30.3.10

Little Ashes DVD


Großbritannien, Spanien 2008 (Little Ashes) Regie: Paul Morrison mit Javier Beltrán, Robert Pattinson, Matthew McNulty 107 Min.

KSM (Leih-DVD, Kauf-DVD/BD: 6.4.2010)

Selbst in der madrilenischen Künstler-WG mit Buñuel (Matthew McNulty) und Lorca (Javier Beltrán) sorgt dieser Neuzugang für Aufsehen. Lange Haare, ein androgyner Look, ungewöhnliche Kleidung, trotzdem scheu: Salvador Dalí (Robert Pattinson) ist auch im wilden Leben der Zwanziger in Madrid eine Erscheinung. Die wilden Künstler bieten mutig dem rechten Bürgertum und dem Militär die Stirn. Das Liebesverhältnis von Buñuel und Dalí ist ebenso spannungsgeladen, beide werden sich heftig anziehen und abstoßen.

Eine nette Idee, Robert Pattinson, den jungen Vielleicht-mal-Star von heute, in die Rolle des noch nicht entdeckten Malers Dalí zu stecken. Wie in seinen Vampirfilmen schaut Pattinson meist nur, zeigt sich auch mal fast nackt. Er stellt das Objekt der Begierde des Dichters dar. Ob sich die weiblichen Teenager, die auf den Vampir Pattinson stehen, auch an der vorsichtigen Homoerotik erfreuen, ist fraglich. Bildet doch zwischen vielen Studioaufnahmen ein wunderschönes Wasserballett der Liebenden einen ästhetischen Höhepunkt des Films.

Der Titel „Little Ashes“ ist ein bitterer Gedanke Lorcas: In 80 Jahren sind wir nur noch Asche, sind wir Geister. Ganz so existenzialistisch kommt der Film nicht daher. Im Vergleich zu großen historischen Künstler-Porträts wie „Total Eclipse“ (1995) über Arthur Rimbaud und Paul Verlaine versucht er mit den Biographien größer Künstler bescheiden zu erzählen. Kein Meisterwerk, nie kongenial, aber ein in einiger Hinsicht interessanter Film.

Lourdes


Österreich, Frankreich, BRD 2009 (Lourdes) Regie: Jessica Hausner mit Sylvie Testud, Léa Seydoux, Gilette Barbier, Gerhard Liebmann, Bruno Todeschini, Elina Löwensohn, Katharina Flicker 90 Min. FSK: o.A.

Seltsam, sehr seltsam sind die Welten der Jessica Hausner („Lovely Rita“, „Hotel“). Eigentlich könnten es fast Dokumentationen sein, so klar und mitten aus dem Leben erscheinen sie. Allerdings gibt die Regisseurin aus Österreich ihren Inszenierungen etwas mit, dass diese Welten verrückt oder entrückt wirken. So sehen einige „Lourdes“ als Religions-Satire, andere als Psychodrama, etwas vom Horror-Film haben die Vexierbilder auch immer mal.

Eine Pilgerreise nach Lourdes zeigt uns eine gespannt aufgeregte Reisegemeinschaft. Klare Anweisungen in der Kantine einer Pilgerpension durch die Malteser-Schwester Cecile (Elina Löwensohn) erläutern den Heilsuchenden und auch den Zuschauern den Ablauf dieser Wallfahrt. Es sind gebrechliche und gesunde Menschen, Schwerkranke und Angehörige. Und es ist eine nahezu industrielle Heilungs-Abfertigung, die sich in den nüchternen Bildern zeigt. Diese ambivalenten Blicke der langen Kamera-Einstellungen werden detektivisch, als eine Frau aus der Gemeinschaft Anzeichen einer Heilung zeigt. Dadurch wird die Zimmernachbarin, die schon viel länger nach Lourdes kommt, kaum verstellt eifersüchtig. Die Kellner applaudieren und es gibt ein albernes Hütchen.

Plötzlich zeigt auch die mit Multiple Sklerose an den Rollstuhl gefesselte Christine (Sylvie Testud) Zeichen einer Wunderheilung. Es ist ein echtes Wunder, dass sie gleich losmarschiert, sogar eine Bergwanderung macht. Doch noch sind einige kirchen-bürokratische Hürden zu nehmen, bis die Heilung anerkannt wird. Der Preis des „Besten Pilgers des Jahres“ für Christine stellt keine Überraschung mehr dar. Doch bei der abendlichen Feier - mit dem „Felicità“ eines billigen Schlagerheinis - bricht die Frau zusammen.

Was entlarvt dieser Film? Das Triumvirat der Scheinheiligkeit, das sich abends zu zynischen Kommentaren immer einen trinkt? Die naiven Hoffnungen der gläubigen Pilger? Oder den voreingenommen kritischen Blick des aufgeklärten Kinogängers? Jessica Hausner („Hotel“) lässt dies in ihrem auf positivste Weise ambivalenten Film von Anfang bis zum Ende offen. Die langen Einstellungen im Essenssaal, die überstilisierten Räume, die nur auf den ersten Blick klischeehaften Figuren, die oft eine ganz andere Seite verbergen. All dies lohnt genaues Hinsehen, das mal nicht durch eine rasche Bilderflut oder durch Effekte gefesselt wird. Der raffinierte Vexierfilm „Lourdes“ erlaubt Einblicke und Gedanken, die man vorher nicht unbedingt gesucht, nachher aber auf keinen Fall missen möchte.

Der Kautions-Cop


USA 2010 (The Bounty Hunter) Regie: Andy Tennant mit Jennifer Aniston, Gerard Butler 111 Min. FSK: ab 12

Unglücklich wie der krampfhaft englisch-deutsch alliterierende Titel zeigt sich der ganze Film: Vereint in Hassliebe ist das Paar in der versuchten Action-Romanze „Der Kautions-Cop“. Vereint im Club der mediokren Schauspieler sind die Hauptdarsteller Jennifer Aniston und Gerard Butler.

Ex-Cop Milo Boyd (Gerard Butler) jagt jetzt Flüchtlinge, bei denen man eine Kaution einkassieren kann. Der raue Typ mit dem Paar-Tage-Bart behauptet, die Scheidung von Nicole Hurley (Jennifer Aniston) berühre ihn nicht mehr. Er flippt allerdings vor Freude völlig aus, als er sie verhaften darf - für 5.000 Dollar. Denn weil sie hinter einer Geschichte über vermeintliche Selbstmörder her ist, verpasste sie einen Gerichtstermin und steht sofort auf einem Steckbrief. Das selbstverständlich noch vorhandene Interesse für einander lebt sich in Verfolgungs-Spielchen aus. Dazu sind hinter ihr sind unbekannte Gangster her, Milo wird gleichzeitig selbst wegen seiner Spielschulden verfolgt. Das was halbwegs in Richtung Action geht, muss den ganzen Film tragen, weil das Romantische und Komödiantische noch weniger funktioniert.

Andy Tennant, ein routinierter Komödien-Regisseur („Ein Schatz zum Verlieben“, „Hitch - Der Date Doktor“, „Sweet Home Alabama“), schafft es exakt einmal, mit einem „Schweigen der Lämmer“-Moment zu überraschen. Der verunglückte Versuch, den antiken Ruhm des „300“-Stars Gerard Butler an der Kino-Kasse zu versilbern, nennt sich im Vorspann ausgerechnet „Original Filmproduction“. Man weiß gar nicht, was schlimmer ist: All die peinlichen Nebenfiguren wie Stewart, als Nicoles furchtbarer Kollege eine Schande für das Handwerk der Drehbuch-Schreiber? Oder das notorische Aufdrängen der unfähigen Jennifer Aniston als Schauspielerin? Sie ist nun mal nicht komisch und ernst nehmen kann man ihren ewig gleichen Gesichtsausdruck auch nicht. Eine Tragödie.

29.3.10

Greenberg


USA 2010 (Greenberg) Regie: Noah Baumbach mit Ben Stiller, Greta Gerwig, Rhys Ifans, Jennifer Jason Leigh 107 Min.

Um die Tragik hinter dieser Tragikomödie zu verstehen, muss man wissen, dass Regisseur Noah Baumbach vor allem als Drehbuchautor der Wes Anderson-Filme „Fantastic Mr. Fox“ (Start im Mai) und „The Life Aquatic with Steve Zissou“ in Erinnerung geblieben ist. „Greenberg“ könnte in seinen Anlagen auch ein toller Anderson-Film sein. Leider hat Noah Baumbach diese Anlagen selber inszeniert und ein interessantes Unglück zustande gebracht.

Der Hauptbestandteil eines Baumberg/Anderson-Films ist ein seltsamer Typ. Für „Greenberg“ nehme man Ben Stiller, dichte seiner Figur Roger Greenberg einen Nervenzusammenbruch an, von dem er sich im Haus seines Bruders in Los Angeles erholen darf. Da der Bruder mit seiner Familie gerade in Urlaub ist, kümmert sich die junge Studentin Florence Marr (Greta Gerwig) um Haus, Hund und schließlich auch immer mehr um den depressiven Oldie Greenberg. Der verbringt die Zeit mit Beschwerde-Briefen an Gott und die Welt. Beim Small Talk fühlt er sich offensichtlich unwohl. Was aber nicht so schlimm ist, denn er will sowieso niemanden sehen. Nur sein alter Band-Kumpel Ivan Schrank (Rhys Ifans) kommt immer mal zum Abhängen vorbei.

Nach sehr spontanem Sex, der beiden peinlich ist, kommen Greenberg und Florence noch weniger miteinander klar. Sehr ungelenk im Umgang miteinander kümmern sie sich wenigstens um den kranken Hund. Der missgelaunte und meckernde Greenberg bleibt selbst bei Florences Abtreibung ein gefühlloser Idiot, hat aber wenigstens einen Hamburger für danach mitgebracht! Selbst in dieser dramatischen Situation bemitleidet er sich selbst, interessiert sich nicht wirklich für seine Freunde, steckt zu sehr in seinem eigenen Sumpf. Ein einsamer Mensch, der Lethargie und Depression als coole Attitüde verkaufen will.

Diese Wes Anderson-Geschichte ohne Wes Anderson funktioniert nie richtig. Zwar sind einzelne Szenen durchaus komisch im Sinne dieses ganz speziellen Humors. Die Party mit den 20-jährigen Freunden seiner kleinen Schwester beschert Greenberg große Szenen und einen bösen Drogentrip. Doch der Film kommt nie richtig in Fluss, nie in die richtige Stimmung. Trotzdem bekommt er nach allem unfreiwilligen Holpern ein schönes Happy End.

Greta Gerwig („LOL“) erweist sich als Entdeckung dieses Films. Ihre Florence ist liebes Mädel, das Greenbergs Spinnereien nicht gewachsen ist und seine rüde Art sogar interessant findet. In diesem freundlichen Geiste könnte man auch sagen, der Film „Greenberg“ kopiert in seiner Ziellosigkeit die Wesensart seiner Hauptfigur „Greenberg“. Aber damit würde man sich wohl auch - wie Greenberg - nicht der Wahrheit stellen.

Gesetz der Straße - Brooklyn's Finest


USA 2009 (Brooklyn's Finest) Regie: Antoine Fuqua mit Richard Gere, Don Cheadle, Ethan Hawke, Wesley Snipes, Ellen Barkin 140 Min. FSK: ab 16

Der Titel ist zynisch und schon am Anfang haben die „Helden“ verloren: „Brooklyn’s Finest“ - die Besten, ja „Edeltsten“ aus Brooklyn sind drei Polizisten, bei denen Moral oder alles andere, was man so mit diesem Job verbindet, längst verschüttet ist. Alkohol
Eddie Dugan (Richard Gere), ein Säufer mit Hang zum Selbstmord, steht sieben Tage vor seiner Pension. Der alte Streifen-Polizist wird von den Kollegen verachtet, weil er beim Einsatz im Katastrophengebiet keinen Einsatz mehr zeigt. Aber der Film gibt ihm recht: Ein junger Kollege wird erschossen, weil er nicht mehr mit dem Drückeberger Eddie Streife fahren wollte. Der nächste Neuling an seiner Seite schießt direkt auf harmlose Bürger.

