28.2.10

Alice im Wunderland


USA 2010 (Alice in Wonderland) Regie: Tim Burton mit Mia Wasikowska, Johnny Depp, Anne Hathaway, Helena Bonham Carter 108 Min. FSK ab 12

Alice in Burtonland

„For, you see, so many out-of-the-way things had happened lately, that Alice had begun to think that very few things indeed were really impossible.“ (Lewis Carrol, Alice in Wonderland)

Nichts ist unmöglich also. Schon gar nicht in der Filmwelt. Tim Burton, der früher ganz wunderliche Welten schaffte, macht aus dem einzigartigen Buch von Lewis Carrol erstaunlich wenig.

Nach einem rasenden Sturz durch ein Kaninchenloch landet Alice im Unterland, was sich halbwegs mit Wunderland reimt. Dies ist eine der ersten Schelmereien von Burton und seinen Autoren. Eine weitere dann der Sturz selbst. Bei diesem Tempo weiß man schnell, wo man gelandet ist. In einem Fantasy-Film, der Narnia zeitweise mehr verwandt ist als dem Wunderland. Wer sich erinnert, wird wissen, dass die Alice von Lewis Carrol im langsamen Fall gemütlich Teetassen anschaute und wieder zurück ins Regal stellte. Nun fliegt sie von einer gagigen Einlage zur nächsten. Aber auch Alice erinnert sich nicht wirklich daran, dass sie schon einmal hier war. Sie meint, das Wunderland sei ein Traum. Ein Traum, der sich jede Nacht wiederholt.

Die größte Veränderung zum Buch liegt in der wesentlich ausführlicheren Rahmengeschichte, in der die 17-jährige Alice verlobt werden soll. Sie flieht vor der Gesellschaft und ihren engen Regeln. So lässt sich der Besuch im Wunderland auch als Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau verstehen, die erst nach Hause kann, wenn sie weiß, wer sie ist und was sie will. Das Übliche für einen Disney-Film, aber erschreckend konventionell für einen Tim Burton (der übrigens als Zeichner bei Disney angefangen hat). Das bleibt denn auch das einzige Erschrecken, die düsteren Seiten und Figuren Burtons fallen in seinem ersten 3D-Film, der ab 12 Jahren zugelassen ist, flach. Weder die herzlose Herz-Königin, gespielt von Burtons Gemahlin Helena Bonham Carter, noch der Drache Jabberwocky haben einen Hauch von düsteren Gothik-Schauder des „Nightmare before Christmas“, von „Beetlejuice“, „Corpse Bride“ oder „Edward mit den Scherenhänden“. Und nicht einmal Matt Lucas, der kleine Satire-Star von „Little Britain“, der sein Gesicht gleich zweifach für Diedeldum und Diedeldei hinhält, lässt ein böses Wort fallen. Es scheint, als throne die wirklich böse Königin irgendwo im Disneyland-Schloss des Vorspanns und verbiete alles außer netter Einfalt.

Trotzdem ist „Alice im Wunderland“ durchaus unterhaltsam, bietet immer mal wieder reizvolle 3D-Tiefen, zerstörte und in weiß überstrahlte Landschaften, eindrucksvolle Karten-Armeen und knuffelige Monster, aber das Postermotiv mit der Teegesellschaft um den depperten Hutmacher ist schon das schillerndste, was der Film zu bieten hat. Johnny Depp - wer sonst - gibt den verrückten Hutmacher und könnte irgendwann mal richtig ausflippen. Doch irgendwer stoppt ihn immer kurz vorher.

Der Film „Alice im Wunderland“ stellt als auch eine Emanzipationsgeschichte von der Vorlage Lewis Carrolls dar. Wer sich an dem skurrilen Witz und dem hellen Verstand der kleinen Geschichte erfreut, wird gerade von Tim Burton viel erwarten, aber vom Ergebnis enttäuscht sein.

24.2.10

Antonia (2009)


Brasilien 2009 (Antônia - O Filme) Regie: Tata Amaral mit Negra Li, Leilah Moreno, Quelynah, Cindy Mendes 90 Min.

