige Zeit später hilft Marc auf dem Amt einer anderen Frau bei der Steuer, lernt sie kennen und lieben. Sie ziehen glücklich zusammen, heiraten und die andere, Sophie (Chiara Mastroianni) ist Sylvies Schwester.

Diese unglaubliche Tragik wurde von Benoît Jacquot („„Leb wohl, meine Königin!") völlig glaubhaft und einzigartig elegant inszeniert. „3 Herzen" hat zwischendurch auch einen schön stillen Humor. Etwa bei Sophies Abschied von ihrem letzten Freund im Kino, mitten in einer Action-Szene. So elegant wie die Kamera von Julien Hirsch dies alles begleitet, so werden auch die Verbindungsstücke des Dreiecks eingestreut. Ein Feuerzeug, eine Adresse herausgerissen aus einem Brief und der Spiegel, den die Schwestern noch gemeinsam kauften.

Charlotte Gainsbourg ist mit ihrem typischen Ausdruck zerbrechlicher Sensibilität die mutigere der „Geliebten Schwestern", die dann doch mit dem bereits verlassenen Ex in die USA zieht. Atemberaubend und unglaublich gut ihr Gesicht, wenn sie beim Skypen den Geist aus der Vergangenheit sieht.

Der oft laut polternde Belgier Benoît Poelvoorde („Mann beißt Hund") gibt hier einen einfachen, zu angespannten Typen. Weder eitel noch unsicher, einfach präsent. Die Herzprobleme begleiten seinen Marc weiter, auch wenn ihm ein Arzt normalen Puls bescheinigt. Denn ein Zweifel wächst in Marc, im Haus von Sophies Mutter (Deneuve) traut er sich nicht zur Fotowand. Die Erkenntnis trifft ihn exakt in der Mitte des Films, wie diese fiesen Dilemmata in den griechischen Dramen. Marcs Angst ist die vor einem Geist, wenn Sylvie ihn durch eine Milchglasscheibe im Büro sucht.

Chiara Mastroianni verkörpert die sehr weinerliche, unsichere Sophie. Wieder ist sie exzellent in der Rolle einer Schwester, wie schon bei Valéria Bruni-Tedeschis autobiografischem „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr". Das wahre Leben spielt auch etwas mit, denn Mastroiannis tatsächliche Mutter Catherine Deneuve ist mit ihrem aktuell typischen Gesichtsausdruck voller Verachtung auch die Film-Mutter. Ein weiterer starker Gesichtsausdruck in diesem hammerharten Drama, bei dem man gefesselt an jeder Gesichtsregung der Beteiligten hängt. Am Ende steht nur ein ganz normaler Seitensprung, dessen Vollzug man allerdings aufgrund der nuanciert aufgebauten Situation mit Hochspannung entgegensieht. Begleitet von extrem bedrohlichen Streichern (Musik: Bruno Coulais) und einem ganz nüchterner Kommentar. Dagegen steht eine kleine Piano-Melodie der Liebe, die gegen das Entsetzen im finalen Blick der Erkenntnis keine Chance hat.

A Most Violent Year

USA 2014 Regie: J.C. Chandor mit Oscar Isaac, Jessica Chastain, David Oyelowo, Alessandro Nivola, Albert Brooks 125 Min.

Kein Blut für Öl, das kennt man international als Losung. Ganz lokal will Abel Morales (Oscar Isaac) Anfang der 80er-Jahre in New York sein Heizöl verkaufen, die Kunden der Konkurrenten übernehmen, aber nicht ihre schmutzigen Methoden.

Als er mit seiner Frau Anna (Jessica Chastain) für den freien Handel mit direktem Zugang zum Hafen dort eine Raffinerie kaufen will, droht die hohe Anzahlung verloren zu gehen: Einerseits bereitet der Staatsanwalt Lawrence (David Oyelowo) eine umfangreiche Anklage vor. Dann werden die Fahrer von Morales immer wieder angegriffen und die Tankwagen geklaut. Als sich ein bereits überfallener Angestellter bewaffnet und es zu einer Schießerei auf der Autobahn kommt, will die Bank keinen Kredit mehr geben.

Abel Morales, erfolgreicher Einwanderer, ist eine faszinierende - von Oscar Isaac („Inside Llewyn Davis", „Agora") sensationell gespielte - Erscheinung: Freundlich, aber extrem entschlossen, überzeugend, gewinnend. Abel gibt sich als fürsorglicher Patriarch für einen Fahrer, der brutal zusammengeschlagen wurde. Doch er opfert ihn später auch kalt für die Firma.

Die Drohungen seiner Frau Anna, der Herrin der Buchhaltung, die familiäre Beziehungen zur Mafia hat, sind jedoch ebenso eindrucksvoll. Als sie in der Nacht ein Reh anfahren, das langsam verendet, zeigt sich, wer wirklich die Hosen anhat. Grandios wie sich die elegante Ehegattin, die mit dem Bleistift ihre laute Rechenmaschine bearbeitet, wieder in die Mobster-Tochter verwandelt.

„A most violent year" könnte ein James Gray-Stoff sein, entwickelt sich jedoch zwischen dem Ideal vom freien Markt und den schmutzigen Realitäten hinter den schmutzigen Geschäften einerseits differenzierter und letztlich optimistischer.

Der neue Film von J.C. Chandor („Der große Crash – Margin Call", „All Is Lost") hat den Scorsese-Look der 80er mit kantiger S-Klasse und Mode. Die enorm packende Inszenierung zoomt langsam in ein Geflecht aus Interessen der Gewerkschaften, des Staatsanwalts und der Konkurrenten. Das geschieht mit packender Atmosphäre, anhaltender Spannung und dem Countdown um den Raffinerie-Kauf. Dazwischen besonders großartig inszenierte Momente und Figuren, sowie die großen Fragen: Wie bist du so geworden? Wieso machst du das?