Tango (Don Cheadle, „Hotel Ruanda“, „L.A. Crash“) ist ein Undercover-Agent im härtesten Drogenmilieu, der längst nicht mehr weiß, ob er noch ein normales Leben führen könnte. Ausgerechnet hier findet er im gerade entlassenen Ex-Boss Caz (Wesley Snipes) einen Freund. Doch obwohl dieser aussteigen will, soll Tango ihn der eiskalten Staatsanwältin (Ellen Barkin) ans Messer liefern.

Sal (Ethan Hawke) schließlich ist ein wahrer „Bad Lieutenant 3“. Ein fertiger Typ, zerrissen zwischen dem, was er seiner kinderreichen Familie geben will und was ihm der Polizeijob einbringt. Beim Einsatz ist er immer auf der Suche nach Drogengeld, um es selber einzustecken. Sal mordet sogar für eine größere, bessere Wohnung. Dabei quält ihn die Schuld ebenso wie die Schulden, aber Religion kann ihm keinen Trost mehr geben. Er will keine Vergebung, sondern Hilfe von Gott.

„Gesetz der Straße - Brooklyn's Finest“ singt in diesen drei lange unabhängigen Erzählsträngen ein dunkles Heldenlied auf die Polizisten in New Yorks Stadtteil Brooklyn („Smoke“). Regisseur Antoine Fuqua („Training Day“, „Bait - Fette Beute“) hat eindeutig eine Lieblingsatmosphäre, in die er seine Filme taucht. In den dunklen Ecken unserer Gesellschaft kämpfen kaputte Typen mit ihren verschiedenen Zerrüttungen. Moral ist auch hier sehr kompliziert. Das macht der Anfangs-Dialog klar, der vom Richtigen im Falschen schwafelt. Es sind immer die gleichen Klischees und Versatzstücke, sodass einem nur Einzelkritik bleibt: Wesley Snipes ist wieder knapp und eindrucksvoll. Gere hatte wohl nicht so viel Lust auf gequältes Dreinschauen. Das Finale spielt dann äußerst zynisch „Drehbuch“ mit diesen Figuren. Wer mitspielen will, darf hier direkt raten: Nur einer der drei überlebt ...

28.3.10

DAS 12. INTERNATIONALE DOKUMENTARFILMFESTIVAL IN THESSALONIKI




FILME GEGEN DIE KRISE

Von Nana A.T. Rebhan


Trotz der gegenwärtigen Krise in Griechenland kamen 10% mehr Besucher zu den 189 Filmen aus 41 Ländern, die dieses Jahr auf dem 12. Internationalen Dokumentarfilmfest in Thessaloniki zu sehen waren. Ein Schwerpunkt lag wie in jedem Jahr auf dem griechischen Filmschaffen, 40 Filme belegten dies. Eröffnungsfilm war der sehr lustige und unterhaltsame „The Invention of Dr. Nakamatsu" des dänischen Filmemachers Kaspar Astrup Schröder. Dr. Nakamatsu ist Kult in Japan, jeder kennt ihn. Er hat mehr als 3.400 Patente eingereicht, darunter Patente für die Floppy Disk, für springende Schuhe, für die CD, DVD, die Digitaluhr und das Cinema Scope Format. Sein Lebensziel ist es, 144 Jahre alt zu werden, mehr als die Hälfte davon hat er bereits geschafft, seinen 80. Geburtstag feiert er im Film. Höchstpersönlich besuchte er das Festival und schickte seinem filmischen Porträt die Worte "Life should be longer, speed should be shorter" voraus, was mit reichlich Applaus kommentiert wurde.

Diverse Reihen gliedern das Festival: "Views of the World", "Stories to Tell", "Recordings of Memory", "Portraits: Human Journeys", "Planet in Peril" und "Habitat" sind nur einige davon.

Ein kleiner, spannender Fokus lag auf Filmen aus Nordkorea, dem wohl immer noch am meisten isolierten Land der Erde. "Welcome to North Korea!" begleitet eine Gruppe tschechischer Touristen verschiedenen Alters auf ihrer Rundreise durch das Land. Natürlich durften diese nur mit offizieller Aufpasserin unterwegs sein, die enorme Probleme bekommen würde, sobald sich ihre Schäfchen nicht ordentlich verhalten. Interessant auch, wie die älteren der Reisenden, die noch selbst den Alltag im Sozialismus erfahren haben, sich zurückerinnern.

"Kimjongilia" heißt eine Blume, die nach Kim Jong Il benannt wurde. Der gleichnamige Film versucht sich ebenfalls Nordkorea zu nähern, einem Land, das in aller Welt diskutiert wird, aber über das wenig bekannt ist. Regisseurin N.C. Heikin interviewt Nordkoreaner, denen die Flucht aus den zahllosen Arbeitslagern geglückt ist. Ein junger Mann, der in einem Lager geboren wurde, berichtet, wie er nach seiner Flucht vom ganz normalen Alltag in Nordkorea völlig geschockt war. Er wusste nicht einmal, dass es außer Reis und Brot auch anderes Essen gibt. Er hatte nie zuvor in seinem Leben Fleisch, Obst oder Gemüse gegessen.

"Yodok Stories" des polnischen Filmemachers Andrzej Fidyk ist Teil des Fokus auf dessen Arbeit (es werden vier Filme von ihm gezeigt) und handelt von einem Musical, das Flüchtlinge aus Nordkorea in Südkorea proben. Es reflektiert das Leben in den Lagern, in denen momentan geschätzte 200.000 Menschen inhaftiert sind.

Ebenfalls aus Asien stammt der Debütfilm des chinesischen Regisseurs Lixin Fan, der 2009 von China nach Kanada emigrierte. In "Last Train Home" beschreibt er die mühevolle Reise, die chinesische Arbeiter Jahr für Jahr auf sich nehmen, um zum chinesischen Neujahrsfest ihre Familien zu besuchen, die sie den Rest des Jahres über nicht sehen. Der Film folgt einer Familie, die sich immer mehr voneinander entfremdet, da die Eltern in einer Großstadt in der Fabrik arbeiten und die Kinder nur einmal im Jahr sehen. Millionen von Chinesen sind dann auf Reisen. "Last Train Home" zeigt die Massen in Bewegung in beeindruckenden Bildern.

"When the Dragon Swallowed the Sun" folgt dem schwierigen Weg des noch sehr jungen, neuen tibetanischen Königs, der bei der Ausübung seines Amtes nicht nur von der chinesischen Regierung sondern auch von eigenen Landsleuten behindert wird. Der Film untersucht den Konflikt zwischen Chinesen und Tibetern aus diversen Perspektiven und interviewt Dutzende von Menschen, um so ein vielseitiges Porträt eines Konflikts aufzuzeigen, bei dem sich jeder seine eigene Meinung bilden soll. Der aus Ostdeutschland stammende, in den USA lebende Regisseur und Produzent Dirk Simon hat 800 Stunden Material gefilmt und sieben Jahre seines Lebens in dieses komplexe Filmprojekt investiert. Es ist ihm dabei gelungen, etablierte Musiker wie Philipp Glass, Thom Yorke und Damien Rice für die Mitarbeit an seinem Soundtrack zu gewinnen.

Über ein Jahrzehnt hat der kambodschanische Journalist Thet Sambath seinem Projekt gewidmet, die Wahrheit aus Nuon Chea, besser bekannt als "Bruder Nummer Zwei", herauszuholen. Nuon Chea war jahrelang die rechte Hand Pol Pots, dem Führer der kambodschanischen "Roten Khmer", unter deren Herrschaft von 1975 bis 1979 etwa zwei Millionen Landsleute starben. Zehn Jahre lang besuchte er den 1926 geborenen alten Mann jedes Wochenende auf dem Land, um dessen Vertrauen zu gewinnen und ihn zum Reden zu bewegen. Angetrieben zu dieser mühevollen Recherche hat ihn seine eigene Biografie: Sein Vater wurde von den "Roten Khmer" vor seinen Augen ermordet, seine Mutter wurde danach gezwungen, einen Soldaten der "Roten Khmer" zu heiraten. Gemeinsam mit dem britischen Regisseur Rob Lemkin hat er nun "Enemies of the People" geschaffen, der zutiefst berührt und gleichzeitig ein wichtiges Dokument kambodschanischer Zeitgeschichte ist.

Viele weitere beeindruckende Dokumentarfilme können an dieser Stelle leider nur kurz erwähnt werden, etwa Bosse Lindquists "The Genius and the Boys", der sich im ersten Teil den enormen wissenschaftlichen Erfolgen von Carleton Gajdusek widmet, die vom Empfang des Nobelpreises durch die schwedische Königin gekrönt werden, und im zweiten Teil dessen Privatleben, in dem er für Sex mit Minderjährigen an den Pranger gestellt wird. "The Tunnel Dwellers of New York" widmet sich Menschen, die in New Yorks verzweigtem und verschachtelten Kanalsystem leben - ein finsteres Porträt. "About Face: The Story of Gwendellin Bradshaw" ist ein sehr intimer Film über das Nachbarsmädchen der Regisseurin. Diese wurde von ihrer Mutter in ein Feuer geworfen als sie wenige Monate alt war und muss mit den Folgen dieser Verbrennungen leben. Während des Films begibt sie sich auf die Suche nach ihrer abgetauchten Mutter, die als Obdachlose gemeldet ist.

Sehr sehenswert war auch der Tribut für den niederländischen Dokumentarfilmavantgardisten Joris Ivens, dessen frühe Werke gezeigt wurden, u.a. seine in der Filmgeschichte legendären Kurzfilme aus den späten 20er Jahren, "The Bridge", "Rain" und "Philips Radio". Auch Krzystof Kieslowski wurde Tribut gezollt, und seine Dokumentarfilme aus den 60er und 70er Jahren wurden gezeigt - eine seltene, sehr schöne Gelegenheit, sich auch mit einmal mit der dokumentarischen Arbeit dieses vor allem für seine Spielfilme bekannt gewordenen Regisseurs auseinanderzusetzen.


24.3.10

Remember Me


USA 2010 (Remember Me) Regie: Allen Coulter mit Robert Pattinson, Pierce Brosnan, Emilie de Ravin, Chris Cooper 113 Min.

Die eindrucksvoll besetzte Romanze „Remember Me“ gibt sich von der ersten tragischen Szene an schwer schicksalsbeladen: Ein Liebespaar aus zwei Familien, die Todesfälle erleben mussten. Zwischen ihnen steht allerdings keine alte Fehde sondern das Verhalten von Tyler (Robert Pattinson) in angetrunkenem Zustand. Dabei geriet der ansonsten sensible junge Mann in einem unkontrollierten Anfall von Gerechtigkeitssinn ausgerechnet an Neil Craig (Chris Cooper) den übervorsichtigen Vater seiner Kommilitonin Ally Craig (Emilie de Ravin aus „Lost“). Das unüberlegte Date mit Ally wird zur Liebe, bei der exaltierten jungen Frau wirkt Tyler fast so entspannt wie mit seiner kleinen Schwester Caroline.
 