Vom Kampf ums Überleben und von gescheiterten Hoffnung auf etwas Erfolg im Stadtteil Brasilandia erzählt dieser sozial aufmerksame und wehmütige Rückblick auf ein Frauen-Quartett: Preta, Lena, Mayah und Barbarah begannen als Background-Sängerinnen einer brasilianischen Rap-Gruppe. Als eigene Band nennen sie sich Antonia und bringen eingängige Liedchen mit starken Frauenpositionen. Am Anfang singen sie noch „Nichts kann uns aufhalten“, doch bald schon fällt die Gruppe auseinander. Mayah als mit dem Ex von Preta flirtet, fliegt sie wegen der Eifersucht. Lena wird schwanger und diesmal verbietet ihr Freund das Weitersingen. Barbarah schließlich landet im Gefängnis, weil sie einen kleinen Jungen erschlägt. Dessen Gang hatte vorher ihren schwulen Bruder Duda mit dessen Freund so brutal zusammengeschlagen, dass der Freund starb.
Schwulenfeindlichkeit und Chauvinismus werfen also der Emanzipation Steine in den Weg. Übersichtlich ist auch die Struktur dieses beschwingten Sozialdramas, das von Barbarah aus dem Gefängnis erzählt wird. Wie die Band entstand und zerfiel, von der ersten begeisternden Idee über die Proben und Anproben der Bühnenklamotten, unterbrechen immer wieder Gesangseinlagen, wie es sich für dieses Genre gehört. Die Qualitäten von „Antonia“ liegen jedoch im unverstellten Blick auf die Lebenswelten der Sängerinnen. Der Film spielt an den Hängen der Riesenstadt, im richtigen Leben und nicht im Studio, wodurch der Film einen guten dokumentarischen Touch bekommt.

22.2.10

Nine



USA, Italien 2009 (Nine) Regie: Rob Marshall mit Daniel Day-Lewis, Marion Cotillard, Penélope Cruz, Nicole Kidman, Judi Dench, Kate Hudson, Sophia Loren 112 Min.

Ein Mann mit so vielen Frauen im Kopf, das hätte Fellini gefallen. Ein Mann und gleichzeitig ein kleiner Junge. Einer, der immer wieder neu lieben will, aber selber exklusiv geliebt werden will. „Nine“ ist die (Selbst-) Demontage des Künstlers und Menschen Guido Contini, dargebracht mit der Leichtigkeit des Musicals. „Nine“ ist der neunte Film von Contini und Fortsetzung mit anderen Mitteln von Fellinis „8 1/2“. Hier und in vielen unauffälligeren Details verweist der Film zum großen italienischen Film-Fantasten. Das originale Broadway-Musical wurde seit seiner Erstaufführung 1982 mit reihenweise Tony-Awards auszeichnet. Wobei „Nine“ auf das Alter des jungen Guidos bei seiner ersten Erinnerung verweist. Nun machte Rob Marshall („Memoirs of a Geisha“) daraus seine zweite Musical-Verfilmung nach „Chicago“.

Welch ein gesegneter Künstler: Den Kuss der Musen erhält er gleich von mehreren jeden Alters - von Kate Hudson über Penelope Cruz bis zu Sophia Loren. Das ganze begleitet von einem Lalala-Liedchen, denn Lalala lautet tatsächlich der ganze Text der Eröffnungsszene auf einer leeren Bühne, die vor allem das weibliche Starpotential vorführt. Besser werden „Nine“ und Marshall, wenn es raus geht nach Rom. In das Rom, das Contini/Fellini erfunden hat und das die Welt so sieht, wie er es in seinen Filmen schuf. Über die Flucht des gefragten Regisseurs ohne Ideen und Drehbuch nach Positano, über imaginierte Gespräche mit seiner imaginierten Mutter (Sophia Loren) türmen sich die Schauwerte. Doch auch die Schaffenskrise, die ihn bei jedem Film ereilt, drückt sich in einem Lied, die Selbstreflexion dabei in einigen Spiegeln aus. Daniel Day-Lewis gibt und singt den Italiener Contini, den gequälten Künstler zwischen Mitleid und Albernheit, gut. Alle diese Lieder wurden filmisch sehr raffiniert aufgelöst. Die Flucht aus der Pressekonferenz und die parallelen Bewegungen im Filmstudio schaffen eine Balance zwischen der emotionalen Situation und ihrem „musicalischen“ Ausdruck.