Wenn am Ende Öl und Blut fließt, muss man international weiter denken. Es bleibt offen, wie moralisch korrekt Morales nun ist - faszinierend bleibt er auf jeden Fall!

Das ewige Leben

Österreich, BRD 2014 Regie: Wolfgang Murnberger mit Josef Hader, Tobias Moretti, Nora von Waldstätten 123 Min. FSK: ab 12

Ja, tatsächlich, jetzt ist schon wieder was passiert, um den beliebtesten Aufmacher in Kritiken zu „Das ewige Leben" einfach noch mal zu übernehmen. Etwas eigenes, ähnlich Originelles oder Schräges, wie es der Autor Wolf Haas zwischen die Zeilenzwischenräume seiner Brenner-Romane schreibt, kriegt man eh nicht hin. Der Film schon, er muss ja auch nicht schreiben, filmt stattdessen ähnlich erheiternd schräg. Mit dem Besten, was die Casting-Karten Österreichs hergeben. Ausgenommen Christoph Waltz, aber der gehört ja eh zu Hollywood, wie dieser junge Maler aus Braunau doch eh zu … aber das ist eine andere Geschichte.

Diese ist die von Brenner (Josef Hader) der ziemlich abgebrochen nach Graz zurückkehrt, in die Stadt seiner Jugend, weil ein geerbtes Haus dort gerade noch so steht. Bald stolpert der ehemalige Privatdetektiv über Leichen, und fast war er selbst eine davon. Denn Haas-Krimis und -Filme sind so besonders, dass sich der Held der Geschichte relativ bald eine Kugel in den Kopf schießen kann und trotzdem Held der Geschichte bleibt. Was das Drehbuch zur wunderbaren Aufnahme eines fast Toten führt, der beobachtet, wie eines Katze das Blut leckt, das aus eigenem Hirn läuft!

Doch war dabei nicht das Buch wesentlich weniger eindeutig? Zweifelte Brenner die Theorie des eigenen Selbstmordes nicht heftig an, auch wenn er sich schon gerne die furchtbare Migräne aus dem Hirn geschossen hätte? Hier müssen wir die eigene Erinnerung bemühen, die von Brenner ist wegen der Kugel im Kopf nicht mehr die beste. Tatsächlich hat der Film die Handlung gekonnt gestrafft, ein paar Neonazis unter den Teppich der Geschichte gekehrt, der mysteriöse Erzähler verschwindet bis auf einen kurzen Off-Text. Den Psychologen mit der Frau vom Aschenbrenner (Tobias Moretti), der allseits als attraktiv empfundenen Dr. Irrsiegler (Nora von Waldstätten) zu einer Figur gemacht. Und ja, im Buch kamen ein paar Dinge besser zueinander.

Doch auch in der vierten Verfilmung von einem der acht Brenner-Romane des Autors Haas, der das Drehbuch mit Josef Hader und Regisseur Wolfgang Murnberger schrieb, kommen Film und Brenner insgesamt trefflich zusammen: Die sehr eigentümliche Sprache mit den grammatikalisch gerne mal unkorrekten Sätzen wird zu einer herrlich eigentümlichen Bildsprache mit besonders schrägem Licht, reizvollen Perspektiven, einer ins übersichtliche Graz hingefläzten Atmosphäre sowie einer Ausstattung zwischen Retro und Kult. Die Spannung des Who-done-it ist da, selbst wenn eine der atemlosesten Verfolgungsjagden auch eine der langsamsten ist - noch dazu mit dem Moped. Auch dieser Brenner-Film pflegt einen wüstentrockenen und schwarzen Humor. Verkörpert vom ewigen Brenner-Darsteller, dem Kabarettisten Josef Hader. Nur er bringt Situationen wie den auch angetrailerten „Polizeischutz beim Scheißen" derart göttlich rüber. Sehr derangiert, also jetzt auch äußerlich, mit hängenden Schultern macht Hader den Verlierer zum eigentlichen Sieger. Denn wenn er wegen der „alten Geschicht'" mit seinem ehemaligen Kumpel und jetzigen korrupten Polizei-Chef Aschenbrenner meint „Wenn ich nicht so geworden bin wie du, hab ich was erreicht im Leben", ist das eine schöne Gradlinigkeit - meinetwegen bis in den Abgrund.

15.3.15

The Boy Next Door

USA 2014 Regie: Rob Cohen mit Jennifer Lopez, Ryan Guzman, Ian Nelson, John Corbett 91 Min. FSK: ab 16

Schon die ersten, hochdramatisch gemeinten Momente machen dieses Thriller-Unglück zu einer Peinlichkeit: Die Lehrerin Claire (Jennifer Lopez) joggt durch die Gegend und uns springen dazwischen Bilder vom Streit mit dem Ehemann ins Gesicht. Klar, die Ehe ist im Eimer, mit dem Teenager-Sohn gibt es die üblichen Probleme solcher Trennungen und dann steht er da. Zu offensichtlich knackig dieser junge Verwandte vom alten Nachbar (Jack Wallace) beeindruckt das zu offensichtliche Abziehbild einer vernachlässigten Nachbarin, verkörpert statt gespielt von Jennifer Lopez. Der knackige Noah Sandborn (Ryan Guzman) repariert nicht nur das Garagentor und die Unsicherheit des Sohnes, eines Morgens wacht die Pädagogin ohne Slip auf dem Sofa des übermäßig freundlichen Kerls auf.

