29.6.11

Transformers 3

USA 2011 (Transformers: Dark Of The Moon) Regie: Michael Bay mit Shia LaBeouf, Patrick Dempsey, John Turturro, Frances McDormand, John Malkovich (Bruce Brazos) 155 Min.

Aufwändige Filme von Lucas und Co. für die pubertäre amerikanische Pickelmasse haben Ende der Siebziger dem New Hollywood von Coppolas Kumpanen das Genick gebrochen. „Star Wars" jetzt mit dem neuen Auto-Origami „Transformers 3" von Michael Bay zu vergleichen, ist ein ähnlicher Witz wie das Blondchen, das peinlich dämlich durch letzteren Film stöckelt. Doch der Aufwand in Sachen Technik - und Stars! - beeindruckt erneut. Zwar ist die neue Matchbox für kleine Kino-Jungs immer noch hirnrissig, militaristisch, nationalistisch, zu lang und eigentlich überflüssig. Doch erstmals gibt es große, eindrucksvolle Michael Bay-Action und so viele bemerkenswerte Momente, dass man den Film nicht guten Gewissens komplett zusammenfalten kann.

Raffiniert klinkt sich die Fortsetzung der Teenie-Geschichte von Sam, dessen Auto eigentlich ein illegales Alien ist, in die Weltgeschichte ein: Die ganze Sache mit Apollo 11 und der Mondlandung startete der (schlecht re-animierte) Präsident Kennedy nur, weil ein Ufo in die dunkle Seite des Mondes gecrasht ist! In 21 Minuten Funkstille untersuchten Neil Armstrong und Edwin „Buzz" Aldrin (selbst im Film anwesend) das gigantische Raumschiff. Der Rest ist aus den ersten „Transformer"-Filmen bekannt. Jetzt wollen die guten Autobot-Aliens, die mittlerweile mit dem US-Militär zusammenarbeiten und im Orient AKWs ausschalten (wir brauchen dazu Grüne), das Wrack bergen und ihren alten Anführer Sentinel aufwecken, um im ewigen Kampf gegen die bösen Decepticons einen weiteren Trumpf zu haben. Beide Maschinen-Völker stammen vom durch Krieg verwüsteten Planeten Cybertron und tarnen sich auf Erden meist als bunte Angeber-Autos, wenn sie nicht als riesige Kampfroboter alles in Trümmern legen. Ihre weiche Seite zeigen diese Metallberge nur ihrem Freund Sam Witwicky (Shia LaBeouf) - da läuft dem rostfreien Stahl auch schon mal ein Tränchen über den Lack.

So weit wie gehabt, auch eine austauschbare Poster-Vorlage für pubertierende Jungs ist wieder im Bild, der Name ist so nebensächlich wie die Rolle. Doch was machen John Turturro, Frances McDormand und John Malkovich in diesem Kinderkram? Sie machen ihn mit guten, schrägen Rollen zeitweise richtig interessant. Der nicht besonders charismatische Jugendstar Shia LaBeouf darf im Reifungsprozess mit den Großen spielen! Ein ganz Großer ist Regisseur und Produzent Michael Bay nach „Bad Boys" (1995), „The Rock" (1996), „Armageddon" (1998) oder „Die Insel" (2005) längst, nun lässt er seiner filmischen Zerstörungswut auch im Kinderprogramm ganz freien Lauf: Eine lange Verfolgungsjagd mit dauernden Wechseln der Transformer-Zustände zwischen Auto und Kampfmaschine gelang atemberaubend. Nicht nur weil im Detail gezeigt wird, was zwischendurch mit den durch die Luft fliegenden Passagieren passiert, die ja im Roboter keinen Platz mehr haben. Auch die Flugeinlagen einer Handvoll Militärs, die sich auf dem Luftwege das belagerte und mit großem Aufwand zerlegte Chicago einschleichen wollen, sind faszinierend und lohnen tatsächlich noch mal 3D. Der besagte Aufwand fällt nicht nur auf, weil die zweieinhalb Stunden Film mindestens um 30 Minuten Finale mit banalen Prügeleien zu lang sind. Anders als bei plüschigen Pandas aus Fell und Fell und Fell lässt sich hier jedes digital animierte Detail der riesigen Roboter bestaunen. Muss man auch, denn jeder Gedanke über die bescheuerte Handlung, die selbst bei einem fantastischen Abenteuerparcours für Superhelden eine Frau auf High Heels mitschleppt, tut richtig weh. Die Verherrlichung von Krieg und Nation und die in einbrechenden Hochh

28.6.11

Mein Freund Knerten

Norwegen 2009 (Knerten) Regie: Åsleik Engmark mit Adrian Grønnevik Smith, Petrus A. Christensen, Pernille Sørensen, Jan Gunnar Røise 74 Min. FSK o.A.

Bei einem skandinavischen Kinder-Film kann man nicht viel falsch machen. „Knerten" ist jedoch besonders gut gelungen. Die Geschichten des sechsjährigen Jungen Lillebror bilden einen sehr fröhlichen und spaßigen Kinderfilm für ganz junge Kinogänger, der mit ebensoviel Liebe und Sorgfalt wie große Filme gemacht ist.

Lillebrors Familie zieht aufs Land ins eigene Häuschen und schon während der letzten Pinkelpause erscheint dem kleinen Jungen eine Prinzessin im Wald. Andere Kinder gibt es jedoch kaum in der Gegend, so freundet sich Lillebror mit einem Ast namens Knerten an, den die Fantasie bald auch sprechen lässt. Zusammen entdecken sie den kleinen Ort und trotzen zwei dämonischen Mädels. Lillebror lernt den alten Schreiner kennen. Gemeinsam pflegen sie des Jungen Vorliebe für Holz und seine Lust am Schreinern. Er sagt ihm, dass die geschnitzten Figuren schon immer im Holz waren.

Derweil knabbern Ameisen das sehr brüchige Haus an, Vater bekommt seine Damen-Unterwäsche nicht verkauft, die Mutter muss im Gemischtwarenladen arbeiten und der Kleine darf da nicht mit rein. Lillebror bekommt Fieber und muss alleine zuhause bleiben, was zu bösen Albträumen führt. Dann aber bringt die pflegende „Tante Überall" die leibhaftige Prinzessin mit, Knerten spielt nicht mehr die erste Rolle und wird eifersüchtig.

Basierend auf „Kleiner Freund Knorzel", den Knerten-Geschichten der Kinderbuchautorin Anne-Catharina Vestly (1920-2008), entstanden diese Episoden aus den 60er-Jahren. „Mein Freund Knerten" zitiert sogar andere Genres, spielt dauernd mit Strumpfhosen in Farben, die Vater nicht verkaufen kann und bietet auch ein paar Liedchen oder einen flotten Ausverkaufs-Tanz. „Niemals aufgeben" lautet der Leitspruch des Vaters. Dieser Film braucht derartige Aufmunterung nicht: In seinem Heimatland gab es mittlerweile eine Fortsetzung für „Knerten".

The Way Back

USA 2010 (The Way Back) Regie: Peter Weir mit Ed Harris, Colin Farrell, Jim Sturgess, Saoirse Ronan 133 Min. FSK ab 12

„The Way back" könnte nach „Mitten im Sturm" (basierend auf Eugenia Ginzburgs Autobiographie) der zweite Gulag-Film in kurzer Zeit sein. Doch der Abenteuerfilm des hervorragenden australischen Regisseurs Peter Weir („Picknick am Valentinstag", „Fearless", „Truman Show") verabschiedet sich recht schnell vom Lager und ist im Genre sowie topographisch eher verwandt mit dem deutschen Heimkehrer-Epos „Soweit die Füße tragen": Sieben Gefangenen fliehen 1940 aus einem sibirischen Arbeitslager und schlagen sich auf einer zwölfmonatigen Odyssee über 10.000 Kilometer nach Indien durch. Neben dem Überlebenskampf gegen die Naturkräfte liefern die inneren Spannungen der Gruppe viel dramatisches Potential. Geistige-moralischer Anführer ist der polnische Intellektuelle Janusz (Jim Sturgess), der nach dem Einmarsch Stalins von einer durch Folter erzwungenen Falschaussage seiner Frau verraten wurde. Angesichts der mörderischen Zwangsarbeit entscheidet er sich für die ebenso hoffnungslose Flucht im sibirischen Winter. Zur ungleichen Gemeinschaft gesellt gewaltsam der heftig tätowierte Verbrecher Valka (Colin Farrell) - er muss seinen Spiel-Schulden fliehen. Stoisch und geheimnisvoll gibt sich Mr. Smith (Ed Harris), der Senior der Gruppe. Ein russischer Schauspieler erhielt 10 Jahre für den Part eines Adeligen. Als die Männer eine junge Frau auflesen, wachsen die Spannungen, aber die im Überlebenskampf verrohenden Männer besinnen sich auch ihrer kulturellen Erziehung. Für Irena („Hanna" Saoirse Ronan) wäscht man sich wieder und der tierische Egoismus weicht zurück. Die Flüchtenden vermeiden weiterhin jeden Kontakt mit anderen Menschen. Mit dem Frühjahr kommt Hoffnung auf, hinter den eng bewachten Schienen der Transsibirischen Eisenbahn liegt die Grenze zur Mongolei. Doch mittlerweile ist auch China kommunistisch - die Flucht geht weiter.