Nach einigen Flops sucht Contini in größter Verzweiflung nach Antworten - selbst bei einem Kardinal. Aber weder seine Näherin Lilli (Judi Dench) noch seine Geliebte Carla (Penélope Cruz) können helfen. Dafür unterhalten sie mit jeweils einem Lied: Cruz legt als Strip getanzten und geräkelten Telefon-Sex hin. Dench darf auf dem Piano liegend mit französischem Akzent singen. Dazu rennt Guido als Kind zwischen den Tänzerinnen des Folies Bergère herum und leistet sich danach mit ein paar anderen kleinen Machos am Strand die Privatshow einer heruntergekommenen Prostituierten. „Be Italian“ heißt dann auch diese Anweisung zur Mannwerdung. Bei der sich die Theaterbühne mit Sand gefüllt hat. Auch das eine große Shownummer, wie die ganze Inszenierung von Marshall. Doch was zeigt, sagt oder vermittelt die Show? Auf jeden Fall, dass Marshall das große Filmtheater beherrscht. Gerade der Wechsel zwischen dem satten, üppigen Rot des Bühnenstückes und dem grobkörnigen Schwarzweiß der Stranderinnerung ist reizvoll, lässt einen Hauch Melancholie in die große Nummern-Maschinerie einschleichen. Ein großartiges und anrührendes Lied, die traurige Erinnerung an eine vergangene Liebe „My husband makes movies“ gibt Marion Cotillard als Ehefrau Luisa Contini das Herz des Film. Cotillard spielt Giulietta Masina, langjährige Partnerin und immer wieder Hauptdarstellerin des Schürzenjägers Fellini.

Dabei ist das Aufgebot der Frauen so gar nicht fellinesk: Kate Hudson, die als Mode-Journalistin auf dem vor lauter Glitzer ziemlich stillosen Catwalk über den „Style“ von Guidos Filmen singt, entspricht noch am ehesten dem Typus der Fellini-Frauen. Sie durften ja auch blond sein, aber niemals so dürr wie die Modellchen von heute. Oder wie Nicole Kidman, die Continis blonden Star Jenssen verkörpert. Sie
spielt die ganze Ausdrucks-Kälte aus, die man ihr oft nachsagt. Die Rolle der Muse, die sich verabschiedet, kommt dem allerdings auch entgegen. Trotzdem bleibt sie der Tiefpunkt des Liedreigens. Nicole Kidman war fünfte Wahl für diese Rolle. Aber auch die anderen Schauspielerinnen standen nicht ganz oben auf der Liste Marshalls.

Ob man sich auf die geträllerte und geschmetterte Psychoanalyse eine genialen Machos einlässt oder nicht - ein Gutes hat „Nine“ auf jeden Fall: Man will wieder Fellini sehen - ob neugierig gemacht oder als Gegengift.

Unsere Ozeane


Frankreich 2009 (Océans) Regie: Jacques Perrin, Jacques Cluzaud 97 Min. FSK o.A.

Sagenhaftes Wellenreiten mit Delphinen, einem Walrücken zum Anfassen nahe kommen - das ist schon entrückend, das sind faszinierende Aufnahmen. Mit ausgeklügelter Kamera- und Lichttechnik, enormem Personal- und Zeit-Aufwand tauchten die Teams von Jacques Perrin und Jacques Cluzaud („Nomaden der Lüfte - Das Geheimnis der Zugvögel“, 2001) vier Jahre lang in die Ozeane der Erde ein und präsentieren nun ihr „Best of“ der fotogensten Meeresbewohner: Die Bild-Kompositionen in Blau zeigen Fische als Schwärme, Kugeln oder Wolken. Ein Octopus trägt Schleier, ein Gruppentanz von Walen über Wasser. Delphine legen locker einen zehnfachen Rittberger hin. Immer wieder erstaunt natürliche Anmut, die unsere Kunst und Kultur selten hinbekommt.

Aber immer wieder nerven auch die hinzu gebastelten Töne sowie ein öko-pathetischer Kommentar mit bedeutungsschwangeren, aber unpassenden Texten. In den wenigen „Oh wie süß“-Szenen werden die Schildkröten-Babys trotz ihres niedlichen Quietschens verspeist. In kleinen Dramen müssen die armen Seehunde wieder dran glauben und werden zum Spielball von Mörderwalen, Haien und Kameras. Die Artgenossen des Futters mit den großen Kulleraugen gucken dann ganz betroffen. Dabei ginge es doch auch vegetarisch, wie ein riesiger Wal in einer Krillwolke beweist - na ja, fast vegetarisch.