Die überzogen dramatische Entwicklung mit ihrer nervig aufgeregten Montage macht danach Noah ruckzuck zum Hacker, Stalker und mörderischen Psychopathen. In brutalen Anfällen schlägt der eigentlich zu alte Schüler einen kleineren Jungen zusammen, manipuliert Claires Sohn ebenso wie die Bremsen vom Ex. Wie immer fragt man sich mindestens ab Mitte des Films, weshalb Claire nicht zur Polizei oder zur Schulleitung geht? So ist der Verlauf nur noch ärgerlich, weil er Intelligenz der Figuren und Zuschauer unterfordert. Der sehr klägliche Thriller vom eigentlich besseren Regisseur Rob Cohen („xXx - Triple X" 2002, „The Fast and the Furious" 2001, „Dragonheart" 1996) ist inklusive Finale dumm und einfallslos. Wobei dann auch noch völlig deplatzierte Splatter-Einsätze echte Spannung ersetzen wollen. Jennifer Lopez, die auch als Produzentin für diesen Mist verantwortlich ist, war vielleicht mal 1998 bei Soderberghs „Out of Sight" gefordert. Hier ist sie wieder auf dem Niveau des reichlich spekulativen Rachefilms „Genug". Zudem ist ärgerlich, wie der Film letztlich vermittelt, dass sich Frauen nicht mit jüngeren Männern einlassen sollen.

10.3.15

Das Mädchen Hirut

Äthiopien, USA 2014 (Difret) Regie: Zeresenay Berhane Mehari mit Meron Getnet, Tizita Hagere, Haregewine Assefa, Brook Sheferaw 99 Min. FSK: ab 12

Auf dem Land gilt in Äthiopien 1996 noch die Tradition der „Telefa", der Entführung von Mädchen und Frauen zum Zweck der Eheschließung. So wird die 14-jährige Hirut Assefa (Tizita Hagere) drei Stunden außerhalb von Addis Abeba ausgerechnet auf dem Heimweg von der Schule, die ihr Bildung und Unabhängigkeit geben sollte, von einem älteren Mann entführt und vergewaltigt. Hirut gelingt die Flucht, doch erschießt sie dabei in Notwehr den Verbrecher. Nun steht sie unter Mordanklage, ihr droht die Todesstrafe.

Meaza Ashenafi (Meron Getnet) eine Anwältin, die sehr mutig gegenüber Männern auftritt, kämpft mit ihrer Pro Bono-Organisation nun für Hirut sowie gegen Polizisten, Staatsanwälte und Richter, die das Mädchen hinrichten wollen. Zuerst bekommt Meaza das Mädchen mit seinem gebrochenen Arm nicht mal aus der Zelle in ein Krankenhaus. Das mühsame Wegarbeiten der Steine, die Meaza in den Weg gelegt werden, zeigt Details des Lebens in Äthiopien: Der junge Staatsanwalt bezweifelt das Alter Hiruts - wie kann ein junges Mädchen so ein schweres Gewehr bedienen. Das Männer-Recht will dann das Alter von Mädchen am Brustumfang feststellen. Das klingt haarsträubend, aber der Film macht es sich nicht mit simplen Diffamierungen leicht. Er zeichnet ein komplexes System nach, in dem sich auch die Strömungen Stadt und Land, Fortschritt und Tradition begegnen.

So spielt auch in Abwesenheit der Anwältin ein Dorfrat eine Rolle, in welcher der Vater des Opfers, der des Vergewaltigers und der Lehrer heftig miteinander streiten. Diese „Justiz" aus alten Männern verurteilt das Mädchen und seine Familie. Die richtige Rechtsbarkeit in dieser wahren Geschichte entscheidet anders. Hiruts Fall führte zum Verbot derartiger Entführungen. Und zwischen 1995 und 2002 half Meazas Organisation über 30.000 Frauen und Kindern.

Der bewegende und informative Film hält sich in den dramatischen Momenten angenehm zurück und lässt den Schrecken über die Gesichter der Figuren wirken. Von der Form her ist das von Angelina Jolie koproduzierte Werk einfach und konventionell, doch vor allem in der Landessprache und von tollen lokalen Darstellern gespielt.

Kingsman - The Secret Service

USA, Großbritannien 2014 Regie: Matthew Vaughn mit Colin Firth, Samuel L. Jackson, Mark Strong, Taron Egerton, Michael Caine, Mark Hamill, Sofia Boutella 129 Min. FSK: ab 16

Mögen Sie klassische Agentenfilme? Wollten Sie schon immer mal der Bond von Sean Connery sein? Und der Schurke wie Gerd Fröbes Goldfinger oder Mads Mikkelsens Le Chiffre? Dann sind Sie bei den „Kingsman" am richtigen Ort: Eine sehr stilvolle Agenten-Clique wird gleichzeitig von einem wahnsinnigen Genie und vom frechen Nachwuchs aufgemischt. Dass neben Bond & Co auch Tarantino aufblitzt, dass die piekfeinen Briten vom unabhängigen internationalen Geheimdienst Kingsman mit waschechten Proletariern zu tun haben, macht die Spannweite richtig schön breit für einen großen Kinoerfolg.

Arthur, Lancelot und Galahad nennen sie sich. Merlin (Mark Strong) nimmt als Waffentechniker die Rolle von Q ein. Diese Agenten haben mehr Stil als Waffen im Hinterzimmer. So verbergen sie ihre Labors sowie eine unterirdische Super-Metro hinter der Fassade eines edlen Londoner Herrenausstatters namens Kingsman. Sie sind äußerst schlagkräftig, egal ob es gegen britischen Pub-Pöbel oder gegen einen Warlord hinter dem Hindukusch geht. Beim letzterem Einsatz beging Galahad (Colin Firth), oder Harry Hart im zivilen Leben, jedoch einen Fehler. Seitdem hat er ein Auge auf auf Gary 'Eggsy' Unwin (Taron Egerton), den Sohn des damals heldenhaft Verstorbenen. Dieser haltlose junge Mann wird von Harry aus dem Knast gerettet und muss sich in der Bewerbung für die Kingsman gegen einen Haufen snobistisch britischer Ekel bewähren. Bei härtesten Prüfungen befinden sich alle dauernd im freien Fall - und ein Fallschirm ist defekt! Während der geniale Industrielle Valentine (Samuel L. Jackson) meint, die Welt vom Virus namens Menschheit befreien zu müssen. Vermittels einer mörderischen Schwingung, die sich über gratis verteilte Mobiltelefone verbreitet...