Das Individuum vor einer überwältigenden Natur - dies vermitteln immer wieder die eindrucksvollen Panorama-Aufnahmen (Kamera: Russell Boyd) in diesem Männer- und Abenteuer-Film. Das beeindruckt in einigen Szenen, aber insgesamt erscheinen die über zwei Stunden Film zu kurz für solch eine Mammut-Flucht. Da schmilzt der Schnee recht plötzlich und man vermutet eher, dass die Schauspieler zum nächsten Drehort gefahren wurden, als dass die Figuren jeden Schritt durch Schnee und Matsch, über Gebirge und Steppen selbst zurücklegten.

Alles Koscher!

Großbritannien 2010 (The Infidel) Regie: Josh Appignanesi mit Omid Djalili, Richard Schiff, Archie Panjabi, Mina Anwar 105 Min. FSK ab 12

Auch wenn sie das mit den Nazi-Scherzen nicht sein lassen wollen, die Briten können mit ihrem unverkrampften Humor brenzlige Themen wunderbar auf den Punkt bringen: Während hierzulange eine nette Harmlosigkeit wie „Almanya - Willkommen in Deutschland" mehr zum Kinoumsatz als zur Diskussion beiträgt, lacht man in England jeden Anflug von Sarazin mit dem pakistanisch-jüdisch respektlosen „Alles Koscher" hinweg. Selbst Bombenstimmung mit depperten Selbstmord-Bombern funktionierte in „Four Lions".

Die Politik der aktuellen Religionskriege schaltet der rundliche Londoner Mahmud Nasir (Omid Djalili) mit dem Fußball-Shirt direkt weg und schaut sich auf dem Fernseher lieber ein Musik-Video seines 80ger-Stars Gary Page an. Der gutmütige Familienvater pakistanischer Abstammung ist zwar etwas erschreckt, dass sein Sohn die Stief-Tochter eines islamischen Hass-Predigers (Originalkommentar: Fatwa-Fresse) heiraten will, doch für sein Kind will er sich eine Zeit lang das Mäntelchen der Gläubigkeit umhängen. Es sollte doch nicht zu schwer sein, aufs Bier zu verzichten, mal in die Moschee zu gehen und auch zu beten, falls jemand zuschaut. Kompliziert wird es erst, als Mahmud Nasir erfährt, dass er adoptiert wurde und eigentlich Solly Shimshillewitz heißt. Als er auf dem „Amt für Waisen und Streuner" gegenüber der Angestellten (im Rollstuhl!) rüde den Namen seiner echten Eltern einfordert und der Sicherheitsdienst auftaucht, gelingt ihm intuitiv sein erster jüdischer Witz: „Man erfährt, dass man Jude ist und plötzlich kommt ein Kerl in Uniform!" Da sein Vater noch lebt und ein rabiater Rabi (klasse: Matt Lucas von „Little Britain") den Zugang zum Zimmer im jüdischen Altersheim versperrt, muss Mahmud nicht nur den Koran, sondern auch im Schnelldurchgang den Talmud sowie das Judentum überhaupt lernen. Seine einzige Hilfe dabei ist ausgerechnet der gehässige Taxifahrer und Erzfeind Lenny Goldberg (Richard Schiff), ein alkoholisierter, amerikanischer Jude, der einige Klischees erfüllt und sich über die anderen selbst bissig amüsiert.

Die Kombination des Buches von David Baddiel (Atheist) mit Omid Djalili (Bahai), dem Comedian britisch-iranischer Abstammung, ist ein Volltreffer! Nicht nur der Slapstick überzeugt, für den Mahmud morgens bei einer Pro-Palästina-Demo seine Kippa verbrennt und diese dann angekokelt bei einer Bar Mitzwa nachmittags auf dem Kopf trägt. Es ist das humoristische Schnellfeuer aberwitziger Situationen, in denen die Absurdität von Religion mit den Mitteln des Witzes vorgeführt wird. Mahmud selbst wäre es ziemlich egal, was er eigentlich ist, auch wenn er sich öfter mal nachdenklich an die große Nase fasst und seine kleine Tochter heiliger Krieg spielt. Doch seine zeitweilige Unbestimmtheit wächst zu einem nationalen Skandal heran.

Die Story zeigt vor allem beim finalen rührseligen Bekenntnis als Deus ex machina ein paar Schwächen. Die Qualitäten des durchgehend respektlosen Humors liegen jedoch in genauester Kenntnis der Zielobjekte: Während Seitenhiebe auf Osama bin Fladen am laufenden Meter abfallen, staunt man über einen Iman, der Schwulsein noch toleriert, aber niemals einen Ungläubigen. Der Jüdisch-Schnellkurs, mit dem Ziel, das Verlangen zu spüren, „deinen Besitz auf einen hölzernen Karren zu werfen und ihn langsam und traurig aus einem brennenden Dorf zu ziehen", wäre in einem deutschen Film undenkbar. Doch gerade im Wissen zum Beispiel um die enge Verwandtschaft der mosaischen Religionen liegt auch für Mahmud die Moral der Geschichte und das Imprägnier-Spray gegen religiöse Eiferer.

Naokos Lächeln

Japan 2010 (Norwegian Wood) Regie: Tran Anh Hung mit Kenichi Matsuyama, Rinko Kikuchi, Kiko Mizuhara 133 Min. FSK ab 12

Ein Treffen zweier Kulturgiganten, dazu ein Evergreen der Popgeschichte: Tran Anh Hung, der Regisseur von „Der Duft der grünen Papaya", verfilmt einen Murakami-Roman, erstaunlicherweise erst der zweite Film nach diesem populären Japaner. Dazu gibt der Beatles-Song „Norwegian Wood" die knappe Grundidee und den Originaltitel. Die Fans der atmosphärisch extrem dichten wie poetischen Bildsprache des vietnamesischen Regisseurs werden auf jeden Fall auf ihre Kosten kommen.

Schon in die noch fröhlichen Bilder einer Freundschaft zu dritt schleicht sich ein kalter, blauer Farbton. Der Selbstmord des jungen Kizuki - im Buch zurückhaltender erzählt - wird bald zwei Menschen tragisch miteinander verbinden. Das Wiedersehen des Studenten Toru Watanabe (Kenichi Matsuyama) mit Kizukis Freundin Naoko (Rinko Kikuchi) entwickelt sich dann langsam über Spaziergänge zu einer neuen Beziehung. Sie sind noch keine 20 und wollen doch nie so alt werden. An Naokos Geburtstag schlafen sie miteinander, worauf sie am nächsten Tag verschwunden ist. Er führt sein Studentenleben mit schweren Jobs und einem seltsamen Mitbewohner weiter. Im Hintergrund laufen - nett kostümiert und ausgestattet - die End-Sechziger Studentenproteste gegen amerikanische Besatzer. Erst sieben Monate später kommt aus einer psychiatrischen Klinik in den Bergen ein langer Brief von Naoko. Watanabes Besuch verstärkt die depressive Stimmung dieser Beziehung. Doch er fühlt weiter eine Anziehung, vielleicht ist es nur Pflichtgefühl. In der Stadt spielt währenddessen die kecke, immer lächelnde, anderweitig gebundene Midori (Kiko Mizuhara) sexuell andeutungsvoll mit dem jungen Mann, den bereits eine schwierige Frau überfordert.