Zusammenhänge fehlen jedoch weitgehend in diesem wahllosen Bilderstrom. Selbst das „Fressen und gefressen“ werden oder der „Kreislauf des Lebens“ bleiben im Trüben. Eindrucksvoll, wie zwei Heere von Krabben übereinander herfallen. Aber nicht nur die Kleinen im Kino fragen: Wieso machen die das?

Dass tote Fische, Delphine und Robben im Netz sowie eine Halle ausgestorbener Tiere einen Appell für Meeresforschung darstellen und Harmonie selbst mit dem Weißen Hai möglich sein soll, behauptet der Film, ohne wirklich zu argumentieren. Wie die Gezeiten schwappt „Unsere Ozeane“ dauernd zwischen dem großen Staunen und schlecht dargebrachter Ökologie-Botschaft hin und her. Die Tier-Dokumentation hat technisch und ästhetisch enorm gewonnen - das Verständnis für die Tierwelt gehört hier aber zu den bedrohten Arten.

20.2.10

Shutter Island


USA 2010 (Shutter Island) Regie: Martin Scorsese mit Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Emily Mortimer 138 Min.

Die Herren Professor Teer und Doktor Feder leiteten einst bei Edgar Allen Poe eine Irrenanstalt, die von den Patienten übernommen wurde. Die Frage, wer mehr spinnt, der Patient oder der Doktor, stand auch schon beim Stummfilmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“  mitten im von Schatten zerrissenen Raum. Wenn der US-Marshall Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) nun auf der psychiatrischen Gefängnis-Insel Shutter Island landet, verfolgt er eine FBI-Verschwörung bei der alle unter einer Decke stecken. Oder spinnt er einfach nur? Bis das Rätsel gelöst wird, sorgt Meister-Regisseur Martin Scorsese für reichlich Spannung.

Im Jahre 1954, während die Kommunisten-Hatz des Senators McCarthy die USA verängstigt, kommt Marshall Teddy Daniels mit seinem neuen Kollegen Chuck Aule (Mark Ruffalo) auf Shutter Island an. Sie sollen eine vermisste Frau finden, die aus ihrer verschlossenen Zelle fliehen konnte. Sie war ein Häftling, beziehungsweise eine Patientin, wie es die Ärzte betonen. Doch während alle Befragten mauern, sorgt ein Sturm für unfreiwilligen Freigang. Teddy nutzt die Gelegenheit, den mysteriösen - und ziemlich gruseligen - Trakt C heimlich zu untersuchen. Denn der verbissene Schnüffler vermutet, dass hier ist auch der Mann inhaftiert ist, der seine Frau umbrachte. Und dass im Auftrag der Regierung Experimente an den Hirnen der Inhaftierten durchgeführt werden. Eine Fortsetzung des Grauens, das Teddy als amerikanischer Soldat bei der Befreiung des Konzentrationslagers von Dachau erlebte. Rückblenden zeigen, wie seine Einheit nach dem Anblick der Leichenberge die deutschen Bewacher im Maschinengewehr-Feuer hinrichteten. Nach Meinung der leitenden Ärzte Dr. John Cawley (Ben Kingsley) und Dr. Jeremiah Naehring (Max von Sydow) liegt hier der Anfang des Traumas von Teddy Daniels. In Folge eines dramatischen Ereignisses habe er die Realität ausgeschlossen und lebe in einer Scheinwelt, in seinem eigenen Film.

Seine eigenen Filme hat auch der Regisseur Martin Scorsese im Kopf. Viele Filme! So ist „Shutter Island“ auch ein Stück Filmgeschichte mit Referenzen zu „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder Tourneurs Klassikern der Schwarzen Serie „Out of the Past“ (Goldenes Gift, 1947) und „Catpeople“ (1942). Aber vor allem ist es ein hoch spannender Film mit viel Gänsehaut-Potential. Leonardo DiCaprio überzeugt als mittlerweile gereifter Charakterdarsteller, seinem Getriebenen nimmt man viel ab. Nach „Gangs of New York“, „The Aviator“ und „The Departed“ ist dies der vierte gemeinsame Film von DiCaprio und Scorsese. Der Thriller nach dem Roman von Dennis Lehane packt von Anfang an mit drohender Musik und einem heftigen Sturm. Die Gestalten der Anstalt können einem auch beim bloßen Anblick Angst machen, da bedarf es gar nicht mehr der rätselhaften Andeutungen eines Max von Sydow. Am Ende bleibt eine aufrechte Verteidigung des Wahnsinns gegenüber der Vernunft. Und die Frage, ob nicht doch etwas dran ist, an der großen Verschwörung.