Wer die tödlichste Filmszene überhaupt hinlegen will, braucht einen glaubwürdigen Super-Agenten (Colin Firth) und einen Super-Regisseur: Regisseur Matthew Vaughn produzierte Knaller wie „Bube Dame König grAS" (1998) und „Snatch - Schweine und Diamanten" (2000) bevor er 2004 direkt mit seiner ersten eigenen Regie „Layer Cake" begeisterte. Zwischendurch inszenierte er auch 2011 „X-Men: Erste Entscheidung". Nun darf er - auf Basis des Comics „The Secret Service" von Mark Millar und Dave Gibbons - mit Klassikern wie Michael Caine (Arthur) hemmungslos das Agenten-Genre plündern, vergisst aber nie, seinen Figuren auch richtiges Leben aus der Requisitenkammer mitzugeben. Colin Firth hatte zuletzt mal nicht jeden Monat einen sensationellen Film, sein „Railway Man" steckt in einem deutschen Termin-Rangierbahnhof fest, trotzdem sind seine Qualitäten unübersehbar ein Genuss. Nur wieso muss Samuel L. Jackson als Bösewicht neben seiner herrlichen Allergie gegen Blut auch noch penetrant lispeln? Das hätte er nicht nötig.

Gut choreographierte und geschnittene Action, vorwärts peitschende Musik und futuristische Agenten-Ausstattung - hier fehlt nichts. Dank geschickter Parallelmontage, die meist zwischen Klassikern und Nachwuchs wechselt, witzigen Dialogen, die genauer als Projektile treffen, und einer schier unübersehbaren Schar exzellenter Schauspieler verliert „Kingsman" nie seinen enormen Schwung. Im Gegenteil: Er übertrifft sich immer wieder selbst, bis zu einem Finale in dem auf wahnsinnige Weise Köpfe in die Luft fliegen und 'Eggsy' mit der schwedischen Prinzessin endgültig den Bond machen kann.

Und bei aller spannenden und komischen Popcorn-Lust, in der „Kingsman" auf hohem Niveau schwelgt, setzten sich nach dem Vergnügen angesichts deutlicher Klassenunterschiede, einer gefährlichen Smartphone-Epidemie und schockierend leicht käuflichen Politikern doch noch einige Gedanken im Kopf fest.

9.3.15

Cinderella

USA, Großbritannien 2014 Regie: Kenneth Branagh mit Cate Blanchett, Lily James, Richard Madden, Stellan Skarsgård, Holliday Grainger, Sophie McShera, Derek Jacobi, Helena Bonham Carter 105 Min. FSK: ab 0

Wenn ein Zeichentrick-Klassiker wie Disneys „Aschenputtel" (Originaltitel „Cinderella") aus dem Jahr 1950 von Disney selbst als Realfilm aufgefrischt wird, will der Instinkt schnell weglaufen, bevor die Uhr 12 schlägt. Doch der britischen Regie-Fee Kenneth Branagh („Thor") gelingt mit Erfahrung und Meisterschaft im Opulenten ein perfektes Leinwand-Märchen.

Wie war sie noch mal, die Vorgeschichte zu dem Märchen mit dem verlorenen Schuh und dem „Ruckidiku"? Indem wir erleben, wie Ella (Lily James) bescheiden und naturliebend glücklich aufwächst, bis erst die Mutter stirbt und dann der Vater nicht von einer Handelsreise zurückkehrt, scheinen wir in einer ganz anderen Geschichte zu sein. Der Vergleich mit dem Klassiker „Aschenputtel" ist angesichts dieser Figuren aus Fleisch und Blut schon vergessen. Und trotz hemmungslosem, bonbonfarbenem Kitsch hat das Vergnügen eines fein ausgewogenen Leinwand-Genusses längst begonnen.

Denn ohne die grandiose Überzeichnung, mit der Cate Blanchett die exquisit böse Stiefmutter anlegt, wären die süß animierten, tierischen Freunde nicht genießbar. Die Bitterkeit dieser Variante von „The Beauty and the Beast" wiegt den fast debilen Optimismus der ausgebeuteten und erniedrigten Ella, die längst zur Cinder-Ella, zum Aschenputtel wurde, exakt auf. Und immer wieder der wunderbare Humor: Mit einem Touch Verrücktheit, wenn Helena Bonham Carter als Gute Fee mit einigen Startschwierigkeiten den Kürbis in die Goldene Kutsche und die Mäuse in Pferde verwandelt. Mit doch erstaunlicher Modernität im selbstbewussten Flirt von Ella mit ihrem Prince Charming (Richard Madden). Vor allem hier versprüht Lily James („Downton Abbey") überwältigend Charme. Im Gegensatz zu Cate Blanchett mit dreckiger Lache und Boshaftigkeit aus tiefer Überzeugung und materieller Not.

Mit ausgezeichnet besetzten Nebenfiguren wie Stellan Skarsgård als intrigantem Höfling, Kleinigkeiten wie den nicht komplett in Livrees verwandelten Gänsen oder dem action-mäßigen Holterdiepolter der Rückverwandlung begeistert „Cinderella" immer wieder aufs Neue.

Das Schwärmen für Branaghs Mischung aus respektvoller Hommage und kongenialer Neuinterpretation darf die Kostüme von Sandy Powell ebenso wenig vergessen wie die opulente Ausstattung von Dante Ferretti. Beiden gelang die Gradwanderung des Films: Er zitiert einerseits den Zeichentrick beispielsweise mit der Tanzszene im Kleid und in den Farben. Und entführt doch das Sehen dank computer-unterstützter Bilder in neue Kitsch-Dimensionen. Überraschend dabei, wie blass die Originalbilder nachher aussehen, wo man doch dachte, Branagh kopiert stellenweise deckungsgleich die Zeichenbilder. Da hatte schon die Erinnerung den Uralt-Zeichentrick aufgehübscht.