„Naoko Lächeln" ist kein fröhlicher Film, aber ein schön schwerer. Es fühlt sich an, als ob eine blaue Blume der Melancholie zwischen den Seiten des Drehbuchs getrocknet wurde. Das große Geschenk an betörenden und unterbewusst wirkenden Bildern nimmt einiges von der typischen mystischen Stimmung Murakamis, die bei diesem sehr frühen Roman sowieso nicht so ausgeprägt war. Es gibt keine Schafsmänner, sprechende Katzen oder mystische Brunnenböden. Durch die Kraft der Bilder und die Musik entsteht eine eigene Geschichte - eigentlich das Beste, was einer Literaturverfilmung passieren kann. Der knappe Text des Songs „Norwegian Wood" entspricht der Stimmung in der Klinik. Murakami legt in seinen Büchern immer einen Soundtrack aus. Der dieses Films ist weniger jazzig, ergänzt trotzdem den Augenschmaus mit sehr prägnantem Musikeinsatz, der an Godard und die Handlungszeit in Frankreich stattfindende Nouvelle Vague erinnert. Auch auf dieser Ebene bleiben Dissonanzen nicht aus. Die Seelenlandschaften des Protagonisten steigern sich zu einer expressiven Winterreisen-Bebilderung, zu zerklüfteten Felsen, in denen Watanabe seine Zerrissenheit im Schmerz vergräbt. Zu sagen, dass er zwischen zwei Frauen und zwei Lebensprinzipien steht, wäre eine grobe Verkürzung. Doch es gibt eine schwere, bleierne Beziehung und die lebendige, mit Midori.

In der Reihe von Verfilmungen toller Songs - „I want you", „Grand Torino" .... - ist „Norwegian Wood" nicht kongenial aber auf eigene Tran Anh Hung-Weise sehr schön.

23.6.11

Die Kloreolis-Kraft


Physikalische Energie, die Wasser in den Kloschüsseln immer rechtsrum ablaufen lässt (und alles andere auch). Gilt auf der ganzen Erde, außer in Australien, da haben die Klempner irgendwas falsch angeschlossen. Die Kloreolis-Kraft wurde von Alfred Hitchcock 1960 während des Drehs zu „Psycho“ entdeckt.

(aus K. Lauer: Das bebilderte SexiLexikon des Weltwissens fürs 21. Jahrhundert)

(gesponsert von „Wer wird Schulden-Millionär“, dem Quoten-Hit von RTL-Greece)

Nina H hat se nicht mehr alle


Wer es noch nicht wusste: Nina Hagen, das verrückte Punk-Mädel aus bester DDR-Familie, ist letztens auf den Kopf gefallen und wurde Christin. Jetzt muss die arme Tochter Cosima in Maria umgetauft werden und die alten Lieder („und ich schwitze auf der Ritze“, „Hermann ist high“) dauern zensiert nur noch ein paar Sekunden.

Dafür heißt es jetzt: „Jesus lebt!“, statt Hermann ist nun Jesus ihr Freund. Das ergibt lahmen Gospel für Gutmenschen zum Abgewöhnen. Das klingt akustisch und vom Bewusstseinsstand nach Schülerband - nur die Sängerin ist mit Peace-Fahne bunter angezogen und ihre Stimme schon kaputt. Ein Kirchen-Konzert (wo sonst) bezeugte diese Selbstdemontage eines einst freien Geistes an einem Dienstag. Nina Hagen, die bislang mit esoterischen Trips unterhielt, vergnügt nun schunkelnde Christen, das ist genau so pervers wie ein Kirchentag im fast atheistischen Dresden. Personal Jesus - klasse Lied, aber nicht so. Dafür ist Johnny Cash nicht am Kreuz unseres schlechten Musikgeschmacks gestorben. Aus Babylon kamen sieben Plagen, aus der DDR Merkel und Nina Hagen.

Bei Klampfe und religiösem Gekrampfe boten nur die Lieder von Stiefvater Biermann Erlösung aus der Verdammnis ewiger Harmlosigkeit. Wie für Kinder oder Katholiken was in vielen Bereichen das gleiche ist. (Wir sind alle Gottes Kinderschänder!) Nicht mal das Weihwasser war wie beim Schülerball mit Wodka verlängert.

Da ist plötzlich „unser geliebtes Amerika“ „wunderschön“ und Kasperle-Theater auf Bibel-TV wird ERNSTHAFT gepriesen. Unglaublich. Das kann nur ein großer raffinierter Plan sein, wahrscheinlich masturbiert NH nachmittags auf den Proben in der Sakristei und entweiht so auf ihrer Tournee sukzessive alle Kirchen, bevor die Austrittswelle sie sowieso zu Büros oder Buchhandlungen verfeinert. Weltfrieden und Danke für diese Volte rückwärts. Danke, aber nein danke!

22.6.11

Bibliothèque Pascal

BRD, Ungarn, Großbritannien 2010 (Bibliothèque Pascal) Regie: Szabolcs Hajdu mit Orsolya Török-Illyés, Andi Vasluianu, Shamgar Amram, Razvan Vasilescu 111 Min. FSK ab 16


Fantasie oder Realismus? Der reizvolle Film von Szabolcs Hajdu lässt einem öfters die Wahl: Er beginnt mit dem bürokratischem Sermon eines Kinderschützers. Mona, die verschüchterte Mutter, die ihr Kind wiederbekommen will, erklärt ihre zeitweilige Abwesenheit mit einer wilden, grell-bunten Geschichte. Die fantastische Odyssee von Mona, einer Rumänin ungarischer Abstammung, startet mit einem Volksfest. Den Hintergrund einer heißen musikalischen Einlage für den Bürgermeister bildet ein heruntergekommenes Wohnsilo. Das folgende Eifersuchts-Chaos vertreibt Mona, die Zufallsbekanntschaft eines Gangsters, der sich auf der Flucht neben ihr im Sand vergraben hat, führt zu einer außerordentlichen Liebesnacht. Während seines Schlafes sind die surrealen Träume des charmanten Gauners auf den Tapeten des Raums zu erleben. Doch die Liebe endet schon am nächsten Morgen mit der Erschießung des Mannes. Mona zieht mit der gemeinsamen Tochter Jahre später über die Jahrmärkte, bis sie in die Hände brutaler Frauenhändler gerät. Die märchenhafte Geschichte wandelt sich in einem Liverpooler Bordell zu einem erschreckenden Horror-Trip. Ein sich als Künstler gebender Zuhälter regelt sadistische Zurichtung, Vergewaltigung und macht sie vom Heroin abhängig. Ebenso bitter wird währenddessen die Tochter mit ihrer geerbten Eigenschaft, Träume zu projizieren, von einer Tante mit Alkohol vernebelt und zur Schau gestellt. Nach dem wunderbar fantastischen Zusammentreffen beider Handlungsstränge hat der Realismus wieder das Wort. Der Beamte kann Mona nichts glauben, sie muss eine trübe Geschichte erzählen, um wieder mit der Tochter vereint leben zu können.

Wie bei „Sucker Punch" dient die Fantasie als Flucht. Oder doch nicht? Szabolcs Hajdu erzählt eine originelle, offene Geschichte mit hervorragender Filmkunst und gutem Schauspiel. Im Zentrum des Geschehens um am Rand erfreuen lauter Figuren, die absurde Dinge tun. Das Staunen endet nie.

Die Frau, die singt

Kanada, Frankreich 2009 (Incendies) Regie: Denis Villeneuve mit Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, Rémy Girard, Abdelghafour Elaaziz 133 Min.

In Quebec wird das Testament einer Mutter eröffnet, die unüberhörbar verbittert gestorben ist. Es enthält zwei Aufgaben an ihre Kinder, die Zwillinge Simon und Jeanne. Der wütende Sohn soll seinen Bruder finden, die weinende Tochter ihren Vater. Dann würden sie einen weitern Brief erhalten. Der Bruder wehrt alle Wünsche ab, er will endlich Frieden haben und ein normales Leben. Für ihn war „die Kindheit ein Messer in der Kehle". Jeannes väterlicher Professor rät ihr mit dem Vokabular der reinen Mathematik zur Suche in Jordanien, ansonsten solle sie sich auf ihre Intuition verlassen.