Denn Tyler ist ein frustrierter, aggressiver junger Mann, der rebelliert, weil er die Liebe seines schwerreichen Vaters Charles (Pierce Brosnan) nicht in der gewünschten Form erhalten hat. Tyler lernt an der Uni etwas über Moral, kann es aber auf den Straßen New Yorks nicht richtig anwenden. Trotz aller Tragik in den Herzen bekommt die Liebe eine Chance. Doch es schwebt noch die böse Unwahrheit des Anfangs über dem jungen Glück...

Ein heftiger Streit zwischen Vater und Sohn mitten in einer Versammlung peinlich berührter Angestellter zeigt auch schauspielerisch, wer hier die Hosen anhat: Sowohl Chris Cooper als auch Pierce Brosnan laufen den Jung-Stars den Rang ab, aber gerade diese werden dafür sorgen, dass viele ins Kino rennen. Sie werden diesmal allerdings nicht enttäuscht, höchstens mit etwas zu viel Drama überfüttert.

23.3.10

Filmfestival Maastricht 2010


Maastricht. „Made in Europe Film Festival “ heißt es vom 24.-28.3.2010 wieder in Maastricht, wenn das größte und wichtigste Filmfestival der Region im Filmtheater Lumière ein Fest des Kinos sein wird. Mit mehr als 50 Filmen ist das Programm umfangreicher als je zuvor. Viele der Premieren, die nur während des Festivals zu sehen sein werden, haben laufen in Englisch oder haben englische Untertitel. Ein spezieller Bereich im Programmheft und auf der Website macht den internationalen Charakter der Veranstaltung deutlich. Aber auch euregional trumpft „Made in Europe“ groß auf: Neben Maastricht sind auch Heerlen, Roermond, Sittard und Venlo. Nur Aachen macht nicht richtig mit.

Maastricht hat eine mehr als zehnjährige Tradition mit seinem Filmfestival, das seit ein paar Jahren im eigenen Kino des Veranstalters Filmtheater Lumière veranstaltet wird. Ein Haus mit sechs Sälen, Café und Foyer, das durchgehende Festival-Atmosphäre von den frühen Vorstellungen bis zu den späten Filmpartys garantiert. Thematisch zeigt „Made in Europe“ eine Momentaufnahme des aktuellen Europas mit Filmen aus allen Ecken des Kontinents, meist von jungen, talentierten Filmemachern mit einer eigenen Handschrift. Viele Beiträge kommen aus Rumänien, ein Land, das auch auf den großen Festivals von Venedig und Berlin sehr präsent war. „Bienvenue Chez Les BʼLges“ nennt sich ein Programmpunkt, der die nähere Umgebung zeigt und auch die eigenen Talente aus Limburg erhalten bei dem Maastrichter Festival ein Forum.

Während Maastricht seit Wochen mit neon-grünen Aufklebern in Pudelform gepflastert ist, macht Aachen erst einmal nicht mit im euregionalen Festivalreigen. Statt der acht Tage Festival, die es hier 2009 mit Premieren, Gästen und Diskussionsveranstaltungen gab, laufen in diesem Jahr vom 16.-18.4.2010 im nicht unbedingt kinotauglichen Space im Ludwig-Forum einige osteuropäische Filme im Rahmenprogramm des Internationalen Karlspreises. Der verantwortliche Kulturbetrieb der Stadt Aachen ließ 15.000 Euro Förderung ungenutzt liegen, die von der Euregio für das Festival Maastricht-Aachen jeweils für 2010 und 2011 vorgesehen waren. Während Maastricht seinem Ruf als Stadt der Kinokultur gerecht wird, macht Aachen einen großen Schritt in Richtung Provinzialität. Ein Grund mehr in den nächsten Tagen in Maastricht guten Film zu tanken. (ghj)

Infos: http://www.madeineuropefilmfestival.eu/

Precious



USA 2009 (Precious: Based On The Novel Push By Sapphire) Regie: Lee Daniels mit Gabourey Sidibe, Mo'Nique, Aunt Dot, Paula Patton 110 Min.

„Precious“ ein gewaltiger Film, ein erschütternder, ja schockender Film, dem man nur Sympathien entgegenbringen kann. Er bringt das, was die meisten, die sich beispielsweise Kinokarten leisten können oder den dicken Flatscreen, nicht sehen (wollen), mit der Kunst des Films nicht nur vor unsere Augen, sondern lässt es tiefer wirken.

Das Leben von Claireece Precious Jones (Gabourey Sidibe) aus Harlem ist unvorstellbar grausam, ein echter Horror: Schon als kleines Mädchen wurde sie von ihrem Vater vergewaltigt, hat ein krankes Kind und ist erneut vom Vater schwanger. Außerdem hat er sie mit AIDS angesteckt - in den Achtzigern, in denen die Handlung spielt, gänzlich unheilbar. Precious’ Mutter terrorisiert ihr Kind mit unvorstellbarer Grausamkeit, schlägt sie brutal und lässt die 16-Jährige wie ein Hausmädchen schuften. Das soziale System gibt Precious und ihrer Tochter magere Schecks, die ihre Mutter einkassiert und verlebt. Immer wieder zuckt man bei dem, was Precious angetan wird, zusammen oder muss wegschauen. Das Mädchen überlebt in dem enormen Fettpolster, das sie sich angefressen hat und in Tagträumen eines besseren Lebens.

Die von Gabourey Sidibe verkörperte Precious ist eine gewaltig übergewichtige Erscheinung, die Menschen mit Brigitte-Musterbögen im Kopf sogar schockiert hat. Ob sie deshalb den sicher geglaubten Oscar nicht erhalten hat? Auf jeden Fall zeigt sie das stille Erdulden und vor allem die ganz ganz kleine Hoffnung, die langsam in Precious wächst, auf eindringliche Weise. Denn mit Hilfe der bürgerlichen Lehrerin Ms. Rain (Paula Patton) lernt das missbrauchte und erniedrigte Mädchen nicht nur Lesen und Schreiben. Sie entwickelt über das Aufschreiben ihrer Erlebnisse ein Selbstbewusstsein und die Kraft, ihr Leben zu verändern. Auch dieser Weg ist schwer und nicht ohne Rückschläge, doch die Hoffnung in diesem Mädchen zu erleben, ist ebenso erschütternd wie vorher die Grausamkeiten, die ihm angetan wurden.

Der Film „Precious“ basiert auf dem in den Neuzigern veröffentlichten Buch „Push" von Sapphire, die wie Ms. Rain im Film mit Jugendlichen aus sozialen Katastrophengebieten arbeitete. Regisseur Lee Daniels, konnte sich schon wie für „Monster‘s Ball“, den er produzierte, prominenter Unterstützung aus Hollywood versichern: Oprah Winfrey ist Produzentin, Mariah Carey spielt überraschend unauffällig eine kleine Rolle als Sozialarbeiterin und Lenny Kravitz gibt einfach einen netten Kerl. Positiv sind diese Einsätze auch, weil sie nicht - wie in „Blind Side“ extrem misslungen - der eigentlichen Hauptfigur die Aufmerksamkeit rauben. So kann „Precious“ zum sehr harten, aber schillernden Edelstein des Kinojahres werden.

Blind Side


USA 2009 (The Blind Side) Regie: John Lee Hancock mit Sandra Bullock, Tim McGraw, Quinton Aaron, Jae Head 128 Min. FSK ab 6

Verdient Sandra Bullock einen Oscar? Diese Frage spaltet einen Teil der Welt (der gerade keine anderen Probleme hat). Dazu passt, dass der Star am Abend vor der Oscar-Verleihung für den Film „Verrückt nach Steve“ (Start: 29. April) eine Goldene Himbeere als Schlechteste Schauspielerin persönlich entgegen nahm. Abgesehen, dass sie als kluge Frau und Produzentin mit ihren Rollen(-klischees) durchaus spielen kann und keine Scheu hat, sich selbst auf den Arm zu nehmen („Miss Congeniality“), zeigt das humorvolle Sozial-Rührstück „Blind Side“, was Sandra Bullock drauf hat.

Mit Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) aus Memphis ist nicht zu spaßen! Die im Toaster gebräunte, reiche weiße Schnepfe in ihren weißen Kostümchen - nur das Goldgehänge ist nicht Weißgold, sondern goldig Gold - sagt jedem ihre Meinung. Selbst im Revier der Schwarzen droht sie dem echt gefährlichen Obermacker mit ihrem Mini-Handtäschchen. Oder genau: Mit der Mini-Pistole, die sich angeblich darin verstecken soll, angeblich. Leigh Anne Tuohy wäre das Muster einer furchtbaren Zicke, wenn sie nicht das Herz genau auf dem rechten Fleck hätte.

So ist auch sie der Star dieses Films und nicht der obdachlose, scheinbar lernbehinderte riesige schwarze Junge, den alle Big Mike nennen. Wie Leigh Anne Tuohy dieses stille und hilflose Riesenbaby ganz wortwörtlich aus dem Regen holt, ihm erst einen Schlafplatz, dann ein Zimmer und schließlich einen Platz im Herzen ihrer Familie gibt, ist die rührende Story. Dass aus Big Mike ein erfolgreicher Football-Spieler wurde, die wahre Sport-Geschichte dahinter. Doch wie Leigh Anne Tuohy einem das Football-Spiel mit den Metaphern einer Familienmutter erklärt, wie sie Mike mit ihrer frechen Schnauze einer Löwenmutter gleich wie eines ihrer eigenen Kinder verteidigt, das ist die Attraktion und die reich sprudelnde Humorquelle dieses Films. Dafür bekam Sandra Bullock verdient den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle 2009.

Sandra Bullock überzeugt in ihrer Rolle mit einem schön bodenständigen, manchmal herrlich schnoddrigen Dialekt. Die deutsche Synchronisation lässt diesen Tonfall völlig unter den Tisch fallen und nimmt dem Film damit einen Großteil seiner Überzeugungskraft.

„Blind Side“ ist ganz banal das Feld hinter dem Rücken eines Spielers, in dem er einen Gegner nicht sehen kann und in dem er besonderen Schutz von Mitspielern braucht. „Blind Side“ ist aber auch die Seite der Stadt, die man als wohlhabender Bürger nicht sieht und wo man schon gar nicht hingeht. Dass dort viele arme schwarze Kinderchen zu retten sind, soll die soziale Botschaft von „Blind Side“ sein. Aber er ist eher ein Film zum Wohlfühlen, nicht besonders kritisch und zu schön, um wahr zu sein. Zum Glück startet auch heute in den Kinos die glaubwürdigere, auch „wahre“, aber sozial wesentlich rauere Geschichte von „Precious“. Das ebenfalls ziemlich üppige schwarze Mädchen Precious zieht im Gegensatz zu Big Mike keinen Lottogewinn in Form reicher Republikaner. So ist „Precious“ exakt der blinde Fleck von „Blind Side“.

22.3.10

ghj: From Paris With Love ***


*** eine ghj-kritik **************************************

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From Paris With Love

Frankreich 2010 (From Paris With Love) Regie: Pierre Morel mit John Travolta, Jonathan Rhys Meyers, Kasia Smuniak, Richard Durden 93 Min. FSK ab 16

Immer wieder gelingt es dem französischen Film, vermeintlich amerikanische Genres aufzufrischen: „Die purpurnen Flüsse“, „Pakt der Wölfe“, „Das 5. Element“, „Leon“ ... Produzent und Regisseur Luc Besson steht hinter einigen der besten Beispiele für diese Kreativität der Varianz. Nun nimmt er sich wieder Hollywood-Stars und jagt das Genre der Buddy-Action einmal quer durch die Paris-Film-Geschichte.