Die wunderbar kitschige Realverfilmung von „Cinderella" des ehemaligen Shakespeare-Darstellers und -Regisseurs, des Wallander-Darstellers Kenneth Branagh hebt den Disney-Klassiker nach Charles Perraults Volksmärchen mit digitaler und Ausstattungs-Opulenz in eine neue Dimension, die selbst bei einer Disney-Allergie begeistert.

Die Trauzeugen AG

USA 2014 (The Wedding Ringer) Regie: Jeremy Garelick mit Kevin Hart, Josh Gad, Kaley Cuoco-Sweeting 101 Min. FSK: ab 6

Was ist am Heiraten fürs Kino eigentlich so reizvoll? Klar, die Fallhöhe bei hohen Erwartungen und High Heels ist schon atemberaubend. Besonders beim us-amerikanischen Overkill der Vorbereitungen, der selbst aus dem Servietten-Anpassen eine eigene Veranstaltung macht. Deshalb hier mit „Die Trauzeugen AG" noch eine Heiratskomödie und einige werden lieber noch mal heiraten, als sich diese lahme Komödie aus dem Hochzeitskatalog anzusehen.

Jimmy Callahan (Kevin Hart) ist ein großartiger Redner, er rührt die Herzen auf Hochzeiten oder für Beerdigungen. Obwohl er die Gehuldigten überhaupt nicht kennt oder kannte, denn Jimmy ist gemietet wie Geschirr und Partytische. Als sich Doug Harris (Josh Gad) bei ihm meldet, ist der die größte Herausforderung in diesem Job, weil der pummelige, erfolgreiche, aber einsame Mann gleich sieben Trauzeugen, also Freunde braucht. So wird mit einem Haufen schräger Typen und Verlierern (gespielt von prägnanten Serien-Darstellern) eine militärische Trainingswoche abgezogen wird. Das Gelingen ist schon durch diese Zusammensetzung höchst unwahrscheinlich: Der stille Hugo aus „Lost" (Jorge Garcia) hat unter der terroristischen Fuchtel seiner Frau nie Zeit. Ein alberner Kauz kann nichts, außer auf Kommando seine Schulter ausrenken, ein dämlicher Stripper beherrscht nur das Zucken seiner knackigen Brustmuskeln. Und auch der Film ist ein „One Trick Pony" - er rettet sich mit ein paar Scherzchen sowie uninteressanten Figuren mühsam über die Runden, um am Ende die doch wahre Männerfreundschaft über eine falsche Hochzeit siegen zu lassen.

Als Humor gilt in „Die Trauzeugen AG" ein schmutziges Wort beim Essen mit Schwiegereltern, die zur Ablenkung verschüttete heiße Soße und die dabei aus Versehen angezündete Oma. Und bei der - völlig überraschend - außer Rand und Band geratenen Junggesellenparty beißt der Genital-Humor in Form eines Hundes kräftig in den Schritt, was ein wenig „Hangover"-Humor nach sich zieht. Aber das gehört tatsächlich noch zu den wenigen Male Schmunzeln, die diese Klamotte hervorruft. Nur wenn nicht mehr geredet wird und die Trauzeugen schnell montiert sind, etwa beim Erstellen abenteuerlicher Erinnerungsfotos oder bei absurden Tanzeinlagen, ist der Komödien-Krampf aushaltbar. Selbstverständlich gab es das alles schon unzählige Male, zuletzt mit Frauen als „Brautalarm". Dass die beiden einsamen Kerle Jimmy und Doug schließlich doch Freunde werden, ist als vorhersehbarer Gehalt dieses Klamauks viel zu dünn.

3.3.15

Focus

USA 2015 Regie: Glenn Ficarra, John Requa mit Darsteller: Will Smith, Margot Robbie, Rodrigo Santoro, Gerald McRaney 105 Min. FSK: ab 12

Focus bedeutet, „wenn du ihre Aufmerksamkeit hast, kannst du ihnen alles nehmen". Das erklärt Meisterdieb Nicky (Will Smith) seiner neuen, blonden Freundin Jess (Margot Robbie). Oder erklärt Will Smith sein Geschäftsprinzip, denn sein Name sorgt für genügend Aufmerksamkeit, um dem Publikum das Eintrittsgeld aus der Tasche zu tricksen. Auch mit mäßigen Gauner-Geschichten wie diese namens „Focus".

Mit Stil und lässiger Klasse beherrscht Nicky sowohl den bandenmäßigen Taschendiebstahl beim Super Bowl in New Orleans als auch den eine Trick-Betrug, bei dem es gleich um Millionen geht. Dass er danach Jess, die eine unwissend eine wichtige Rolle dabei spielte, mit reicher Belohnung aber gebrochenem Herzen auf der Straße stehen lässt, wird sich wahrscheinlich rächen.

Wahrscheinlich nach den drei Jahren in denen der Film zu einem Formel Irgendwas-Zirkus nach Buenos Aires springt. Hier erscheint Jess als Geliebte des schwerreichen Team-Chefs, der mit fiesen Tricks seine Gegner bremsen will und dafür Nicky engagiert. Ob bei der Wiederbegegnung echte Gefühle dabei sind, wird mehrfach ausgetestet. So richtig weiß es auch der Zuschauer nicht, weil es zwischen den Protagonisten nicht zündet.