Zusammen mit Jeanne erforscht der Film die Erinnerungen der Mutter Nawal an grausame Zwänge von Familienehre im Orient, an Brüder, die ihren Freund einfach erschießen, an das Weggeben ihres Sohnes direkt nach der Geburt. Die verständnisvolle Oma lässt Nawal weggehen und schickt sie zur Schule. Bei einem Onkel in der Stadt setzt sich die Christin für moslemische Flüchtlinge ein, während der Bürgerkrieg in den Siebzigern aufflammt. Ausgerechnet jetzt schlägt Nawal sich alleine durch besetzte und verwüstete Zonen, um ihren Sohn in einem Waisenhaus zu finden. Das religiös aufgeheizte Massakrieren, bei dem unter anderem Schergen mit einem Marienbildchen auf dem Maschinengewehr morden, lässt sie Rache schwören. Sie erschießt den politischen Führer der Christen. Deren Rache im Gefängnis ist brutal, nach vielen Vergewaltigungen wird sie schwanger und die Folterer warten mit der Freilassung, bis nach der Geburt. Trotzdem ist sie im ganzen Land bekannt als „die Frau die singt", weil sie niemals aufgab und immer sang.

Jeanne sucht die Orte auf, an denen ihre Mutter im gleichen Alter gelebt hat. Die Handlungen sind organisch miteinander verbunden. In warmen Farben, mit immer wieder zwischendurch sehr ruhig atmenden Momenten und dem Radiohead-Song „You and Whose Army?" fließt das schwer erschütternde Meisterwerk zwischen der Handlung und intensiven Porträts von Gesichtern, in langsamer Annäherung der Kamera vor unscharfem Hintergrund.

Dieser grandiose Film von Denis Villeneuve („Der 32. August auf Erden", 1998), der thematisch Julian Schnabels „Miral" ähnelt, basiert auf einem Theaterstück von Wajdi Mouawad, was man ihm jedoch niemals anmerkt. Er überzeugt durch eine packende Erzählung auf mehreren Ebenen, eine spannende Suche, durch dramatische persönliche Schicksale, die immer noch für viele Konflikte auf der ganzen Welt stehen. Ein bild- und ton-gewaltiges Drama mit einer Prise Humor und extrem guten Schauspielerinnen. Das Erkennen, wie sich eine Familie, die ein Volk gegenseitig auslöscht und quält, ist kaum zu ertragen. Wenngleich die Hoffnung auf das Recht - „das Notar-Wesen, das es zu Noahs Zeiten leider noch nicht gab" - sowie ein Ende des Kreislaufes aus Brudermord und Blutrache zu einem erstaunlich versöhnlichen Ende führt.

21.6.11

Mr. Nice

Großbritannien 2010 (Mr. Nice) Regie: Bernard Rose mit Rhys Ifans, Chloë Sevigny, David Thewlis, Omid Djalili 120 Min. FSK ab 12

Vorhang auf für die One-Man-Show eines berühmten Dealers: Howard Marks erzählt strikt subjektiv sein bewegtes und verqualmtes Leben. Basierend auf dessen erfolgreicher Biographie inszenierte Regisseur Bernard Rose eine sehr entspannte, toll ausgestattete und gut gespielte Selbstdarstellung ohne Brüche oder moralischen Zeigerfinger.

Regisseur Rose hält sich als Kameramann sehr zurück, es sind eher die Inszenierungs-Ideen und die verrückten Ideen von „Mr. Nice", die Eindruck machen. So beginnen die Kindheitserinnerungen Marks' aus den 70gern in schwarz-weiß, aber schon mit dem erwachsenen Rhys Ifans („Human Nature", „Twin Town") in der Rolle des Kindes. Aus einem walisischen Dorf gerät das gehänselte, aber sehr intelligente Kerlchen an die Uni von Oxford, wo es sich seine Naivität noch ein wenig erhält. Dann während seines ersten Joints sieht Howard Marks die Welt in Farbe, es folgt der erste Kuss und das überraschende Geständnis, ein Dealer sei bloß jemand, der mehr Gras hat, als er selber rauchen kann. Dabei wollte er es eigentlich alles selbst rauchen. So gestaltet sich der Start in die Dealer-Karriere als „flow", alles geht von selbst, Probleme gibt es keine. Während der „film-dienst" selbstverständlich drauf hinweisen muss, dass der Genuss der Einstiegs-Droge Marihuana alle möglichen Folgen haben kann - bis hin zu schlechten Filmen - ist hier ein Joint die Lösung für alles: Wenn der eifersüchtige Mann seine Freundin mit Howard erwischt - bietet man ihm einen Joint an. Der IRA-Boss Jim McCann (David Thewlis) will den mittlerweile national agierenden Drogenhändler ins Bein schießen - doch der Joint als letzter Wunsch vor der Exekution macht die beiden zu Partnern im groß angelegten Schmuggel. „Mr. Nice", so lautet später Howards Deckname, erzählt über lange Strecken so entspannt, dass man sinniert, wie viel Gras wohl beim Drehbuchschreiben dieser Produktion in Rauch aufgegangen ist.

So ist das Leben von Howard Marks oft Sex and Drugs - und statt Rock'n'Roll die serielle Musik von Philip Glass: Eine Heirat mit zwischenzeitlicher Deal-Abstinenz, die neue Liebe zu Judy (Chloë Sevigny), nette Ausflüge zur Hasch-Plantage und -Produktion in Pakistan. Später wird es etwas komplizierter, als ein alter Freund Howard bittet, für den britischen Geheimdienst MI6 zu spionieren. Die fast unglaubliche Geschichte ist sogar witzig an Stellen, die eigentlich nicht so beabsichtig sind: Klasse, wie schwierig in Vor-Handy-Zeiten große, internationale Geschäfte aus Telefonzellen zu führen waren. Mit albernen Code-Worten für die verschiedenen Lieferungen, die immerhin irische Dorf-Telefonistinnen verwirren.

Im Gegensatz zu andern Dealer-Storys geriet dieser „Blow" sehr undramatisch. Selbst ein heftiger Auto-Crash in irischen Wiesen sieht nach großartigem Abheben aus. Obwohl mit großem inszenatorischen Können gestaltet und recht unterhaltsam, verläuft „Mr. Nice" selten spannend. Erst nach der letzten Verhaftung muss Familienmensch Howard leiden. Vor dem US-Gericht stellt er sich als Spion dar, der international in gefährlichen Missionen für sein Vaterland tätig war. Es hilft nicht, das Urteil lautete auf 25 Jahre. Doch es geht auch diesmal wieder gut, sogar ohne Drogen. Howard Marks verabschiedet sich unter Applaus aus der eigenen Geschichte, der Vorhang fällt. Nett, Mr. Nice!

Der Mandant

USA 2011 (The Lincoln Lawyer) Regie: Brad Furman mit Matthew McConaughey, Ryan Phillippe, Marisa Tomei, William H. Macy, John Leguizamo 118 Min. FSK ab 12

Das breite Zahnpasta-Lächeln unter der gegelten Frisur kann nicht lange täuschen: Mick Haller (Matthew McConaughey) ist Anwalt und ein krummer Hund. Er verbiegt schon mal das Recht, wenn er besonders schnell seinen Klienten abgehandelt sehen will, legt sich mit Rockern und andern an, um noch etwas mehr Geld raus zu schlagen. Zum Abschied geben ihm die meisten Partner ein paar üble Schimpfworte mit. Der billige Show-Anwalt kommt mit kleinen, miesen Tricks über die Runden bis er beim Vergewaltigungs-Prozess gegen den arroganten Louis Roulet (Ryan Phillippe) sein Gewissen entdeckt.

Das Jüngelchen besteht mit voller Unterstützung der Mutter und ihres Geldes auf seine Unschuld und lehnt die Deals ab, die doch die Spezialität von Mick Haller sind. Sein Assistent und Schnüffler Frank Levin (William H. Macy) ahnt schon früh, dass hier etwas nicht stimmt und muss diesen Verdacht mit dem Leben bezahlen. Spät erkennt der aalglatte Anwalt, dass er in einer Falle steckt und setzt wider besseres Wissen all seine Raffinessen ein, um den Schuldigen frei zu bekommen. Nach ein paar ziemlich gewitzten Winkel(advokaten)Zügen siegt Mick im Gerichtssaal, muss aber noch draußen auf den Straßen Tochter und Ex-Frau verteidigen.

Dass Mick Haller kein Büro hat, sondern vom Rücksitz seiner schwarze Lincoln-Limousine arbeitet, ist nicht nur ein kleiner Scherz zur Charakterisierung dieser Figur. Der Name dient selbstverständlich auch als höhnischen Verweis zu dem als wesentlich ehrenwerter geltenden Anwalt und Präsidenten Abraham Lincoln. Doch während der dramatische Ablauf von „Der Mandant" so einfach gestrickt ist, wie der Filmtitel klingt, bleibt Matthew McConaugheys Anwalt reizvoll ambivalent. McConaughey („Die Herrschaft des Feuers", „Contact") steht diese Rolle sehr gut. Ryan Phillippe darf den Verbrecher und genialen Schauspieler Louis spielen und wirkt auch hier eindimensional. Die Jury konnte kein eindeutiges Urteil zu „Der Mandant" fällen, da sich schwache und gute Momente die Waage halten.