„J'ai Deux Amours“ singt Madeleine Peyroux kongenial über den ersten Paris-Bildern: Paris und die USA. Zwischen diesen beiden Liebes- und Kulturpolen stehen nicht nur die Handlung und die Figuren des Films, sondern auch seine Produktion. Jonathan Rhys Meyers spielt James Reese, den genialen Assistenten des US-Botschafters in Paris. Der smarte Angestellte träumt von einem richtigen Geheimdienst-Auftrag, während er mit Brillanz kleine Dienstboten-Aufträge ausführt und das Pariser Leben mit seiner perfekten Frau Caroline (Kasia Smuniak) genießt. Mit dem Geheimagent Charlie Wax (John Travolta) kommt rasant Spannung ins Leben des Botschafts-Beamten: James soll eigentlich nur Chauffeur spielen. Doch mit atemberaubender Geschwindigkeit ballert sich Wax von einer Action-Szene zur nächsten. Welche Spur in dieser unglaublichen Geschichte eigentlich verfolgt wird, bleibt dem Publikum ebenso rätselhaft wie James Reese. Doch die Coolness des staatlichen Killers sorgt für besten Zeitvertreib mit Dialogen die ebenso treffsicher sind wie die reichlich vorhandenen Waffen. Das Abendessen beim Chinesen wird direkt zur Schlachtplatte - „Ente-süß-sauer-Kungfu-Megashow“ in den Worten von Wax. Leise rieselt auch schon bald der berauschende Schnee aus der Deckenverkleidung, aber auch um Drogen geht es nicht. Im ersten Teil nehmen der Film und Wax nichts ernst, was besonders viel Spaß macht. Der laute Geheimagent schießt sich durch die Stadt, während der Möchtegern-Geheime James wie ein Depp mit einer großen chinesischen Vase voll Koks im Arm hinterher läuft. „Jetzt sag mir, dass das nicht cool war,“ fordert Wax zum Applaus auf und er hat ihn verdient. Auch wenn ein extremes Gemetzel zwischen einem Heer von Schaufensterpuppen, das für die chinesische Terrakotta-Armee steht, nicht jedermanns Sache ist. Menschliches Fallobst im Vertigo-Treppenhaus erweist sich als Stilblüte, der humane Grundhaftung abhanden gekommen ist.

Leider bleibt die schlag- und schussfertige Action im zweiten Teil einfallslos in weltpolitischem Humbug hängen. Viel zu ernst soll jetzt ein hanebüchener Anschlag einer pakistanischen Terrorgruppe vereitelt werden. Nachdem sich der Film auf den aktuell bärtigen Mode-Trend der Weltpolitik festgelegt hat und der große Clou verraten wurde, fällt ihm außer einer zu langen Action-Einlage auf einer Filmautobahn nichts mehr ein. Der große romantische Moment, in dem die Liebe sich anschickt, alles zu überwinden, verpufft weil die beteiligten Personen der Action zu viel Zeit geopfert haben. Es bleibt eine tolle Rolle für John Travolta, der im Reden und im Handeln überzeugt. Wenn er sich mitten in einer rasenden Verfolgung für einen kitschigen Song im Autoradio begeistert, ist er unschlagbar. Ganz nebenbei überrascht dieser Action-Neuaufguss immer wieder mit hochwertiger Musik, die man im Popkorn-Kino nicht erwartet.

Günter H. Jekubzik * guenter@jekubzik.de

Alle Texte:  http://www.FILMtabs.de

From Paris With Love


Frankreich 2010 (From Paris With Love) Regie: Pierre Morel mit John Travolta, Jonathan Rhys Meyers, Kasia Smuniak, Richard Durden 93 Min. FSK ab 16

Immer wieder gelingt es dem französischen Film, vermeintlich amerikanische Genres aufzufrischen: „Die purpurnen Flüsse“, „Pakt der Wölfe“, „Das 5. Element“, „Leon“ ... Produzent und Regisseur Luc Besson steht hinter einigen der besten Beispiele für diese Kreativität der Varianz. Nun nimmt er sich wieder Hollywood-Stars und jagt das Genre der Buddy-Action einmal quer durch die Paris-Film-Geschichte.

„J'ai Deux Amours“ singt Madeleine Peyroux kongenial über den ersten Paris-Bildern: Paris und die USA. Zwischen diesen beiden Liebes- und Kulturpolen stehen nicht nur die Handlung und die Figuren des Films, sondern auch seine Produktion. Jonathan Rhys Meyers spielt James Reese, den genialen Assistenten des US-Botschafters in Paris. Der smarte Angestellte träumt von einem richtigen Geheimdienst-Auftrag, während er mit Brillanz kleine Dienstboten-Aufträge ausführt und das Pariser Leben mit seiner perfekten Frau Caroline (Kasia Smuniak) genießt. Mit dem Geheimagent Charlie Wax (John Travolta) kommt rasant Spannung ins Leben des Botschafts-Beamten: James soll eigentlich nur Chauffeur spielen. Doch mit atemberaubender Geschwindigkeit ballert sich Wax von einer Action-Szene zur nächsten. Welche Spur in dieser unglaublichen Geschichte eigentlich verfolgt wird, bleibt dem Publikum ebenso rätselhaft wie James Reese. Doch die Coolness des staatlichen Killers sorgt für besten Zeitvertreib mit Dialogen die ebenso treffsicher sind wie die reichlich vorhandenen Waffen. Das Abendessen beim Chinesen wird direkt zur Schlachtplatte - „Ente-süß-sauer-Kungfu-Megashow“ in den Worten von Wax. Leise rieselt auch schon bald der berauschende Schnee aus der Deckenverkleidung, aber auch um Drogen geht es nicht. Im ersten Teil nehmen der Film und Wax nichts ernst, was besonders viel Spaß macht. Der laute Geheimagent schießt sich durch die Stadt, während der Möchtegern-Geheime James wie ein Depp mit einer großen chinesischen Vase voll Koks im Arm hinterher läuft. „Jetzt sag mir, dass das nicht cool war,“ fordert Wax zum Applaus auf und er hat ihn verdient. Auch wenn ein extremes Gemetzel zwischen einem Heer von Schaufensterpuppen, das für die chinesische Terrakotta-Armee steht, nicht jedermanns Sache ist. Menschliches Fallobst im Vertigo-Treppenhaus erweist sich als Stilblüte, der humane Grundhaftung abhanden gekommen ist.

Leider bleibt die schlag- und schussfertige Action im zweiten Teil einfallslos in weltpolitischem Humbug hängen. Viel zu ernst soll jetzt ein hanebüchener Anschlag einer pakistanischen Terrorgruppe vereitelt werden. Nachdem sich der Film auf den aktuell bärtigen Mode-Trend der Weltpolitik festgelegt hat und der große Clou verraten wurde, fällt ihm außer einer zu langen Action-Einlage auf einer Filmautobahn nichts mehr ein. Der große romantische Moment, in dem die Liebe sich anschickt, alles zu überwinden, verpufft weil die beteiligten Personen der Action zu viel Zeit geopfert haben. Es bleibt eine tolle Rolle für John Travolta, der im Reden und im Handeln überzeugt. Wenn er sich mitten in einer rasenden Verfolgung für einen kitschigen Song im Autoradio begeistert, ist er unschlagbar. Ganz nebenbei überrascht dieser Action-Neuaufguss immer wieder mit hochwertiger Musik, die man im Popkorn-Kino nicht erwartet.

Drachenzähmen leicht gemacht


USA 2010 (How To Train Your Dragon) Regie: Dean Deblois , Chris Sanders 98 Min.

Ein rasantes Zeichentrick-Abenteuer mit Drachen von heute: „Drachenzähmen leicht gemacht“ bietet mit der Geschichte des zu klugen und tierlieben Wikinger-Jungen Hicks moderne Animation und altbackene Figuren.

Hicks ist verlegener statt verwegen. Ein unsicherer, sprich: pubertärer Junge, der in dem Wikinger-Kaff Berk wohnt. Das spindeldürre Kerlchen erweist sich bei jedem Drachenangriff als ungeschickt, nicht besonders mutig, aber klüger als der Rest der Sippe. Und Drachenangriffe gibt es viele, die Feuerspucker gelten in Berk als Ungeziefer. Jedes Kind kann die Drachen-Klassen wie beim Computerspiel mit ihren Stärken und Schwächen kategorisieren. Oder - für die Älteren - wie beim Quartett-Spiel. Um von den Kino-Kindern verstanden zu werden, „punkten“ die Wikinger tatsächlich beim Drachentöten. Nur Hicks kann nicht machen, was in jedem Drachenbuch steht: Sofort töten! Dazu müsste er allerdings erst einmal einen Drachen besiegen, was dem schmächtigen Kerlchen keiner zutraut, am wenigsten sein Vater, der Chef des Dorfes.

Doch mitten in einem nächtlichen Drachen-Angriff schießt Hicks mit seiner selbstkonstruierten Kanone einen unsichtbaren und unbekannten Nachtschatten ab, den schnellsten und gefährlichsten aller Drachen. Niemand glaubt ihm, aber ganz allein entdeckt Hicks, dass der gar nicht so gefährliche Drache in einem Talkessel gefangen ist. Der Junge beginnt ihn zu füttern und sich schließlich mit ihm anzufreunden. Als kleiner Techniker konstruiert er sogar eine Art Schaltung und Flugsteuerung für den behinderten Drachen.

Die feuerspeienden Monster erweisen sich als eigentlich ganz kuschelige Tierchen. All die Probleme mit ihnen basieren auf Unwissenheit gegenüber dem anderen. In einer Light-Version von „Der kleine Prinz“ (Antoine de Saint-Exupéry) lernt Hick den vermeintlichen Gegner kennen und entdeckt, dass er mit einfachem Kraulen viel einfacher zu beruhigen ist, als mit waffenstarrendem Geschrei.

Mit sympathischen Figuren, rasanten Flugszenen, die über weite, blaue Küsten eine Ahnung von „Avatar“ vermitteln, und etwas romantischen Kitsch liefert „Drachenzähmen leicht gemacht“ runde Unterhaltung für Kinder und junge Jugendliche. Dazu gibt es die Art von Animation, wo man sich angesichts der sehr detaillierten Gesichtszüge fragt, wieso das überhaupt gezeichnet wird. OK, Drachen sind zur Zeit als Darsteller nicht so leicht zu kriegen. Das Vater-Sohn-Verhältnis mag zwar sehr realistisch sein, aber im Nachvollziehbaren gerieten die Figuren auch ziemlich gewöhnlich und langweilig. Letztlich macht das große Finale mit viel Action und Spannung dem Film aber noch einmal richtig Drachenfeuer unter dem Hintern.

17.3.10

Zahnfee auf Bewährung


USA, Kanada 2010 (Tooth Fairy) Regie: Michael Lembeck mit Dwayne "The Rock" Johnson, Ashley Judd, Julie Andrews 102 Min. FSK: o.A.

Auf dem Eis einer zweitklassigen Hockey-Mannschaft ist er berühmt für seine brutalen Body-Checks. In himmlischen Kreisen gilt er als Traum-Killer, weil er Kindern jede Hoffnung auf eine einzigartige Karriere nimmt und ihnen sogar erzählt, es gäbe keine Zahnfeen. Zur Strafe muss der Muskelberg selbst, ausgestattet mit Flügeln, Dienst als Zahnfee leisten.
Dwayne "The Rock" Johnson, immer noch ehemaliger Wrestler, muss hier Dinge leisten, die richtig gute Schauspieler vielleicht gerade so mit Anstand erledigen. Beispielsweise ist der Auftritt von Julie Andrews als Chefin mit Flügeln („wieso sprechen hier alle mit englischem Akzent?“) einer der wenigen erträglichen Momente dieser misslungenen Kinder-Komödie. Zwar gibt es auch einige nette Ideen, doch sie sind an diesen Hauptdarsteller völlig verschenkt.