Bad Lieutenant - Cop ohne Gewissen


USA 2009 (The Bad Lieutenant: Port Of Call - New Orleans) Regie: Werner Herzog mit Nicolas Cage, Eva Mendes, Val Kilmer 122 Min. FSK ab 16

„Bad Lieutenant“ war ein Film von Abel Ferrara mit Harvey Keitel. Ein grausamer und quälender Ritt eines korrupten New Yorker Polizisten auf katholischen Höllenwegen. Obwohl man vermutet, dass gerade der ebenso exzentrische wie tiefsinnige Regisseur Werner Herzog an den religiösen und existenzielle Fragen interessiert sein sollte, mit denen sich Harvey Keitel im Original rumschlägt, kommt dieses Thema in seinem Remake „Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans“ nicht mehr vor. Bei Ferrara war jemand auf der Suche nach Antworten und Erlösung. Bei Herzog ist der „Bad Lieutenant“ auf der Suche nach dem nächsten Trip.

Ein rettender Sprung ins doch nicht so tiefe Wasser hat für den Polizisten Terence McDonagh (Nicolas Cage) tragische Folgen. Ein paar Monate nach der guten Tat mitten in den Überschwemmungen des verheerenden Wirbelsturms Katrina schlabbert ein zu großer Anzug um den schiefen Rücken von Terence. Die 44er Magnum, die er dauernd vorzeigt, wirkt auch zu gewichtig für dieses Männlein. Jeder Dealer, der verhaftet wird, erkennt sofort, dass dieser Cop auf Koks ist. Aus dem Schmerzmittel wurde eine Sucht. Als man eine ganze Familie ermordet auffindet, ermittelt der immer wahnsinniger werdende Cop trotzdem erstaunlich erfolgreich. Doch der Mordfall ist Nebensache. So wie der Lieutenant hauptsächlich mit Drogen-Beschaffung für sich und seine Freundin, die als Prostituierte arbeitet, beschäftigt ist, so blickt der Film auch vor allem auf dies menschliche Wrack im Polizeidienst.

Terence ist so süchtig, dass er konfiszierten Stoff aus der Asservatenkammer abzweigen will. Aber diese Idee hatten schon andere, auch das kann eigentlich nicht gut gehen. Zwischendurch konfisziert er auf eigene Faust, raucht den Stoff direkt und befingert dabei die Freundin des Überführten. Dieser Ordnungshüter ist nur noch mit Beschaffung beschäftigt. Die Dreistigkeit ist atemberaubend, mit der Terence jede Moral hinter sich lässt. Dazu hat er auch noch Wettschulden und lässt sich irgendwann mit einem Drogenboss ein, der noch etwas wahnsinniger ist als er. Eine hochexplosive Paarung.

„Bad Lieutenant“ hätte auch „Leaving Las Vegas 2“ heißen können, so sehr erinnert der Kokser an den Säufer, den Cage damals spielte. Dass es trotzdem kein gradliniger Thriller mit einer tragisch-komischen Hauptfigur wurde, liegt an einigen Ausflügen ins Skurrile. Wenn der Lieutenant richtig high ist, der Film die (von Herzog selbst gefilmte) Perspektive eines Krokodils übernimmt und ein Leguan „Release me“ von Tom Jones singt, driftet der Film reizvoll in Richtung „Naked Lunch“ ab.

Cages „Bad Lieutenant“ ist zwar auch richtig „bad“, also verdorben, korrupt, brutal, zynisch und drogenabhängig. Aber all dies macht den Thriller irgendwann komisch. „The Big Easy“, so nennt man New Orleans auch, die große Leichtigkeit des Lebens ist hier nur mit Drogen erträglich. Der Wandel in Wahrnehmung und Lebensführung gerät schnell ins Absurde, nicht wie erwartet ins Tragische. Selten hat man so eine derangierte Figur gesehen und sie steht Cage außerordentlich gut. Kurz bevor er alte Damen zu Tode erschreckt, versteckt er sich hinter einer Tür im Altersheim - und rasiert sich dabei. Schon für Cage in dieser besonderen Rolle lohnt sich Herzogs „Bad Lieutenant“.