Schlafkrankheit

BRD, Frankreich, Niederlande 2011 Regie: Ulrich Köhler mit Pierre Bokma,  Jean-Christophe Folly,  Jenny Schily, Hippolyte Girardot,  Sava Lolov 91 Min.

Der 1969 in Marburg/Lahn geborene Regisseur Ulrich Köhler lebte 1974-79 mit seiner Familie in Zaire, heute Kongo. Nach seinem Spielfilmdebüt „Bungalow" (2002) sowie „Montag kommen die Fenster" (2006) kehrt er mit dieser überraschenden Geschichte nach Afrika zurück: Ebbo und Vera Velten leben als Entwicklungshilfe-Mediziner seit Jahrzehnten in Afrika. Nun muss er sich aus Kamerun verabschieden, wo er ein Schlafkrankheitsprojekt leitete. Zusammen mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Helen, die in Deutschland ein Internat besucht, verbringen sie ein paar Urlaubstage vor dem Umzug. Das Haus wird aufgelöst, eine letzte Evolution mit den einheimischen Partnern macht die Sinnlosigkeit einer Verlängerung des Projekts deutlich. Vera möchte zurück ins deutsche Leben, zur Tochter. Am letzten Tag - Vera und Helen sind schon abgereist - steht Ebbo im ausgeräumten Haus und kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Ein harter Schnitt führt zu Alex Nzila, einem französischen Mediziner mit kongolesischen Wurzeln. Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) soll er den Stand eines Schlafkrankheits-Projekts protokolieren. Dessen Leiter heißt Ebbo Velten, ist aber unauffindbar. Geschwächt von einer plötzlich auftretenden Krankheit landet Alex Nzila in einer mysteriösen Welt, deliriert zwischen heruntergekommen Hospitälern und fantastischen Touristen-Projekten herum. Der hilflose Gutachter wirkt vollends lächerlich, als er einen Kaiserschnitt bei Ebbos einheimischer Geliebten mit telefonischer Anleitung hinbekommen muss, die Übelkeit ihn aber übermannt.

Die erste Hälfte der „Schlafkrankheit" erinnert an diese gerade wieder modernen Ausbreitungen von Innerlichkeit auf der Leinwand. Diesmal mit dem dekorativen Hintergrund Afrikas. Oder versucht sich hier jemand an die Dickschiffe belgischer und französischer Kolonialgeschichten ranzuhängen? Doch eine raffinierte Ellipse mit Perspektivenwechseln irgendwo in der Mitte, enttarnt eine sehr reizvolle Psycho-Story in der Tradition von Joseph Conrads „Heart of Darkness". Wie einst Colonel Kurtz in „Apocalypse Now" sich mit Captain Benjamin L. Willard das eigene Exekutionskommando bestellte, holt sich der flämische Dr. Ebbo Velten jemanden von der Weltgesundheitsorganisation zur Evolution seiner sinnlosen Impfprojekte, weil er aus eigener Kraft nicht mehr von Afrika loskommt. Der anfängliche Besuch seiner Tochter, die zwei Jahre lang in einem Internat war, kann nachträglich auch als Befreiungsversuch gesehen werden. Der jedoch scheiterte: Velten ließ Frau und Tochter nach Deutschland vor-fliegen und blieb zurück. Das Ende greift eine mythische Geschichte um ein Flusspferd wieder auf und erinnert an den thailändischen Cannes-Sieger „Onkel Boonmee".

Dass mit dem Verschwinden der Hauptfigur und dem Auftauchen eines Flusspferdes im Finale und mit dem irritierenden Bruch in der Mitte auch ein Gedanke an den Cannes-Sieger Apichatpong Weerasethakul entsteht, ist tatsächlich kein Zufall. Der „taz" erzählte Köhler anlässlich der Berlinale-Premiere, dass ihn der Thailänder „sehr beeindruckt und beeinflusst" habe: „Nach ‚Bungalow' habe ich ‚Blissfully Yours' zum ersten Mal gesehen. Seither schaue ich mir die Filme immer wieder an und halte ‚Syndromes and a Century' für den tollsten Film, den er gemacht hat." Die Nilpferdgeschichte stammt allerdings schon aus Köhlers Kindheit.

„Schlafkrankheit" braucht sich hinter dem thematisch ähnlich gelagerten „White Material" von Claire Denis und mit Isabel Huppert nicht zu verstecken. Er ist sogar klarer und trickreicher. Reflexhafte und simple Kolonialismus-Vorwürfe hebelt „Schlafkrankheit" geschickt aus: Während der Weiße Velten „sein" Land so sehr lieb, dass er sein Leben dafür (auf-) gibt, wird der schwarze Franzose Nzila vorgeführt, der sich vor lauter Panik und Vorurteilen wie ein dummer Tourist aufführt. Auch das erstaunlich selbstsichere Verhalten Ebbos gegenüber Korruption und Polizeigewalt liefert Diskussionsstoff. Afrika ist hier weder ein naiver Traum noch ein pures „Problem". „Schlafkrankheit" - ein überraschender, schöner und ganz schön kluger Film.

 

15.6.11

Eine Insel namens Udo

BRD 2011 Regie: Markus Sehr mit Kurt Krömer, Fritzi Haberlandt, Bernd Moss, Kari Ketonen 80 Min.

Auch wenn Sie ihn nicht sehen, Sie sollten ihn sich unbedingt ansehen: Udo (Kurt Krömer) ist ein menschlicher blinder Fleck, ein Wesen ohne Spiegelbild obwohl kein Vampir. Seit seiner Kindheit wird er immer übersehen, was ihn zum Goethe unter den Kaufhaus-Detektiven macht. Dass ihn niemand sieht, wenn er nicht spricht oder sonst wie auf sich aufmerksam macht, hört sich nach schwierigem Leben an - doch Udo hat aus dem Makel eine Kunst gemacht. Unbemerkt gleitet er durch die Menschen seines Kaufhauses, schnappt sich hier ein Schnittchen, schaut dort schnell in der Handtasche nach, ob die reiche Dame das Klauen wirklich nötig hat. Denn wenn jemand in Not ist, übersieht Udo auch ihn. Ach ja, Udo lebt auch im Kaufhaus, schläft im Zelt - es sieht ihn ja keiner.

Bis die Stimme von Jasmin (Fritzi Haberlandt) alle Umstehenden laut auf den unbeobachteten Teilchen-Dieb aufmerksam machen will. Vergebens, nur die Hotelfachfrau, die in der Stadt ihren Vater bestatten muss, erkennt das menschliche Chamäleon auf Anhieb. Udo ist irritiert, genießt er doch sein einsames Leben unter Menschen. Doch - im schnellen Vorlauf überspringen wir mal viele wunderbare Scherze des bis in kleinste Details herrlich komischen Films - beide werden vorsichtig ihre emotionalen Schneckenhäuser verlassen. Obwohl sie im Erkennen wie füreinander geschaffen scheinen, ist der Weg zum Glück mit sehr schön inszenierten Hindernissen gepflastert. Dass Udo nach der ersten Liebesnacht im Zelt der Outdoor-Abteilung plötzlich von allen Menschen erblickt und auch noch nackt ist, gehört zu den ganz großen Knallern der Komödie. Er muss sich nun mühsam und saukomisch an das normale Leben eines Sichtbaren gewöhnen, während die ewig unentschlossene Jasmin überall Urnen für ihren Vater sieht und für ein neues Hotel im Wilden Osten Pagen-Uniformen im Diktator-Stil entwirft.

Der aus seiner „Internationalen" TV-Show bekannte Kurt Krömer spielt sehr zurückhaltend und erweist sich mit verschmitztem Lächeln und verdattertem Blick als geniale Besetzung. Fritzi Haberlandt wirkt als überarbeitete Hotel-Managerin ohne Wohnung mal fast normal kauzig. Das Humortempo erreicht bei Dialogwitz und sanftem Slapstick (Buch: Clemente Fernandez-Gil, Markus Sehr) einen für deutsche Filme seltenen Schwung. Auch Ausstattung, die Musik, die beim ersten Date aus dem Autoradio passende Tipps gibt, oder die starken Nebenfiguren - alles passt in dieser sagenhaft guten Komödie. Bis in verspielte Details am Rande, wenn etwa Hannelore Elsner im Fernsehen in ihrer Rolle als Anne Frank angekündigt wird. Hier haben die Filmemacher unter Führung des Kino-Debütanten Markus Sehr viel Spaß gehabt und ihn volle Kanne an das Publikum weitergegeben.