16.3.10

Everybody's Fine


USA, Italien 2009 (Everybody's Fine) Regie: Kirk Jones mit Robert De Niro, Drew Barrymore, Kate Beckinsale, Sam Rockwell 99 Min. FSK: ab 6

In „Allen geht es gut“ (1990) von Giuseppe Tornatore besuchte Marcello Mastroianni als sizilianischer Witwer seine fünf Kinder auf dem Festland. Das Remake von Regisseur Kirk Jones, der sich mit „Eine zauberhafte Nanny“ (2005) und „Lang lebe Ned Devine!“ (1998) nicht gerade als Meister des feinen Humors erwiesen hat, kann trotz guter Darsteller und sorgfältig stilisierter Bilder nicht wirklich überzeugen.

Eine nette Schauspielübung für Robert DeNiro sind die Vorbereitungen auf eine Familienfeier, der dann telefonische Absagen von allen vier Kindern folgen. Nach dem Tod seiner Frau droht die Familie auseinander zu fallen und so bricht Frank Goode (De Niro) entgegen der Warnungen seines Arztes auf, um seine Kinder selbst zu besuchen. Es soll eine Überraschung sein, deshalb strandet er erst einmal in New York vor der verschlossenen Tür seines Sohnes David und sitzt mit deprimierenden alten Männern im Diner. Bei Amy (Kate Beckinsale) sind alle online oder am Telefon, das Abendessen deutet eine äußerst gespannte Familiensituation an und Frank wird im Prinzip wieder vor die Tür gesetzt. Beim Musiker Robert (Sam Rockwell) entladen sich die Spannungen. Zu groß ist die Differenz zwischen den Erwartungen des Vaters und dem Leben, das Robert gefällt. Auch der letzte Besuch bei Rosie (Drew Barrymore) zeigt: Der alte Mann wird nicht wirklich gebraucht und weiß auch nichts von seiner Familie.

Frank hält sich trotz einer nie ausgesprochenen Krankheit gut aufrecht, ist aber schon etwas seltsam: Im Zug philosophiert er über die Telefonkabel, die er in seinem Berufsleben ummantelt hat. Und jedem muss er von seinen Kindern erzählen. Zu nervig melancholischer Begleitmusik (Morricone-Imitiationen von Dario Marianelli) werden immer wieder Fotos der Kinder, aber auch kurze Visionen der Kinder als sie noch klein waren, eingeblendet. Parallel hört man über die Telefonleitungen von den Bemühungen der Geschwister David aus einem mexikanischen Gefängnis zu holen - ohne dass ihr Vater davon erfährt.

Die Reise legt Lebenslügen bloß. Nicht so sehr das, was er sich über das Leben seiner Kinder vorgemacht hat. Sie zeigt vor allem, dass er sie vernachlässigt und zu sehr unter Druck gesetzt hat. Ein zu harter Vater, der in seiner Vorstellung immer noch Respekt einfordert, statt zu verstehen. Das rührselige Tornatore-Remake „Everybody's Fine“ will vielleicht auch etwas mit den sehr klar strukturierten Bildern der USA erzählen, aber letztendlich ruht der unausgewogene Film ganz auf DeNiro.

Mensch Kotschie


BRD 2009 (Mensch Kotschie) Regie: Norbert Baumgarten mit Stefan Kurt, Claudia Michelsen, Ulrike Krumbiegel, Axel Werner 96 Min. FSK: ab 12

Mit „Mensch Kotschie“ startet diese Woche eine sensationell gute Tragikomödie im Kino. Ohne große Rummel angekündigt, schlägt der Film doch all die anderen „Werke“, deren Werbeetat „Kotschies“ Produktionskosten locker übersteigt.

Jürgen Kotschie (Stefan Kurt) steckt in den Vorbereitungen zu seinem 50. Geburtstag und mitten in einer Midlife-Crisis. Er und seine Frau Karin tragen die gleichen Pyjamas, beim planmäßigen Sex liegen die Klamotten für den nächsten Tag schon gefaltet bereit. Für das Wochenende wird der demenz-kranke Vater aus dem Heim geholt, der Sohn Mario wirkt allerdings auch nicht viel heller. Der gestresste Architekt und Baustellenleiter Kotschie verliert sich in Tagträumen seiner einstigen großen Liebe Carmen Schöne und diese Tagträume erweisen sich wesentlich besser als das, was später in der Realität eintritt. Sein Zusammenbruch interessiert seine Frau weniger als die Planung für den 50. Er müht sich wie ein moderner Tati am Alltag ab, reihenweise surreale Szenen stehen ihm im Weg. Dauernd fragen ihn junge Tramper, in welche Richtung es geht. Erst als er sich die Fernbedienung schnappt, an der sich sein Vater immer festhält, und nicht mehr den Anweisungen des Navi folgt, macht er sich auf zu seiner ehemaligen Geliebten. Unterwegs freundet er sich mit einem Hund und seinen eigentlichen Wünschen an. Mit dramatischen Folgen...

Diesen in jeder Hinsicht exzellenten Film kann man getrost mit „American Beauty“ vergleichen. Eine treffende Psychostudie inmitten eines schillernden Films. Regisseur Norbert Baumgarten („Befreite Zone“), der auch das Buch schrieb, bringt wie gute amerikanische Familien-Filme in wenigen Szenen das Gefühl seines melancholischen Helden grandios auf den Punkt. Das ist oft komisch, etwa wenn in einer öffentlichen Toilette immer der falsche Wasserhahn läuft. Und es macht immer Spaß.

Neben Stefan Kurts oscar-reifer Schauspielleistung von cooler Karaoke-Einlage („Runaway“) bis zu stillen Regungen der Verlorenheit zeigt „Mensch Kotschi“ eine sagenhafte Bild-Inszenierung (Kamera: Lars Lenski), die den inneren Aufruhr mit einer atemberaubenden Klarheit der Kompositionen verhöhnt. „Kotschie“ geht generell in die Vollen, was die filmischen Mittel anlangt. Dazu gehören auch mit Bach-Variationen (Musik: Michael Eimann) melancholisch betrachtete alte Fotos aus einer Zeit, als das Leben noch Hoffnungen hatte.

15.3.10

Troubled Water


Norwegen 2008 (De Usynlige) Regie: Erik Poppe mit Pål Sverre Valheim Hagen, Trine Dyrholm, Ellen Dorrit Petersen, Fredrik Grøndahl, Trond Espen Seim 121 Min. FSK: ab 12

Liegt es am Protestantismus, dass sich die Skandinavier immer so großartig und immer wieder packend mit Schuld beladen und auseinandersetzen? In der bitter-komischen Herausforderung Gottes in „Adams Äpfel“ von Anders Thomas Jensen oder im stark stilisierten Lebenswandel „Bedingungslos“ von Ole Bornedal beispielsweise. Und dann „Das Fest“ einer Vergangenheitsbewältigung sowie ganz neu „Submarino“ von Thomas Vinterberg, der „Troubled Water“ nicht nur thematisch (totes Kind, verletzte Hand), sondern auch formal (lineare statt parallele Montage) erstaunlich verwandt ist. Und dann gibt es ja noch den ganzen komplexbeladenen Bergman-Eisberg...

Kann man einen Erwachsenen für das verurteilen, was er als Jugendlicher verbrochen hat? Ist ein vermeintlicher Mörder nach Absitzen seiner Strafe noch schuldig? Diese moralischen Untiefen lotet „Troubled Water“ mit dem Organisten Jan Thomas (Pål Sverre Valheim Hagen) feinfühlig aus: Als Teenager klaute er in einem dummen Streich mit seinem Freund einen Kinderwagen samt Kind. Der panische Junge verunglückte und starb dabei. Die Täter wurden verurteilt. Nun kommt Jan Thomas aus dem Gefängnis und bekommt eine Stelle bei einer Kirche. Das Orgelspiel ist seine große Leidenschaft, selbst ein gebrochener Finger - ein Abschiedsgeschenk seiner Mithäftlinge - kann nicht verhindern, dass er mit seinen eindrucksvollen Variationen kirchlicher und weltlicher Stücke die Menschen bewegt. Auch die sehr naive Pfarrerin Anna (Ellen Dorrit Petersen) wird von Thomas, wie er sich jetzt nur noch nennt, berührt. Anna hat einen kleinen Sohn, Jens, vor dem Thomas zuerst regelrecht Angst hat. Später bangen andere um Jens...

Gerade als man anfängt, Thomas ein gutes Leben frei von der tragischen Vergangenheit zu wünschen und die drohenden Erinnerung nicht mehr sehen will, taucht Agnes (Trine Dyrholm), die Mutter des verstorbenen Kindes auf. Während sich nun die Handlung aus ihrer Perspektive wiederholt, bekommt man mehr und mehr Verständnis für ihr immer währendes Leiden. Dies wird nicht das letzte Kippen in der mitreißenden Gefühlsdramaturgie dieses bewegenden Films sein. Agnes will keine Rache, sie will nur endlich wissen, was damals tatsächlich geschah. War es ein Unfall oder tatsächlich ein Mord? Und wer der beiden Jungen, die sich gegenseitig beschuldigten, hatte letztendlich Schuld?

Schuld und Vergebung werden diskutiert. Berufsmäßig beherrscht Pfarrerin Anna diese Kategorien, aber als Mensch fällt es ihr schwerer, an Thomas zu glauben. Glauben und Zweifel, für die wieder ein ungläubiger Thomas steht, bestimmen ebenfalls diesen menschlich extrem spannenden Film.

Was der britische „Boy A“ nicht vollbrachte, macht „Troubled Water“ ganz einfach und geschickt: Er zeigt beide Seiten eines tragischen Ereignisses. Vielleicht sind die Doppelungen manchmal zu ausführlich, aber dieser Film lässt viel zum Nachdenken übrig. Simon & Garfunkels Hymne „Bridge over Troubled Water“ stand Pate für den internationalen Titel des Films - Wasser in seinen vielfältigsten Formen taucht auch ansonsten dauernd im Film auf, allerdings trotz der Häufigkeit dieser Metapher sehr unauffällig. Diese gleichzeitig dichte und unprätentiös wirkende Inszenierung macht zusammen mit den großartigen Darstellern Pål Sverre Valheim Hagen (Jan Thomas) und Trine Dyrholm (Agnes) „Troubled Water“ zu einem Film der unmerklich, aber nachhaltig packt.

Green Zone


USA, Großbritannien, Frankreich, Spanien 2010 (Green Zone) Regie: Paul Greengrass mit Matt Damon, Greg Kinnear, Jason Isaacs, Brendan Gleeson 115 Min.

Sensationelle Neuigkeit: Es gab gar keine Massenvernichtungswaffen im Irak! Da diese „Weapons of Mass Destruction“, die Bush und Blair erfunden haben, um Ölquellen im Irak einzukassieren, mittlerweile in den Top 3 der zynischen Kriegsvorwände stehen - mit Hitlers „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ und Merkels „asymmetrischer Bedrohung“ durch Afghanistan - erweist sich die politische Agenda von Regisseur Paul Greengrass als Feigenblättchen.