Der Trick dieses Films will sein, möglichst viele Beteiligte - Zuschauer eingeschlossen - zu überraschen und mit diesem Effekt zu beglücken. Das geschieht vorgeblich modern ohne „Anleitung zur falschen Fährte" wie bei Redford und Newmans „Der Clou" oder anderen Klassikern des Genres. Recht schematisch wartet man allerdings bei „Focus" ziemlich exakt zweimal fünfzig Minuten auf diese Überraschungen. Die dann doch etwas an den Haaren herbeigezogen sind. Der erste Raubzug ist zwar flott aber viel zu deutlich inszeniert, der zweite Clou zu unglaubwürdig erklärt. Zwischendurch geht lange alles so glatt wie die Bilder sind. So ist der Film auch nur sporadisch spannend und ansonsten nicht überzeugend.

Pepe Mujica - Der Präsident

BRD 2014 Regie: Heidi Specogna 93 Min. FSK: ab 0

Das Porträt eines einzigartigen Menschen und Politikers, des Präsidenten von Uruguay Pepe Mujica, verblüfft, beglückt und macht traurig. Weil sich hier ein kluger, klarer und unverstellter Politiker zeigt - selten wie ein Einhorn in der Eiszeit. Regisseurin Heidi Specogna nähert sich dem Traum eines integren Politikers als seine gute Bekannte seit den Dreharbeiten zu „Tupamaros" (1997), dem „Prequel" zu „Pepe Mujica".

Pepe Mujica ist ein rundlicher Mann mit Schnauzbart und verschmitzten kleinen Augen. Er war Blumenzüchter aus Leidenschaft, verkaufte mit seiner Frau Lucía Topolansky auf einem kleinen Wochenmarkt und fuhr eher widerwillig mit seinem Moped in die Hauptstadt. Dreizehn Jahre saß Pepe im Gefängnis der Diktatur. Doch die Widerstandskämpfer machten in der Demokratie ganz einfach Politik und waren erfolgreich. Mujica wurde 2010 von seiner Frau, die Senats-Führerin ist, vereidigt. Seine Amtszeit endet im März 2015.

Die aktuelle Doku von Specogna lässt sich Zeit für lange, unaufgeregte Gespräche bei denen im Garten auch mal die Katze durchs Bild läuft. Mujica spendet 90 Prozent seines Einkommens an NGOs und will Marihuana legalisieren. Er hat auch etwas über die Hände zu sagen, die beim Arbeiten denken. Wobei er ausdrücklich das monotone Tippen auf Smartphones ausschließt. Nicht viel zu sagen hat ihm dagegen Angela Merkel, deren Desinteresse bei einem offiziellen Treffen unübersehbar ist. Klar, stellt Mujica mit seinem Idealismus doch die Anti-Materie zu einer post-demokratischen Politik für Banken und Konzerne dar.

Still Alice

USA, Frankreich 2014 Regie: Richard Glatzer, Wash Westmoreland mit Julianne Moore, Kate Bosworth, Alec Baldwin, Kristen Stewart 101 Min. FSK: ab 0

„Still Alice" präsentiert mit Julianne Moore die aktuelle Oscar-Siegerin - wahrscheinlich nicht nur für diesen emotionalen Film, sondern für alle diese großartigen Leistungen, die sie in Reihe hinlegt. So könnte man auch sagen, die Oscar-Siegerin Julianne Moore präsentiert mit „Still Alice" ihren neuen Film. Wobei die Rolle einer 50-jährigen Intellektuellen, die an einer Alzheimer-Erkrankung geistig verfällt, sicher auch ein perfekter Oscar-Stoff ist.

Alice Howland (Julianne Moore) ist 50-jährige Professorin für Linguistik, eine angesehene Wissenschaftlerin, die kurz in ein paar Szenen zum Familien- und Privat-Leben skizziert wird. Dann fällt ihr immer öfter das richtige Wort nicht ein, beim Joggen weiß sie plötzlich nicht mehr, wo sie ist. Die stolze, eigenständige Frau weigert sich anfangs, die als Sonderform von Alzheimer diagnostizierte Krankheit zu akzeptieren und ihrer Familie davon zu erzählen. Ausgerechnet eine Linguistin, die auf den Erwerb der Sprache spezialisiert hat, verliert ihre Worte. Doch es nicht mehr zu verheimlichen, es folgen Arbeitsunfähigkeit und Rückzug vom sozialen Leben. Mit einiger intellektueller Brillanz analysiert Alice ihre Situation, meint bitter, sie hätte lieber Krebs. Für jemanden, der seine Erinnerungen als wertvollsten Besitz erkennt, soll das Vergessen besonders schlimm sein - will dieser Film vermitteln.

Mit enormen schauspielerischen Vermögen kann Julianne Moore die Gefühle von Alice erschütternd nahe bringen. Die für den Betroffenen und seine Familie bedrückende Krankheit wird zusätzlich dramatisiert, dass ihre seltene Form von Alzheimer erblich ist und ihre Kinder auch ganz persönlich betroffen sind. Doch die Familie und das sonstige Umfeld werden vom Drehbuch vergessen, ihre Befindlichkeiten weitgehend ausgeblendet. Während der mehr mit seiner Arbeit verheiratete Gatte John Howland (Alec Baldwin) Alice nur begrenzt liebevoll unterstützt, bildet nur die jüngste Tochter Lydia (Kristen Stewart) einen Gegenpart, der nicht alles mitmacht, nicht endlich ein Studium aufnimmt, nur weil die schwerkranke Mutter darum bittet. Lydia fragt auch als Einzige nach, wie es sich anfühlt, so krank zu sein.