Fremd Fischen

USA 2011 (Something Borrowed) Regie: Luke Greenfield mit Kate Hudson, Ginnifer Goodwin, John Krasinski, Colin Egglesfield 108 Min. FSK ab 12

Was kann alles bei einem Film schiefgehen? Zählen wir mal durch: 1. Der deutsche Titel „Fremd Fischen" erobert mit seiner Sinn- und Bezugsfreiheit direkt eine Top-Position unter den jährlichen Marketing-Patzern. Denn die langweilige Rachel (auch langweilig: Ginnifer Goodwin) hat nix mit Fischen am Hut, sie braucht fast zwei Kinostunden und zu viele Jahre, um sich von der nervig lauten Besten Freundin Darcy (Kate Hudson) die unfreiwillig verliehene perfekte Liebe Ethan (John Krasinski) zurückzuholen. Da meint der Original-Titel „Something Borrowed", etwas Geliehenes.

Mit den Darstellern sowie der unoriginellen, zu lahm ausgespielten Handlung hätten wir schon Problempunkte 2-5 erledigt. Selbst Kate Hudson, die in „Almost Famous - Fast berühmt" so gefiel, wirkt wie ein abgehalfterter B-Star. Während Michael Douglas im Fernsehen die Folgen eines Seitensprungs durchlebt, wünscht man sich, dass „Fremd Fischen" keine romantische Geschichte, sondern ein Thriller sei - bei dem Darcy möglichst schnell umgebracht wird. Details von ekelhaft eskapistisch gestalteten New Yorker Luxus-Leben der verklemmten Juristin Rachel und der vor ihrer baldigen Hochzeit noch exaltierteren Darcy machen diesen stinkenden Fisch-Film nur noch schlimmer. Wenigstens bieten die sechs Freunde, die sich an den Wochenenden in den exklusiven Hamptons vergnügen, minimale Ratemöglichkeiten, wer denn am Ende wohl wen bekommt. Da auch dies sehr vorhersehbar bleibt, macht das Raten nur bedingt Spaß. So wie das komödiantische Potential in diesem auf traurige Weise verhunzten Film kaum ausgespielt wird. Dass sich die Frauenfreundschaft in diesem Frauenfilm ausgerechnet um einen Typen dreht, der Aussehen und Ausstrahlung eines Tom Cruise Aufstellposters hat, könnte allein den restlichen Film torpedieren.

13.6.11

The Tree of Life

USA 2011 (The Tree of Life) Regie: Terrence Malick mit Brad Pitt, Jessica Chastain, Sean Penn, McCracken 138 Min.

Regisseur Terrence Malick ist in seiner Karriere ein Pseudonym für „langerwartet" geworden und auch bei „The Tree of Life" hat sich das Warten gelohnt: Das eindrucksvolle Opus erhielt im Mai die Goldene Palme von Cannes - ein Jahr nach der geplanten Premiere zum Festival 2010. Malick wollte noch am Schnitt des Films arbeiten. Offensichtlich hat er in dem Jahr den Goldenen Schnitt gefunden - „The Tree of Life" ist ein eindrucksvolles, epochales Meisterwerk.

Am Anfang war das Licht. Genauer, ein pulsierender Lichtfleck. Dann nimmt sich „The Tree of Life" die Zeit, ganze Galaxien von Lichtbildern zu überwältigenden Sequenzen zu verbinden. Darin, quasi als kleines Staubkorn im All, die Handlung um eine Familie aus dem Mittleren Westen der USA, mit Brad Pitt, Sean Penn, Jessica Chastain und den jugendlichen Darsteller von drei Brüdern. Einige Jahre später lautet der Auftrag an den erwachsenen Sohn Jack (Penn) und den Film "Finde mich!" Es gilt, über seinen mit 19 Jahren verstorbenen jüngeren Bruder nachzudenken und dazu gibt es viele Fragen an die Vergangenheit sowie die dauernde Anrede des Himmels im Geiste Hiobs: „Gott, wo warst du?" Gedankenströme wie im „Himmel über Berlin" verweben sich mit dem Fluss der mächtigen Bilder und klassischen Kompositionen. Malick gewährt Gebäuden und Sternhaufen die gleiche liebevolle Aufmerksamkeit wie seinen Wiesen und Feldern in „Days of Heaven" (1978), „Der schmale Grat" (1998) und „The New World" (2005). Selbst die Architektur-Blöcke, in denen der erwachsene Jack arbeitet, wurden enorm sinnlich gestaltet. Die konventionellen Spielszenen sind dabei in der Unterzahl, wobei auch sie alles andere als gewöhnlich sind: Der „Standpunkt" der Kamera von Emmanuel Lubezki fließt und schwebt immerfort.

Unbeschreiblich! Das ist vielleicht das Beste, was man über einen Film sagen kann, der mehr als Geschichte ist, der sich nicht in Worte fassen lässt. Und „The Tree of Life" ist über lange Strecken so ein purer Film. Der schwer zu fassen ist. Dieses Leben im Schnelldurchgang atemberaubend schöner Bild- und Ton-Collagen polarisiert extrem. Das Gegeneinander von „Natur" und „Gnade", verkörpert durch die harte Erziehung des Vater und die liebevolle Mutter, sahen einige mit der Hinwendung an ein höheres Wesen als „Gottesdienst". Aber Malick bebildert eindeutig eine Evolution, keine Schöpfung. Zwar sehr gläubigen Menschen, aber vor allem der Vater kann seine eigenen strengen Regeln nicht einhalten. Der Versuch, das Leben zu kontrollieren, kopiert die Vermessenheit Hiobs, sich mit einem gottgefälligen Leben vor Unbill schützen zu wollen. Doch mit der Härte seiner Erziehung – „Toscanini machte einmal 65 Aufnahmen und sagte, es könnte besser sein!" - treibt er zumindest einen Sohn Jack zu Aggression und Gewalt. Der kleinere, sanftere scheint der Musikbegeisterung des Hobby-Organisten zu folgen. Doch all dies sind nur kleine Episoden in einer großartigen Schöpfung, die in unfassbar vielen, oft mitreißenden Momenten viele Möglichkeiten zum Genuss und zur Interpretation anbietet. Erst nach einiger Zeit und vielen Sichtungen wird man die ganzen wundersamen Verästelungen von „The Tree of Life" erfassen können.

Kung Fu Panda 2

USA 2011 (Kung Fu Panda 2) Regie: Jennifer Yuh 90 Min.

Po, der tollpatschigste Kung Fu-Held des alten Chinas, ist wieder da und besser in Form als je zuvor. „Kung Fu Panda", der erfolgreiche animierte Spaß um den pummeligen Panda wurde noch rasanter, dazu gesellten die Autoren Jonathan Aibel und Glenn Berger eine kräftige Dosis persönliches Drama.

Der Drachenkrieger Po und seine tierischen Gesellen der Furiosen Fünf nehmen es diesmal mit düsteren Gegnern auf. Der ehemalige Feuerwerks-Meister Lord Chen - ein Saruman-Nachbau aus China und ein Pfau-Schurke mit viel Charakter um den sadistischen Schnabel - betreibt eine rauchende und funkensprühende Waffenschmiede, seine grimmigen Wölfe rauben in den Dörfern Metall und seltene Erden. Aus dem lustig den Nachthimmel dekorierenden Schwarzpulver werden Feuerwaffen, die das Ende von Kung Fu bedeuten werden, wie man es ähnlich nebenan in Japan bei Tom Cruise als „Letzten Samurai" erlebte. Doch diesmal steht ein dicker Panda in zu engen Shorts der Entwicklung mörderischer Kriegstechnik im Wege.