„Green Zone“, benannt nach der angeblich befriedeten Zone in Bagdad, heizt zuerst mit Action ein. Später gibt es etwas zum Nachdenken. Denn Offizier Roy Miller (Matt Damon) sucht mit seinen Soldaten ebenso ernsthaft wie erfolglos nach den berühmten Massenvernichtungswaffen Saddams. Eher zufällig geraten die braven Uniformierten an eine Versammlung ehemaliger Größen der Baath-Partei, unter ihnen der iranische General Al Rawi. Ein wichtiger Zeuge wird den US-Soldaten sofort von einer sehr schnellen Eingreiftruppe weggeschnappt und mit Sack über dem Kopf zur Folter entführt. Doch mithilfe des guten Iraki „Freddy“ (Khalid Abdalla) und des CIA-Agenten Brown (Brendan Gleeson) verfolgt Miller die Spur und entdeckt, dass die Massenvernichtungswaffen eine Erfindung der US-Administration sind. Selbst die Saddam-kritische irakische Armee hatte die USA informiert, dass es diese Waffen nicht gibt.

Während die Videobotschaft Bushs gerade das Ende des Krieges behauptet, geht das Morden in Bagdad weiter. Weiterhin wird in „Green Zone“ entarnt, wie sich die westliche Presse zur Propagandamaschine für Machthaber und Krieg missbrauchen lässt. Ansonsten stellt man wieder fest, dass Paul Greengrass trotz Filmen wie „Bloody Sunday“ zum britischen Massaker an irischen Demonstranten oder „Flug 93“ zu den Attentaten von 9/11 kein politischer Regisseur ist. Bei genauer Betrachtung sind selbst seine zwei „Bourne“-Filme subversiver. Stilistisch setzt er deren Hektik fort - erneut mit Matt Damon in der Hauptrolle: Unter martialischer Musik wird viel mit Kriegsjeeps durch eine orientalische Stadt gedüst (gedreht wurde selbstverständlich nicht in Bagdad). Viel Gerenne bis der gute dann den bösen Militär erschießen kann. Doch die wertvolle Hilfe des auch guten irakischen Militärs kann man sich doch nicht versichern, weil das irakische Volk seine Stimme, nein: seine Waffe ergreift und für tödliche Fakten sorgt. Ein düsteres, aber auch ziemlich undifferenziertes Schlussbild und eine Ehrenrettung des Militärs. Aber am Ende geht es nur noch darum, Matt Damon zu retten, damit er auch den nächsten Action-Schrott wieder dem Publikum verkaufen kann. Sehr viel Lärm um nichts Neues.

Hitchcock nannte dies MacGuffin - irgendwas, dem man hinterher rennt und es ist eigentlich egal, was es ist, Hauptsache spannend. Doch wo so viele Menschen grundlos im Krieg gemordet wurden und täglich immer noch sterben, ist es entweder zynisch oder dumm, mit MacGuffins zu spielen. Ein mit großem Aufwand an Film- und Militärmaschinerie sehr lautes Geldverbrennen erweist sich besonders jetzt, da „Hurt Locker“ als exzellenter Irak-Film als Oscar-Sieger wieder in Erinnerung gerufen wurde, als höchst überflüssig.

Legion


USA 2010 (Legion) Regie: Scott Stewart mit Paul Bettany, Lucas Black, Tyrese Gibson, Dennis Quaid 100 Min. FSK: ab 16

Diesmal hilft auch kein Stoßgebet mehr: Gott hat die Menschheit aufgegeben - wahrscheinlich hat er eine Preview dieses Films gesehen. Nur Michael (Paul Bettany), ein gefallener Erzengel, verteidigt die letzte Hoffnung unserer Spezies: Ein ungeborenes Kind. Was ansonsten um diese simple Konstruktion gestrickt wurde, ist sowohl von allen guten Geistesblitzen als auch von jedem Action-Verstand verlassen. Ein religiös durchsetzter Möchtegern-Horror, der einen sofort aus der Kirche der Action-Anhänger austreten lässt.

Düster beginnt es mit einem blutig gefallenen Engel, der sich im Stile von Bruce Willis oder „Matrix“ erst einmal richtig bewaffnet. Dann springt der Film zum gottverlassenen Imbiss „Paradise Falls“ in die Wüste und wird zu einem lahmen Nachmittags-Talk. Das schematische Auffahren der Figuren dauert elend lange, die Entwicklung erfolgt so lahm, dass man sich furchtbare Gemetzel oder wenigstens eine kleine Apokalypse geradezu herbei sehnt. Nachdem eine ganze Stange „Salem lights“ weggeraucht wurde, tauchen eine bissige alte Hexe und ein monströser Eismann als Vorboten der Hölle auf, die alle der feschen Kellnerin Charlie (Adrianne Palicki) ans Ungeborene wollen. Besessen von Engeln, die Gottes Vernichtungsauftrag treu folgen, blecken sie ihre Haifischzähne und lassen sich abknallen.  Klingt nach der üblichen Horror-Action, doch wer so was erwartet, wird von endlosem und extrem dämlichem Gesülze über die verkommene Menschheit auf die Folter gespannt. Als hätten die Ausgeburten der Hölle allen schon das Hirn weggefressen. Die sparsamen Action-Einlagen entschädigen da keineswegs. Erst wer versucht mitzudenken, wird richtig geschockt: Da erweist sich das misslungene Filmchen nebenbei als Anti-Abtreibungs-Action. Tatsächlich scheint die Menschheit von allen guten Geistern verlassen zu sein - zumindest in einigen Filmproduktionen.

10.3.10

Ajami


Israel, Deutschland 2009 (Ajami) Regie: Scandar Copti, Yaron Shani mit Shahir Kabaha, Ibrahim Frege, Fouad Habash, Youssef Sahwani, Ranin Karim 120 Min.

Ist Ihnen der ganze Nahe Osten mit den Palästinensern, den Israelis, aber auch den christlichen Palästinensern zu kompliziert? Das Puzzle von Interessen, Religionen und Nationen auf kleinster Fläche zu verwirrend? Dann sorgt „Ajami“ auch nicht für Durchblick. Aber das Gemeinschaftsprodukt des arabischen Christen Scandar Copti und des israelischen Juden Yaron Shani ermöglicht einen packenden emotionalen Zugang zu ganz verschiedenen Menschen in der Region.

In der arabischen Stadt Jaffa, die unter israelischer Kontrolle 1950 Teil von Tel Aviv wurde, führen zu viele Waffen und noch mehr Dummheit zu einer Blutrachen-Fehde. Ohne Schuld hängt Omar mittendrin, erlebt das Schachern um teure Entschädigungen. Um das Geld aufzutreiben, bricht Autos er auf und klaut, dann arbeitet er für Anan, den reichen Restaurantchef und einflussreichen Vermittler. In der Küche schuftet auch der junge Marek - illegal. Er braucht Geld für seine schwer kranke Mutter. Ein Drogendeal, in den Omar und Marek stolpern, hat tragische Folgen. Auch für die schwierige Liebesgeschichte zwischen Omar und Hadir, der Tochter von Anan. Nur der fröhliche Binj scheint mit den Grenzen zwischen Religionen, Staaten und Einkommen zurecht zu kommen, feiert, kokst und lebt. Doch er wird von seinen Freunden verlassen. Die Stimmung im Viertel Ajami ist durch den Tod eines israelischen Soldaten angeheizt. Die alltägliche Diskriminierung kulminiert, auch weil die Polizei in die Drogengeschäfte verwickelt ist.

In fünf Kapiteln werden die Schicksale von mehreren Personen auch zeitlich raffiniert wie in „Pulp Fiction“ verschachtelt. Das erscheint am Anfang des spannenden, sehr gut gespielten und authentisch wirkenden Films unübersichtlich, ergibt aber reizvoll über die anderen Perspektiven mehr und mehr Sinn. Und zeigt zudem sehr schön, wie sehr die Leben hier miteinander verflochten sind.

9.3.10

Fall 39


USA, Kanada 2009 (Case 39) Regie: Christian Alvart mit Renée Zellweger, Jodelle Ferland, Ian McShane 113 Min.

Sie sieht harmlos aus, aber hinter dem unbewegten Gesicht verbirgt sich ein Monster: Das ehemalige Bridget Jones-Schätzchen Renée Zellweger entwickelt sich mit mangelndem Ausdrucksvermögen und immer schlechteren Rollen zum Horror der Kinoleinwand. Wie passend, dass sie jetzt in einem Horrorfilm mitmacht: „Fall 39“ will uns mit der einfachen Geschichte eines bedrohten Kindes reinlegen, das sich im Verlauf als kleiner, aber echter Teufelsbraten erweist, den seine Eltern nur zu Recht im Ofen rösten wollten. Das gab es kürzlich als „Orphan“ und klassisch als „Der Exorzist“ oder als „Omen“-Serie. Sobald diese lahme Überraschung halbwegs anständig ausgespielt wurde, kommt es auf das Schauspiel des kleinen Monsters Lilith Sullivan (Jodelle Ferland) und des Leinwand-Schreckens Zellweger in der Rolle der überarbeiteten Sozialarbeiterin Emily Jenkins an. Die verlor ihr Herz gegen jede (Drehbuch-) Vernunft an ihren 39. Fall, Lilith. Und fast ihr Leben an die Ausgeburt der Hölle. Dabei ist die Naivität der angeblich erfahrenen Sozialarbeiterin erschreckender als die heimtückischen Anschläge des teuflischen Mädchens. Ein handwerklich akzeptabler Film, dessen „Produktionswerte“ nicht die Schwächen im Grundgerüst überdecken können. So ist es vielleicht nicht allein die Schuld von Renée, dass der ganze Horror oft unfreiwillig komisch wirkt.

Ein Prophet


Frankreich, Italien 2009 (Un Prophète) Regie: Jacques Audiard mit Darsteller Tahar Rahim, Niels Arestrup, Adel Bencherif, Reda Kateb 150 Min.

Ein Gangsterfilm, der das Festival von Cannes gewinnt, muss etwas besonderes sein. „Ein Prophet“ erfüllt selbst hohe Erwartungen, begeistert mit einer faszinierenden Hauptfigur sowie einer Geschichte zwischen Scorseses Mafia und einer ganz eigenen Sprache des Regisseurs Jacques Audiard („Der wilde Schlag meines Herzens“).

Als Malik (Tahar Rahim) nach Jahren der Jugendhaft in ein richtiges Gefängnis verlegt wird, beginnt für ihn eine erstaunliche Entwicklungszeit. Trotz seiner arabischen Herkunft landet er bei der gefängnis-internen korsischen Mafia, die vom mächtigen Paten Cesar Luciani (großartig: Niels Arestrup) geführt wird. Den Korsen gehorcht selbst der Gefängnisdirektor, sie kontrollieren den Handel, die Jobs, entscheiden über Leben und Tod. Für einen sehr blutigen Mord an einem arabisch-stämmigen Zeugen erhält Malik einige Stangen Zigaretten, aber vor allem den Zugang zu Luciani. Der Jungen wird als Araber verachtet, verrichtet niedere Dienste, erweist sich aber immer als cleverer, als man es von ihm erwartet. Bald versteht er nicht nur französisch und arabisch sondern auch korsisch. Ein seltsamer Berater ist ihm der Ermordete, der immer wieder in makabren Visionen erscheint. Als die meisten Korsen aufgrund einer Amnestie in andere Gefängnisse wechseln, wird Malik zur rechten Hand von Luciani, kontrolliert dessen Handy, ist ihm Augen und Ohren.

Wie bei Scorsese oder anderen Filmen dieses Genres schildert der französische Regisseur Jacques Audiard den Aufstieg eines Gangsters dicht und packend. Malik beginnt als verschlossener Einzelgänger, wird zum coolen Typen mit starker Präsenz. Neben der schmutzigen Arbeit im Knast bildet er sich auch weiter, lernt lesen und schreiben. Doch der Aufsteiger zeigt sich auch ziemlich naiv, mit zig Kilo Hasch geht er staunend in den Supermarkt. Das macht das schillernde dieser Figur aus, die raffinierte Bauernschläue und die unübersehbare Unsicherheit. Doch wenn es drauf ankommt, überlebt er sogar in unmöglichen Situationen.