Unter den vielen Möglichkeiten, sich mit den vielen Schicksalen hinter den Worten Alzheimer und Demenz zu beschäftigen, zwischen dem poetischen Abschied von „Iris" und der platten Schweiger-Weise bei „Honig im Kopf" kann „Still Alice" eine komfortable Version des Schrecklichen vermitteln: Moderne Technik wie ein Smartphone hilft, aber nur so lange wie Alice es noch wiederfindet. Unbeaufsichtigte kleine und große Katastrophen sind seltener, wenn sowieso eine Haushälterin da ist. Wenn Alice im wundervollen Ferienhaus am Strand die Toilette nicht findet, wird hollywood-typisch nicht mal ein nasser Fleck in der Hose gezeigt. So aseptisch und lebensfern die ganze Familie wirkt, kommt der Film auch selbst daher. Überraschenderweise kann ausgerechnet die nicht für ihr lebendiges Spiel berühmte Kristen Stewart als bodenständige Tochter das Abgehobene erden.

Regisseur Richard Glatzer, der selbst an einer Alzheimer-Krankheit leidet, lässt die Verfilmung des gleichnamigen Romans der Neurowissenschaftlerin Lisa Genova nach einigen emotionalen Höhe- oder besser: Tiefpunkten undramatisch in der Stille verschwinden. Den rasanten Verfall zeigt der Film nur noch in wenigen wachen Momenten im Abstand von Monaten. Es wird nun mehr über Alice als mit ihr geredet. Die Selbstmordanleitung als Video, aufgenommen nach einem ein horrenden Besuch in einer Pflegeeinrichtung, kann sie schon nicht mehr ausführen. So bleiben nach einer letzten, sehr bewegenden Rede als Betroffene vor „Fachleuten" dieser Krankheit nur noch die Augenblicke mit den Menschen, die sich vor dem langen Abschied drücken und denen, die ihn begleiten. Sowie die Trauer angesichts des Verschwindens eines geliebten Menschen.

Verstehen Sie die Béliers?

Frankreich 2014 (La Famille Bélier) Regie: Éric Lartigau mit Karin Viard, François Damiens, Éric Elmosnino, Louane Emera 106 Min. FSK: ab 0

Schnell Karten reservieren und Taschentücher einpacken: Das nächste große Stück Gefühls- und Wohlfühl-Kino klingt wieder aus Frankreich herüber: „Verstehen Sie die Béliers?" erscheint zwar von der Geschichte her wie ein „Cover" von Caroline Links oscar-nominiertem „Jenseits der Stille" aus dem Jahr 1996, doch dank grandioser Schauspieler, Chansons von Michel Sardou sowie dem Debüt von Louane Emera, einem Star aus „The Voice", ist Rührung unvermeidlich. Die auch jenseits der Grenzen bekannte Louane gewann mit ihrer ersten Rolle gleich einen „César".

Louane spielt überzeugend natürlich Paula, ein einfaches Mädchen vom Land. Diese kümmert sich um sehr vieles in der Familie, die Geschäfte auf dem Bauernhof und dann auch noch um den Wahlkampf des Vaters. Wobei Paulas Eltern und auch ihr kleiner Bruder taubstumm sind. Also wahrlich ein Mädchen für alles.

Das Film-Märchen beginnt, als Paula wegen ihres Schwarms an der Schule am Chor teilnimmt. Der exzentrische Musiklehrer Monsieur Thomasson (Éric Elmosnino) entdeckt ihre Stimme und meldet sie für einen Wettbewerb an, der Paula eine Ausbildung im fernen Paris einbringen könnte. Die natürliche Ablösung von den Eltern ist bei diesem Teenager besonders schwierig, denn sie muss ihren Eltern, die so ganz normal leben wollen, immer als Gebärdensprachen-Übersetzerin helfen: Auf dem eigenen Bauernhof, beim Verkauf des selbstgemachten Käses auf dem Markt und auch beim Gynäkologen, wenn sie dem die Geschlechtskrankheit der sexuell sehr aktiven Eltern erklärt.

Hier und dann spätestens bei den Schönheitstipps von der Mutter, während der Vater den Arm im Hintern einer Kuh hat, wird deutlich, dass aus dem psychologischen Zwiespalt einer besonderen Situation und aus den Figuren möglichst viele Scherze rausgequetscht werden soll. Das ist dem Film wichtiger als eine nuancierte Zeichnung der Probleme und Gefühle, wie sie in Links „Jenseits der Stille" gelang.

Doch die gefühlvolle Komödie der Tochter taubstummer Eltern, die sich ausgerechnet wegen der Musik - oder vielleicht genau deshalb - von ihren Eltern löst, ist als großes Gefühlskino gelungen. So sind die zu lauten Töne der tauben Eltern immer mit knall-orangen Kopfhörern ausgeblendet. Im Bild stehen zu deutlich die Gitter, die man schon längst im zurückhaltend guten Schauspiel von Louane Emera mitbekommen hatte. Louane hat bisher zwar nur die Casting-Show The Voice gewonnen, doch ihr unprätentiöser Auftritt in diesem Film ist eindrucksvoll. Wenn Paula ihre Stimme findet und erst einmal selbst von ihr erschrickt. Wenn sie ausgerechnet mit ihrem heimlichen Schwarm das anzüglich-poetische „Je vais t'aimer" übt, was schon mit dem Rücken zueinander sehr erotisch ist. Das Gänsehaut-Duett wird noch gesteigert in dem einzigen Moment der Stille, in dem die Eltern (grandios gespielt von Karin Viard und François Damiens) über die Reaktion der Zuhörer die Kraft der Stimme ihrer Tochter erleben. Außergewöhnlich gut passt auch das Abschiedsthema im immer schon rührenden „Je vole".

„Verstehen Sie die Béliers?" bringt nebenbei eine Würdigung von Michel Sardous Liedern und dass der Sardou-Fan Monsieur Thomasson vom Gainsbourg-Darsteller Éric Elmosnino gespielt wird, ist eine zusätzliche Pointe. Vor allem aber die grandiosen Karin Viard und François Damiens in der Rolle der Eltern machen diese verrückte Familie zu einem großen Vergnügen, wobei es den Béliers gar nicht gefallen hätte, so absonderlich dargestellt zu werden.