Zur Freude am exzellenten Zeichentrick gesellt sich Freud, wenn Po die großen Fragen der Panda-scheit klärt. Na ja, zumindest eine: „Wo komme ich her?" Die immer öfter aufflackernden Erinnerungen Pos, der als Sohn eines Reihers aufwuchs, bringen noch mehr flotte Stile in den Film. Chens Geschichte erzählt sich mit Papiermarionetten. Klasse und witzige Ideen im Minutentakt hageln auf die Zuschauer ein wie Hiebe auf die Gegner. Da verschluckt ein Straßenumzugs-Drache reihenweise böse Wölfe und von oben sieht das labyrinthisch aus wie beim alten chinesischen Arkaden-Spiel Pac Man. Die Action-Achterbahn des erfolgreichen Teamworks rast auf Schubkarren durch die Gassen und über schmucke Giebellandschaften. Die vielen auffälligen 3D-Effekte zusammen mit den extrem detailliert ausgearbeiteten Fell- und Stoff-Fasern führen zu erstaunlich plastischen Figuren, die man meint, knuddeln zu können. Dazu tönt ganz dick dramatische Musik von John Powell und Hans Zimmer.

Die Kung Fu-Kämpfe sind viruos wie bei den Meistern, die im Film Ochse und Kroko heißen, in der Filmgeschichte Bruce Lee oder Jacky Chan. So erweist „Kung Fu Panda 2" dem Eastern seine Ehrerbietung und behandelt gleichzeitig ganz jetzige Probleme vieler Kinder im Publikum. Denn Po ist verwirrt und muss trotzdem harter Krieger sein; fühlt Wut und weiß nicht wieso und wohin damit. Auch Chen, der mächtigste und gefährlichste Waffenproduzent der alten Welt, ist nur ein ängstlicher Junge, der sich ungeliebt fühlt. Po und Chen - zwei Waisen im erbitterten Kampf mit ihren eigenen Problemen. Der Konflikt geht mit Chens Versuch, den prophezeiten Panda-Messias mitsamt seiner Familie umzubringen, zurück bis zu Herodes, sogar zu Moses, der ja auch irgendwie in einer (Rettich-) Kiste ausgesetzt wurde. Letztlich erweist sich in diesem sehr plüschigen Film mit eisenharten Typen der innere Friede als die größte Waffe. Nur wer die Probleme aus der Vergangenheit loslassen kann, kommt mit der Gegenwart zurec

7.6.11

Waste Land

Brasilien, Großbritannien 2010 (Waste Land) Regie: Lucy Walker 99 Min.

„Ich bin der brasilianische Künstler, der sich im Ausland am besten verkauft." So stellt sich der Fotokünstler Vik Muniz den Menschen in einem Favela Rio de Janeiros vor. Er erzeugt Vexierbilder. Auf seinen Fotos sieht man aus einigem Abstand zuerst bekannte Motive berühmter Maler, wie „Der Tod des Marat" von Jacques-Louis David. Dann - bei der neugierigen Annäherung - erkennt man in den Gesichtern andere Menschen als die Originale. Es sind Sammler aus den gigantischen Müllhalden am Rande von Rio de Janeiros, mit denen Muniz Monate lang zusammenarbeitete. Und wenn man ganz nahe ran geht, sieht man, dass die „Gemälde" aus Müll bestehen, aus Schmiere, Dreck, Abfall-Stückchen.


Vik Muniz erstellte im Laufe eines Kunstprojektes Porträts der Menschen und ihres Lebens auf dem imposanten Müllberg. Es sind Porträts im Sinne der Geschichte, die sie erzählen, der Gesichter, die sie in die Kamera halten. Aber auch im Sinne der Kunst von Muniz und das ist bei allen Problemen des Films seine Seele: Die beeindruckenden Bildlandschaften in einer Halle, bei denen die auf den Boden projizierten Konturen mit Abfall aufgefüllt werden. Und die Freude der Menschen, die eine Würdigung erfahren. Bei einem abgehobenen Blick auf das Mosaik der Viertel von Rio erklärt sich auch der große Aufwand, den Film mit vielen Kranaufnahmen pittoresk zu gestalten: Die ästhetisch eindrucksvolle Gesamtsicht, der einlädt, sich mit dem Detail zu beschäftigen, ist Grundprinzip von Film und Muniz' Fotokunst.

Lucy Walker („Blindsight") nähert sich dem Künstler zuerst über Gespräche, über Konzepte und Hintergründe. Das Faszinierende, die Kunstwerke selbst, entwickeln sich erst später langsam. Die Menschen, die nicht Müll sammeln, sondern wiederverwerten, wie sie betonen, verkörpern auch einen ökologischen Aspekt in den Favelas. Eine Frau spricht das Publikum direkt an: Für euch ist es leicht, einfach alles in den Müll zu werfen!

Muniz selbst kokettiert damit, dass er auch einmal arm war und im Supermarkt Einkaufswagen eingesammelt hat. Wenn er mit dem engagierten Tiao nach London fährt, um den „Marat" für 28.000€ zu versteigern, wurde vorher sehr fürsorglich diskutiert, was das für einen Einfluss auf sein Leben haben könne. Tiao fühlt sich schließlich wie ein Popstar. Man hat dabei auch das Gefühl, die Protagonisten werden zweifach vorgeführt: Auf dem Foto und im Film.

Die ebenso eindringliche wie sich anbiedernde Musik von Moby („Beautiful") passt kongenial zu dem etwas zwiespältigen Eindruck des letztlich doch überzeugenden Films. Alle Beteiligten gewannen enormes Selbstbewusstsein, finden sich im Museum wieder - und meist in besseren Lebensumständen. Während der Müll in der Halle weggeräumt und zusammengekehrt wird, meint Tiao, er würde irgendwann sein Bild zurückkaufen. Das macht wirklich Hoffnung.

Wir sind was wir sind

Mexiko 2010 (Somos lo que hay) Regie: Jorge Michel Grau mit Francisco Barreiro, Alan Chávez, Paulina Gaitan, Carmen Beato 90 Min.

„Du bist, was du isst" wäre der Kalauer als Auftakt zur mexikanischen Kannibalen-Kinokunst „Wir sind was wir sind". „Wir sind Monster" lautet die realistische Zustandsbeschreibung einer der Figuren. Regisseur Jorge Michel Grau gelang mit seinem faszinierenden Debütfilm eine Mischung aus Sozialdrama, Thriller und Horror.

Im harten Realismus der erschreckenden Anfangssequenz stirbt ein alter Mann in einer glänzenden Einkaufspassage. Dieser Tod stößt zwei Entwicklungen an, die erst im Finale zusammen kommen werden. Bei der Obduktion findet die Polizei einen Finger im Magen der Leiche. Derweil ist seine Familie verzweifelt. Sie hat kein Geld und nichts zu essen. Beides besorgte das verstorbene Familienoberhaupt, letzteres allerdings in Form von Menschenfleisch. So vermengt sich die soziale Situation der Familie, der harte Kampf um das tägliche Brot, mit dem um das tägliche Fleisch. Die beiden Söhne scheitern beim „Jagen" am Versuch, ein Straßenkind zu entführen. Auch eine Prostituierte „mit nach Hause bringen", wie es der Vater immer tat, funktioniert nicht. Die Mutter verweist auf das Ritual, die resolute Schwester meint, Alfredo müsse die Leitung übernehmen, während der jähzornige junge Bruder Julian erst einmal zuschlägt. So verliert die Familie auch noch ihren Marktstand als Uhrenhändler.

„Wir sind was wir sind" ist „ab18" freigegeben und zeigt die Problematik dieser eindimensionalen Einteilung: Im Gegensatz zu verabscheuungswürdigen, sadistischen (Erfolgs-) Spektakeln wie „Saw" oder auf die pure Schlachtlust reduzierte Horror-Remakes, erweist sich der in vielfacher Hinsicht spanende, gleichzeitig irritierende und fesselnde Film aus Mexiko doch als einer der politischsten und cineastisch reizvollsten Filme dieser Tage. Er weidet sich nicht an blutigen Gewalttaten und wirkt mit unvermittelten Fahrten hinein ins Schwarz oder schaurigen Streicher-Einsätzen um so schrecklicher. Die tollen Bilder zeigen immer wieder Spiegelmotive, im Moment des Todes des Vaters und später in einem gefleckten Spiegel die Unsicherheit über die Zukunft und die Diskussion über die Nachfolge als Familienoberhaupt. So legt die Reflexion ganz nebenbei Schatten auf die Gesichter, die andere Filme mit aufwändigen Masken deformieren würden.