Mit überhöhten und durch ungewöhnliche Mittel wie Lochblenden entfremdeten Momenten gibt Audiard den raffinierten Machtspielen seinen eigenen Touch. Bis zur mysteriösen, titelgebenden Prophezeiung im Moment höchster Gefahr. Montagesequenzen der großen Machtverschiebungen vergehen hier unaufgeregt, selbstverständlich, fast natürlich. „Ein Prophet“ ist ein erstaunlicher Film, man staunt über einen Verbrecher, einen Mörder, dem man Sympathien schenkt.

Am Ende dieser „natürlichen“ Entwicklung hat ein Seitenwechsel stattgefunden. Man sieht wie Malik nun die Araber befiehlt. Der alte Mann Luciani kann nicht mal mehr alleine auf seiner Bank sitzen, denn es ist nicht mehr seine Bank. Bald wird Malik als neuer MacKeeth das Gefängnis verlassen. Davor wartet nicht nur eine Armada von Autos und Kumpels, auch eine fertige Familie.

Agora - Die Säulen des Himmels


Spanien 2009 (Agora) Regie Alejandro Amenábar mit Rachel Weisz, Max Minghella, Oscar Isaac 126 Min.

In dem eindrucksvoll inszenierten Historiendrama „Agora“ um die historisch verbürgte, frühe ägyptische Wissenschaftlerin Hypatia stellt der Spanier Alejandro Amenábar Aufklärung, freien Willen und gesunden Menschenverstand dem religiösen Wahn entgegen. Im Alexandria des 4. Jahrhunderts lehrt die Wissenschaftlerin Hypatia (Rachel Weisz) Astronomie und Toleranz. Doch Unruhen um eine aufkommende radikale Religionsgruppe namens Christen reichen bis in den Hort der Vernunft. Ein paar Pogrome, Gemetzel und Barbareien später haben die bärtigen Christen in ihren dunklen Gewändern die Macht übernommen, ihre ungebildeten Sittenwächter terrorisieren die Straßen, sogar der Rest der zerfallenden römischen Staatsmacht ergibt sich ihnen.

Die Schüler der alten Klasse Hypathias finden sich auf neuen Positionen einer religiös verseuchten Gesellschaft: Der konvertierte Oreste (Oscar Isaac) ist römischer Statthalter und kann doch nicht die geliebte Hypatia schützen. Der ehemalige Sklave Davus (Max Minghella), der Jahre beim christlichen Stoßtrupp für Rechtlosigkeit sorgte, bleibt seiner einstigen Herrin bis zuletzt treu. Denn nachdem die Christen die alte Religion und die Juden ausgemerzt haben, müssen sie jetzt die Vernunft der genialen Astronomin auslöschen und brandmarken sie als Hexe…

Das Liebesdrama ist gleichzeitig eine Metapher: Sowohl der Davus als auch Oreste umwerben die Vernunft in Form von Hypatia. Doch die lässt sich nicht vereinnahmen, liebt nur die Wissenschaft. „Agora“ kann ein wunderbarer Aufreger sein. Denn nach diesem klugen Film denkt man gerne über ein allgemeines Religionsverbot nach. „Agora“ vergleicht nicht, welche Religion schrecklicher metzelt, all diese Clübchen haben scheinbar nur das Ziel, die Hölle auf Erden möglichst schnell herbeizuführen. Selbstverständlich in Gottes Auftrag und für das Seelenheil der gerade Niedergemetzelten. Besonders furchtbar ist der erbitterte Kampf mit Feuer und Schwert gegen die Vernunft und den Atheismus. Dass die Frau Hypatia wahrscheinlich 1200 Jahre vor Keppler herausfand, wie die Erde sich in elliptischer Bahn um die Sonne dreht, wird da zur Nebensache.
 
Der Spanier Alejandro Amenábar („The Others“) hat keinen durchgehend gelungenen, aber einen für unsere Zeit enorm wichtigen Film gedreht. Wer jetzt bedauert, das die Poesie der „Liebenden vom Polarkreis“, die Romantik und die magische Sexualität der früheren Filme Amenábars durch das erdenschwere Thema Religion verschwunden sind, verhält sich dabei ebenso wie Hypatia, die bei allen astronomischen Studien übersieht, was in der Welt um sie passiert - ob sie sich dreht oder auch nicht.

8.3.10

Ausnahmesituation


USA 2010 (Extraordinary Measures) Regie: Tom Vaughan mit Brendan Fraser, Harrison Ford, Keri Russell, Meredith Droeger 106 Min.

Ein liebvoller Vater kümmert sich aufopfernd um seine todkranken Kinder, doch um ihr Leben zu retten, muss er einen unkonventionellen Weg gehen. „Ausnahmesituation“ ist einer dieser Filme wie „Lorenzos Öl“, die den Kampf gegen angeblich unheilbare Krankheiten schildern. Die extreme Dramatisierung von Elternliebe stößt auf einige Probleme, wenn man wissenschaftliche Entwicklung in einem Film sichtbar und interessant machen muss. Denn unser Super-Daddy John Crowley (Brendan Fraser) ist einer dieser Internet-Patienten, die alles besser wissen. So ist er Privat-Spezialist über Morbus Pompe, dieser seltenen Stoffwechselkrankheit, die zwei seiner drei Kinder nur wenige Jahre zum Leben lässt. Und John kontaktiert den berühmtesten Forscher auf diesem Gebiet, Dr. Robert Stonehill (Harrison Ford). Zusammen gründen sie eine Biotech-Firma, die Medikamente schneller entwickeln soll, als es die universitäre Wissenschaft im Zusammenspiel mit der Industrie schafft. Das hört sich nicht unbedingt prickelnd an und hat tatsächlich auch seine Längen. Abgesehen von der völlig vorhersehbaren Rezeptur mit wenig risikofreudigen Zutaten bei Schauspiel und Inszenierung.

Die Formel für diesen Film ist keine sensationell neue Entdeckung. Es gibt sie in allen möglichen Billigvarianten, und während bei Medikamenten der Nachbau genau so gut ist, wurde bei diesem Film reichlich gespart. Abgesehen davon, dass Daddy John immer wieder gegen die Regeln der Wissenschaft verstößt und seine persönliche Betroffenheit erfolgreich gegen die verordnete Objektivität einsetzt, erfährt man nicht schockierend viel über die Mechanismen der Pharmaindustrie, obwohl dem Film eine „wahre Geschichte“ (Geeta Anand: „The Cure“) zugrunde liegt. Wie man Milliarden an Gewinnen einsackt, ist kein Thema. Nur ein Gespräch mit Geldgebern betont nebenbei, dass die Patienten ein Leben lang für die neue Medizin bezahlen müssten.

So überlässt die Dramaturgie den Ablauf einem zähflüssigen Wechsel zwischen rührenden Momenten rund um die bedrohte Familie und einem müden Geschäft-Krimi um den schnellsten Weg, ein Medikament zu entwickeln. Brendan Fraser wirkt wie ein meist grinsender Rollen-Roboter. Meredith Droeger, die Darstellerin der kranken Tochter Megan, belebt den Film noch ein wenig mit ihrer frischen, unverfrorenen Art. Ko-Produzent Harrison Ford legt ein paar Schlüsselszenen hin, die den schwachen Film aber auch nicht rausreißen.

Auftrag Rache


USA, Großbritannien 2010 (Edge of Darkness) Regie: Martin Campbell mit Mel Gibson, Ray Winstone, Danny Huston 114 Min.

Einem nicht gerade perfekten Vater wird die erwachsene Tochter vor seiner Haustür ermordet. Der Polizist Thomas Craven (Mel Gibson) müsste vom Fall abgezogen werden, aber da der Schuss anscheinend ihm galt, bleibt er im Job und forscht auf eigene Faust. Craven ist ein bemerkenswert gradliniger Mensch. Seine Regeln sind einfach: Sei ehrlich. Verletze keinen, der es nicht verdient. Lass dich nicht von den Schlechten kaufen. Mit diesen Maximen mischt er ein Konglomerat aus Atomindustrie und Geheimdiensten auf, die von der Regierung bis zum kleinen Polizisten alles kontrollieren und korrumpieren. Seine Tochter war dem Atomskandal auf der Spur und wurde radioaktiv verseucht. Nun übernimmt der alleinstehende Craven. Ein Typ, der nicht zu verlieren hat und „sich einen Scheißdreck kümmert“. Gefährlich verbittert schnauzt er herum, wenn er überhaupt etwas sagt. Er legt sich mit wirklich allen an, gibt ihnen aber auch eine letzte Chance, ab jetzt sauber aus der Sache zu kommen.

Da niemand die Chance ergreift, bekommt der deutsche Titel trotz einiger stiller Momente doch recht: „Auftrag Rache“ bleibt ein Rache- und Selbstjustiz-Film. Zweifel gibt es nicht im (privaten) Leben und Handeln des Thomas Craven. Vielleicht ist deswegen die Figur so geeignet für einen konventionellen Thriller, der in einzelnen Szenen, kurzen, heftigen Action-Segmenten und im Rätsel spannend bleibt. Mel Gibson dominiert stoisch die Großaufnahme, aber viel eindringlicher ist der sehr geheime, ebenso melancholische wie britische Sicherheits-Berater Darius Jedburgh (Ray Winstone, „Sexy Beast“): Ein hochintelligenter, cooler Genießer; aufrichtig aber auch sehr bedrohlich. Durch solche Momente gelang Martin Campbell, der damit seine eigene BBC-Serie neu verfilmte, eines der Heldenstücke, für die man sich kurzzeitig interessieren kann, den der Held ist auch Mensch.

3.3.10

The Box


USA 2009 Regie: Richard Kelly mit Cameron Diaz, Frank Langella, James Marsden 110 Min. FSK ab 16
Paramount (Kauf-DVD)

Da macht einer drei der besten Filme des letzten Jahrzehnts und keiner von ihnen startet bei uns im Kino. Nach „Donnie Darko“ (2001) und „Southland Tales“ (2006) nun ein grandioses Stück Sartre-Cinema, ein hoch spannender und tiefsinniger philosophischer Mystery-Thriller: Norma (Cameron Diaz) und Arthur Lewis (James Marsden) bilden mit ihrem Sohn Walter eine Musterfamilie im auffällig aufgeräumten Bildrahmen. Aber finanzielle Probleme plagen diese vorbildlichen Amerikaner. Arthur entwickelte die Kamera der gerade auf dem Mars gelandeten Viking-Sonden, will als Astronaut ins All, wird aber abgelehnt. Norma erfährt von Gehalts-Kürzungen, dabei muss ihr durch eine Röntgen-Überdosis verstrahlter Fuß dringend operiert werden.

Eines Tages steht eine Dose mit rotem Knopf vor der Tür. Die Gebrauchsanweisung dargeboten durch den dämonischen Mr. Arlington Steward (Frank Langella), mit einer Brandwunde, die sein ganzes Gesicht entstellt, ist simpel: Wenn sie den Knopf drücken, wird irgendwo auf der Welt ein Unbekannter sterben und die Lewis’ erhalten eine Millionen Dollar in Bar.

Das spannende moralische Experiment erweist sich als Schneeball-System, als Ketten-Spiel mit dem Tod. Es führt zu einer ersten bitteren Lehre: Es gibt immer Konsequenzen! Nun gerät der Inhalt der „Box“ vor lauter Verdächtigungen mysteriös im Stile bedrohlicher Science Fiction-Filme der Fünfziger Jahre.