Fußball - Großes Spiel mit kleinen Helden (Metegol)

Spanien, Argentinien, Indien, USA 2013 (Metegol) Regie: Juan José Campanella 106 Min. FSK: ab 0

Aus dem wirklich fußball-verrückten Spanien kommt die Vision, dass Menschenaffen, bevor sie sprechen konnten, schon Fußball spielten. Was vielleicht etwas über den Entwicklungsstand dieses Sportes sagt. Der Stand des Zeichentricks in Spanien ist jedoch richtig gut, wie man am Kick-Spaß „Metegol", mit dem uninspirierten deutschen Titel „Fußball - Großes Spiel mit kleinen Helden", sehen kann: Die Helden sind klasse Kerle mit Charakter, auch wenn sie mit einer Eisenstange im Rücken an einen Kicker-Tisch gefesselt sind. Doch als „ihre" Bar und gleich auch noch das komplette Dörfchen geplättet werden sollen, schießt Leben in die bleiernen Kicker-Beine. Zusammen mit ihrem sensationell guten Spieler und Schöpfer Amadeo wehren sie sich gegen den richtigen und richtig fiesen Fußball-Star El Grosso.

Der ist eine Art Ronaldo als eitles Anziehpüppchen, also halt Ronaldo, nur gezeichnet. Einer, der keine zehn Meter ohne Sponsor läuft und so verbissen gezeichnet ist wie Zlatan Ibrahimović. Aus Rache für ein einst verlorenes Kickerspiel will er Amadeo und alles um ihn vernichten. Nun ist der eigentlich kein Gegner, nur ein schüchterner Kellner, dessen Leidenschaft Kicker zum Spleen wurde. Doch im Moment größter Gefahr erwachen nicht nur seine individuell angemalten Kicker-Figuren auf magische Weise zum Leben, auch die sympathisch eigenwillige Bevölkerung der Bar und des Dorfes schnüren die Fußballschuhe zum finalen Duell.

Mit typischer Musik wird das Western-Duell der Bullies gegen den schüchternen Amadeo inszeniert, die Kamera fliegt im Windschatten des Balls, kleine Bleifiguren haben mächtig viel verrückten Charakter und aufwändige Frisuren - das ist schließlich das Wichtigste bei einem Fußballer.

Herrlich sind die Streitereien der aufgeblasenen Riesen-Egos in den kleinen Figürchen. Und wenn es über die gesamte Spielzeit auch ein paar Hänger gibt, immer wird bauten die Macher eine verrückte Volte ein. Ganz schön clever hat der kleine Film auch eine Meinung zum großen Geschäft namens Sport: Wenn das überinszenierte Spektakel in das Kaff einfällt, sich eine Stadt kauft, so wie Meisterschaften und Olympiaden als moderne Plagen heute Städte und Demokratien in Geiselhaft nehmen, muss man sich wehren. Auch wenn beim Happy End die Moral bitter lautet: Manager sind ewig.

2.3.15

Project Almanac

USA 2014 Regie: Dean Israelite mit Jonny Weston, Sofia Black-D'Elia, Sam Lerner, Allen Evangelista 107 Min. FSK: ab 6

„Found footage" nervt! Die Geister, die das „Blair Witch Project" mit angeblich gefundenem Filmmaterial hervorgerufen hat, wird die Filmindustrie scheinbar nicht mehr los. Ein Grauen selbst außerhalb des Horror-Genres, wie hier in diesem ganz schwachen Teenie-Science Fiction. „Found footage" sorgt beim „Project Almanac", das man besser erst nach dem Ende des Projekt-Status ins Kino gelassen hätte, für eine reduzierte Kamerasprache und erhöhte Hektik bei inhaltlicher Übersichtlichkeit.

Dazwischen kein Erzählfluss, die Geschichte erzählt sich ein Schwarzes Gähnen im Zeitreisen-Universum zusammen: Die vorbildlich arme Familie Raskin leidet unter früh verstorbenem Familienoberhaupt und langweilig genialem Sohn David (Jonny Weston). Da der wohl doch nicht intelligent genug für ein Stipendium am MIT ist, will Mama für Studiengebühren das Haus verkaufen. Doch David entdeckt sich zufällig als Teenager auf einem Familienfilm zu seinem 7. Geburtstag! Eindeutig die Spur einer Zeitreise. Nun noch etwas Suchen im Keller, dazu filmischer Hokuspokus mit Blitz und Donner, dann könnte der Spaß mit Vergangenheit und Zukunft losgehen. Geht er aber nicht, dafür ist man zur Zeit selbst bei „Spongebob" besser aufgehoben! Dr. Emmett Brown ist scheinbar irgendwo in der Zukunft verschollen.

Mäßige Darsteller werden mit viel Blabla beschäftigt, um Zeitsprünge und Gedankenleere zu füllen. Hirnlos präsentiertes Experimentieren - überzeugt selbst nicht, wenn man für Teeniefilm weniger Gehirnschmalz verwenden würde. Aber wieso sollte man. Auch wenn der schwergewichtige Action-Name Michael Bay als Produzent auftaucht, dieses Filmchen kann höchstens ein Praktikant fabriziert haben.

„Project Almanac" ist unglaubwürdig und versucht sich mit viel zu viel schlappem Theater anstatt das Unglaubliche überzeugend zu zeigen. Ein undramatischer, dummer und nie origineller Film, bei dem die Murmeltier-Möglichkeiten im Winterschlaf bleiben. David könnte ja den Tod des Vaters verhindern wollen, doch auch da herrscht dramaturgisch Stillstand. Dazu noch eine verklemmte Liebesgeschichte mit einem vom Script unterentwickelten Mädel. Also ab in die Zeitmaschine und dieses Projekt frühzeitig einstampfen.