Erstaunlicherweise nimmt man Anteil am Schicksal dieser horrenden Familie. „Wir sind was wir sind" passt damit in die Reihe exzellenter Filme aus Mexiko, wie „Battle in Heaven" von Carlos Reygadas oder „Amores Perros" und die anderen Filme von Alejandro González Iñárritu. Die parallele Recherche der Polizisten ist eine politische Anklage und damit verwandt mit Romeros frühen Zombie-Klassikern. Wenn die Jagd auf die Jäger im vollen Gange ist, läuten alle Uhren im Hause des Uhrmachers das letzte Stündchen der Familie ein - nur eine der vielen genialen Szenen, bis zum Finale, in dem eine Überlebende die Zuschauer mit hungrigem Blick fixiert.

Kusswechsel - Kein Vorspiel ohne Nachspiel

Italien 2010 (Maschi contro femmine) Regie: Fausto Brizzi mit Claudio Bisio, Nancy Brilli, Luciana Littizzetto, 113 Min.

Eine Komödie von in Italien bekannten Comedy-Machern um Männer und Frauen kann ziemlich blöd sein, ohne als Blödel-Komödie zu gelten. Wer auf die Idee kam, „Maschi contro femmine", die im Ursprungsland recht erfolgreiche, banale Abfolge von Geschlechter-Klischees mit dem bezugslosen deutschen Titel „Kusswechsel" aufzuhübschen und in die Kinos zu bringen, bleibt als Rätsel das einzig Interessante am Film. Da soll ein unverbesserlicher Tifosi nach Gedächtnisverlust zum liebevollen Romantiker umfunktioniert werden. Er spielt in einer Beatles-Coverband, in der auch die anderen Geschichtchen unter dem Nenner „Männer gegen Frauen" angesiedelt sind. Eine sterbenskranke Mutter gibt der ganzen Machismo-Albernheit zusätzlich ihren Segen: So sind sie halt die Männer. Und genau so sind grottenschlechten Filme.

Country Strong

USA 2011 (Country Strong) Regie: Shana Feste mit Gwyneth Paltrow, Garrett Hedlund, Tim McGraw, Leighton Meester 117 Min. FSK ab 12

Jeff Bridges hat es mit „Crazy Heart" vorgemacht. Johnny Cash längst alles durchgemacht, was „Walk the Line" zu einem klasse Film machte. Nun spielt Gwyneth Paltrow, gerne von der Kritik als Kühlschrank unter den Schauspielstars verachtet, den Country-Blues einer alkoholkranken Sängerin: Nach einem tragischen Auftritt in Dallas und einer abgebrochenen Entziehungskur versucht Kelly Canter (Gwyneth Paltrow), angetrieben von ihrem aalglatten Mann und Manager James Canter (Tim McGraw) ein Comeback. Beau Hutton (Garrett Hedlund), ihr Pfleger aus der Klinik, singt mit der Vorband. Auch Chiles Stanton (Leighton Meester), eine ehemalige Schönheitskönigin, darf das Publikum bei den Konzerten aufwärmen.

Chiles ist ein selbst in Country-Kreisen dämlich wirkendes Püppchen, das schnell vorhersehbar etwas mit dem jungen, unangepassten Nachwuchs-Singersongwriter Beau anfangen wird. Der hat schon was mit Kelly und James vielleicht auch was mit Chiles gehabt. Eigentlich gibt es zwei Country-Barbies in diesem Film, die Newcomerin und der angebliche Star, an dem jede Tragik abtropft. Selbst im dramatischen Rückfall-Suff sieht Paltrow höchstens schlecht geschminkt aus. Auch ansonsten funktioniert beim schwachen „Country Strong" wenig: Die eine kann dem Country keine Runderneuerung bieten, der andere kann den Film nicht tragen. Der Beau muss sogar Beau heißen, weil er an sich zu wenig Ausstrahlung hat.

Ansonsten gibt es viel, auch für dieses Genre durchschnittliche und eintönige Musik, die man unbedingt mögen muss. Nur dabei überrascht Gwyneth Paltrow mit einer Stimme, die schon mal Gänsehaut hervorruft. Sie singt seit dem Film übrigens gerne öffentlich in einer Zweitkarriere.

X-Men Erste Entscheidung

USA 2011 (X-Men First Class) Regie: Matthew Vaughn mit James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence, Rose Byrne, January Jones, Kevin Bacon 131 Min. FSK ab 12

Erstklassig, diese erste Klasse der „Sonderschule" aus mutierten X-Männchen und -Weibchen. Das „Prequel", die übliche Fortsetzung einer Erfolgsreihe in die Vergangenheit, verdient sich beim Marvel-Comic-Klassiker „X-Men" Bestnoten. Ausnahmsweise wird sich nicht wie bei „Wolverine" umständlich ein Wolf erzählt. „X-Men: Erste Entscheidung" - so die selten dämliche deutsche Übersetzung von „First Class" - wird im Bildungs-Kanon des Kinos als Pflichtprogramm aufgenommen - zumindest für die nächsten Wochen.

Den einzigen Kritikpunkt erledigen wir direkt mit dem düsteren Auftakt des Films. Noch einmal führen uns die Erinnerungen Magnetos zurück in ein von deutschen Soldaten bewachtes Getto des Jahres 1944. Der jüdische Regisseur, Autor und Produzent Bryan Singer inszenierte dabei einen der bewegendsten Momente der ganzen Film-Serie. Jetzt - Singer ist diesmal „nur" Produzent - ist es wieder bewegende, aber vor allem bewegt der Junge Erik Lehnsherr ein schweres Eisentor aus lauter Verzweiflung darüber, dass seine Mutter abtransportiert wird. Doch dann eröffnet sich gleich mit dem sadistischen Nazi-Arzt Sebastian Shaw (Kevin Bacon) das packende Spektrum an Figuren und Geschichten, das über zwei Stunden fesseln und begeistern wird.

Shaw erkennt die besonderen Fähigkeiten Eriks und erschießt eiskalt dessen Mutter, um eine weitere Vorführungen der telekinetischen Kräfte des Jungen zu erhalten. Weit entfernt von diesem Grauen freundet sich der wohlbehütete junge Charles Xavier auf seinem britischen Schloss mit dem Mädchen Raven an, das sich mit dem Aussehen von Charles' Mutter etwas aus dem Kühlschrank stibitzen wollte. Raven wird in die Obhut des späteren Institutsleiters und Behüters der Mutanten aufgenommen. Doch seiner Einstellung, Mutant und stolz darauf zu sein, kann sich die Frau mit der im natürlichen Zustand blauen Schuppenhaut und dem roten Eidechsenhaar nicht anschließen. Hier ist der erste Konflikt zwischen Dualität und Gegensatz angelegt, der „X-Men" durchgehend bestimmt. Bis zum Kampf der Freunde und „ungleichen Brüder" Magneto und Xavier, den „Erste Entscheidung" auch schlüssig und spannend entwickelt. Alle sind zwei Seiten einer Münze, die am Anfang und Ende des Films auftaucht.


Nach ein paar flotten Zeitsprüngen jagt Erik, mittlerweile großartig verkörpert von Michael Fassbender, seinen Peiniger Shaw, der Anfang der Sechziger einen atomaren Weltkrieg provozieren will. Denn das wäre das Ende der Menschen und den Mutanten würde die Strahlung angeblich guttun. Charles Xavier (James McAvoy) sorgt sich auch um das Wohlergehen von Seinesgleichen, sucht aber ein friedliches Zusammenleben mit den Menschen ohne besondere Fähigkeiten. Viele weitere junge Mutanten mit manchmal auch spaßigen Eigenschaften werden entdeckt und eingesammelt. Für wen und für welchen Weg sie sich entscheiden werden, wo sie herkommen, was sie bewegt, so zu handeln wie sie handeln, erzählt der Film spannend und schlüssig. Dabei verteilt er das Interesse auf beide Seiten: Den großen und die kleinen Konflikte. Mit der Zahl der schillernden Figuren wächst auch der Effekt-Aufwand bis zum großen Meeres-Kreuzer-Bahnhof vor Kuba im Finale, denn hier erfahren wir nicht nur, weshalb Xavier im Rollstuhl sitzt, sondern auch den wahren Hintergrund der Kubakrise im Jahre 1962. Und noch etwas ist toll: „X-Men: Erste Entscheidung" ist NICHT in 3D! (Gab es damals ja noch nicht, könnte man albern und unkorrekt sagen.) Die Entscheidung fällt ganz klar für diesen Teil der „X-Men"-Saga und die weitere Mitarbeit von Bryan Singer.