Die große Verschwörung bei der NASA, der Geheimdienst NSA und vielleicht auch übersinnliche Mächte im Spiel sind, zeigt im Bild (Kamera: Steven Poster) Nuancen von grau, in seine Seele ist dieser Film tiefschwarz. Unüberhörbar ist der Hinweis auf Sartres „Geschlossene Gesellschaft“: Die Hölle sind die anderen. „Du hast Blut an deinen Händen“, wird nur noch sinnbildlich verstanden, wenn man für das Versprechen allgemeinen Wohlstands in Kauf nimmt, dass irgendwo auf der Welt der eine oder andere Mensch stirbt. Der „Test“ endet nach Aussage des Stewards Arlington, wenn genügend Menschen nicht auf den Knopf drücken. Aber es wird weitere Tests geben. Seine gedankliche Komplexität zeigt „The Box“ auch im Bild, das beispielsweise die Mayflower und die Twin Towers hochpolitisch in einer Aufnahme zeigen, also Beginn und Zerstörung des amerikanischen Traums.

„The Box“ ist mit Einsprengseln von Arthur C. Clarke und klassischer Thriller-Musik (Win Butler, Regine Chassagne, Owen Pallett) so exzellent gestaltet, dass er im Kino laufen sollte. In Deutschland passiert dies aber erst einmal nicht. aber das scheint das Schicksal von Richard Kelly zu sein.

2.3.10

Boxhagener Platz


BRD 2009 (Boxhagener Platz) Regie: Matti Geschonneck mit Gudrun Ritter, Michael Gwisdek, Samuel Schneider, Jürgen Vogel, Meret Becker 102 Min. FSK: ab 6

Der „Boxhagener Platz“ liegt irgendwo zwischen „Sonnenallee“ und „Good Bye, Lenin“: Im Jahre 1968 erlebt der Schüler Holger Jürgens Ost-Berlin in Form kleiner und großer Dramen. Während sich sein Vater, der Volks-Polizist Klaus-Dieter (Jürgen Vogel) und seine Mutter Renate (Meret Becker) heftigst streiten, kümmert sich vor allem Oma Otti (Gudrun Ritter) um Holger und ist ein Fall für sich. Fünf Ehemänner hat sie schon unter die Erde gebracht. Ob sie deshalb so oft zum Friedhof geht? Oder weil zuhause der sechste schon schwer bettlägerig ist? Nebenbei werden bei der Gräberpflege auch geschmuggelter West-Kaffee und anrüchige Poesie ausgetauscht. Lieferant ist Karl Wegner (Michael Gwisdek), Ehemann sieben in spe und als Alt-Spartakist sowieso verdächtig. Vor allem als der Fischhändler und alte Nazi Winkler (Horst Krause) eines Nachts erschlagen wird. Ausgerechnet als Omas Mann ein letztes Mal vor die Tür geht und daraufhin verscheidet. Haben Winkler seine zu forschen Sprüche oder seine Gesinnung umgebracht?

Das Panoptikum eines Ost-Berliner Volksviertels „Boxhagener Platz“ strotzt nur so von historischen Anekdötchen, guten Darstellern und politischen Nuancen. So wie aber auch die eine Kulissenstraße in Babelsberg dies ganze Leben auffangen muss, hat auch der Film Probleme, aus den vielen netten Kleinigkeiten etwas Großes entstehen zu lassen.

1.3.10

Henri 4


BRD, Frankreich, Spanien, Österreich 2009 (Henri 4) Regie: Jo Baier mit Julien Boisselier, Joachim Król, Roger Casamajor, Armelle Deutsch, Chloé Stefani 154 Min. FSK: ab 12

Es sollte ein persönliches Glanzstück der überaus erfolgreichen Produzentin Regina Ziegler werden und wurde ein peinliches Stück Euro-Pudding, das auf der Berlinale kläglich durchfiel: Der Historienfilm „Henri 4“ nach den beiden Heinrich Mann-Romanen „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ und „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“. Hintergrund ist der protestantische französische König (1553-1610), der eine Zeit blutigster Glaubenskriege mit vielen persönlichen Opfern beendete und Frankreich für eine kurze Weile befrieden konnte.

Klingt nach einem Stoff, der uns heute in den neuen Glaubenskriegen etwas sagen könnte. Doch „Henri 4“ erzählt uns nur, wie man es nicht machen sollte: Von seiner Kindheit an erlebt Henri grausame Schlachten, behält aber ein fröhliches Gemüt und entwickelt eine Lust an schönen Frauen, an denen sich auch die Kamera auffällig satt sieht. Durch Vermittlung seiner Mutter und der übermächtigen Königin-Mutter Katherina de Medici heiratet Henri Margot, die Schwester des Königs Karl IX. (Ulrich Noethen völlig überzogen). Nun bedarf es noch einer doppelten Portion Wahnsinn und Dekadenz, ein paar Meucheleien, schon ist Henri König, aber trotzdem nicht glücklich.

Manchmal klingt Heinrich Mann in Dialog-Fetzen durch, doch fast alles andere ist unerträglich. Die künstliche Kostüm-Atmosphäre, die deplatzierten Darsteller, etwa Joachim Król als väterlicher Freund Henris. TV-Regisseur Jo Baier verhob sich mit dem überlangen Historien-Schinken. Der ultimative Film zu diesem Wahnsinn von Religion und Herrschaft bleibt „Die Bartholomäusnacht“ von Patrice Chéreau.

Männer, die auf Ziegen starren


USA, Großbritannien 2009 (The Men Who Stare at Goats) Regie: Grant Heslov mit George Clooney, Ewan McGregor, Jeff Bridges, Kevin Spacey 93 Min. FSK: ab 12

Irgendwo im Filmland muss es eine Maschine geben, die Clooney klont. Es kann gar nicht sein, dass ein Schauspieler immer wieder so unterschiedlich auftritt! Zuletzt als empfindsamer Geschäftmann und Überflieger in „Up in the Air“. Dann der Clooney-Clooney in Soderberghs „Oceans“-Serie. Mit als Ableger eine Reihe witziger Kaffee-Werbungen. Zwischendurch mal im Irak als „Three Kings“ auf Goldsuche. Und nun wieder im Krisengebiet als Vertreter mit besonderen Fähigkeiten und: Schnauzbart! Unglaublich!

Ebenso unfassbar ist die verrückte und überaus spaßige Story dieses ... kaum einzuordnenden Films. Schon wie Bob Wilton (Ewan McGregor) von seiner Frau mit dem extrem unattraktiven Kollegen betrogen wird, ist ein Knaller. Frustriert begibt Bob sich nun auf Selbstmord-Mission in den Irak. Dort begegnet er dem seltsamen Schnurrbartträger Lyn Casady (großartiger Clown: George Clooney), der erst behauptet Vertreter zu sein und dann sehr unglaubwürdig vorgibt, einer Einheit für paranormale Kriegsführung anzuhören, der „New Earth Army“. Er selbst sei berühmt geworden, weil er nur mit seinem Blick eine Ziege getötet hätte. Wie sich das seltsame Duo nun auf übersinnliche und sonstige Fährten macht, eine Geisel befreit und danach fast umbringt, in der Wüste verdurstet, um doch zu einem geheimen Ziel zu gelangen, ist aberwitzige Unterhaltung im besten Sinne.

Rückblenden liefern reichlich Abstruses von einer Sondereinheit zu berichten, die einst Jeff Bridges in bester „Big Lebowski“-Manier anführte. Hochrangige Militärs lassen sich vom Flower Power einfangen. Bösartiger Gegner war immer der eifersüchtige Larry Hooper (Kevin Spacey), der die spirituelle Kraft für dunkle Pläne einsetzte. Dass Jedi-Darsteller Ewan McGregor tatsächlich zum Jedi-Soldaten wird und das Finale mit Hilfe von LSD die gute alte Hippie-Zeit aufleben lässt, macht den verrückten Star-Spaß zudem richtig sympathisch. Ein ganz anderer Antikriegs-Film - keine große Mission, aber ein kleines, utopisches Stück Freiheit.

Crazy Heart


USA 2009 (Crazy Heart) Regie und Buch: Scott Cooper mit Jeff Bridges, Maggie Gyllenhaal, Robert Duvall, Ryan Bingham, Colin Farrell 112 Min.

Bad Blake (Jeff Bridges) macht seinem Namen alle Ehre: Er sitzt an der Bar wie „Big Lebowski“, bekommt aber ausdrücklich keinen Deckel mehr. Er ist so cool im Verachten der elenden Umstände seiner Konzert-Tour durch billige Clubs und Bowling-Bahnen, dass die Tragik doch noch Lachen zulässt. Die einstige Country-Legende ist 57 und pleite. Von den Fans gibt es immer mal eine Flasche Alk, auch finden sich noch in die Jahre gekommene Groupies für die After-Show im Bett. Bad Blake schwitzt extrem und lallt selbst wenn er nüchtern ist. Die könnte ein Absturz direkt ins Delirium werden, liefe ihm nicht in Santa Fee die Journalistin Jean Craddock (Maggie Gyllenhaal) über den Weg. Dem guten Gespräch mit Jean folgt mal keine gemeinsame Nacht, weil die alleinerziehende Mutter zurück zu ihrem Sohn Buddy muss. Beim nächsten Date erweist sich Bad als gar nicht so schlechter Vater, wenigstens nicht für Jeans Sohn. Seinen eigenen Sohn, der mittlerweile 28 ist, hat er seit 24 Jahren nicht mehr gesehen.

Mit der Liebe Jeans bekommt auch die Karriere wieder Oberwasser: Widerwillig muss Blake für den populären knödelnden Country-Sänger Tommy Sweet (Colin Farrell) den Opener geben, doch der ehemalige Schüler erweist sich als guter Freund und tut einiges für sein Vorbild.

Nach den Johnny Cash-Filmen gibt es mal wieder Country im Kino, der mal nicht hinterwäldlerisch ist. Das liegt vor allem an Jeff Bridges. Er zieht diesen Film fast alleine durch, und die Kamera (Barry Markowitz) fängt das zerknitterte Gesicht, aus dem noch einmal das Leben aufblitzt, hervorragend ein. Irgendwann sagt Blake „alle Lieder schrieb das Leben“ und man glaubt es dem Film, dass die Falten im Gesicht auch aus der Richtung kommen.

Zusammen mit Maggie Gyllenhaal bildet er ein seltsames Paar, aber es ist schön anzusehen - wenn er halbwegs nüchtern ist. Doch der Alkoholismus steht wie in den vier Ehen vorher auch diesmal dem Familienglück im Weg. Als Buddy unter der Obhut Blakes wegläuft, ist für alle der Alkohol schuld. Hier verliert der Film an Glaubwürdigkeit, wird sehr amerikanisch im Denken, denn Kinder laufen nicht nur Eltern weg, die gerade einen Drink und eine Limonade bestellen.

Aber nach einer Entziehungskur gibt es neue, noch bessere Lieder mit schönem Blues-Einschlag. „Crazy Heart“ liefert einen großartigen Auftritt von Jeff Bridges, einen hervorragenden Einsatz der Musik und einen erstaunlichen Kinoerstling von Scott Cooper nach dem Roman "Crazy Heart" von Thomas Cobb. Nicht nur Rock-Legende T-Bone Burnett, auch der Schauspieler Robert Duvall unterstützte das Projekt als Produzenten. Im ersten Song des Films singt Bad Blake: „Früher war ich mal jemand - jetzt bin ich ein anderer.“ Am Ende kann er tatsächlich sagen: „Jetzt bin ich ein anderer.“