19.2.10

Berlinale 2010 The Killer Inside Me


USA, Großbritannien, 2009, 120 Min.

 

Mit dem Regisseur Michael Winterbottom und seinem von Cineasten mit Spannung erwarteten Neo-Noir-Krimi „The Killer Inside Me" platzierte die Berlinale einen zweifachen Titelverteidiger auf den letzten Tag. Der sehr fleißige Brite war mit „Butterfly Kiss" 1994 erstmals im Wettbewerb der Berlinale vertreten. 2003 erhielt er den Goldenen Bären für das Flüchtlingsdrama „In this World". 2006 gab es für "The Road to Guantanamo" einen Silbernen Bären.

 

 „The Killer Inside Me" basiert auf einen Roman des berühmten und gerne verfilmten Kriminalschriftstellers Jim Thompson (1906 – 1977). Winterbottom macht aus dem Krimi eine Psychostudie, in der ein eiskalter Mörder für ebenso fröstelnde Schauer sorgt. Lou Ford (Casey Affleck), der fast nervig nette Hilfs-Sheriff eines texanischen Kaffs erweist sich hinter der Fassade schnell als mieser Sadist. Seine Tarnung so gut, dass er fast schizophren erscheint. Bei der Prostituierten Joyce (Jessica Alba), die er eigentlich aus dem Ort rausschaffen soll, findet er eine passende und leidenschaftliche Partnerin für seine Lust. Und einen Puzzlestein für seinen komplizierten Plan, der eine alte Rechnung mit dem lokalen Baulöwen Chester Conway (Ned Beatty) begleichen soll. Am Ende liegen Joyce und der Sohn Conways in ihrem Blute (und die Berlinale hat doch ein paar schwer erträgliche Gewaltszenen im Wettbewerb). Der Bezirksanwalt gibt sein Mißtrauen gegenüber Lou nie auf, findet aber keine Beweise. Auch wenn der Fall klar ist, hält der Film einen weiter im Griff, weil es immer tiefer in die dunkle Psyche des kaltblütigen Mörders geht. Winterbottom greift den Stil der Schwarzen Serie auf, gibt dem Ganzen gleißendes texanisches Sonnenlicht und ungewöhnliche Erinnungsszenen auch in die jugendlichen Anfänge von Lous sexueller Neigung. „Es ist immer am hellsten vor der (Abend-) Dämmerung", meint der saufende väterliche Boss Lous – und er hat sich nicht versprochen. Bei der Pressevorführung gab es Unverständnis für diese sehr genau gezeichnete und faszinierend gespielte Studie, vor allem weil die meisten Kritiker vom texanischen Dialekt ohne Untertitel überfordert waren und den Plot schon nicht verstanden.

 

Berlinale 2010 Resümee Wettbewerb "Mammuth"

Stürzende Festivalgäste, abstürzende Eisschollen - die Vergletscherung Berlins sorgte im Februar 2010 dafür, dass bei den 60. Internationalen Filmfestspielen Berlins (11.-21.2.2010), die heute Abend mit der Preisvergabe beendet werden, vor dem Kino mehr Stürze, Unglücke und Dramen stattfanden als auf der Leinwand. Nach eindrucksvollem Start mit Polanski, Scorsese, Antikriegs-Schockern aus Japan („Caterpillar“) und einem raffinierten Depri-Trip von Thomas Vinterberg („Submarino“) lockerte der Winter seinen Griff. Die Qualität nutzte die Chance schmaler eisfreier Schneisen, um sich vom Eise zu machen. Qualität hatte in diesem Fall (und sonst meist auch) nichts mit an- oder abwesenden US-Stars zu tun. Sie können die Schoko-Streusel oder Sahnehäubchen auf dem Eisbecher Filmkultur sein. Ohne sie ging es aber auch ganz gut im Jahre 2010. Und mit ihnen hätte man Lücken im Programm nicht überspielen können. Ein unausgereiftes Gefängnisdrama aus Rumänien, eine dünne Emanzipationsgeschichte per Puzzlespiel aus Argentinien und der nur teilweise packende Polarpsycho „How I ended this summer“ hätte man sich sparen können. Zum Glück gab es noch so circa 100 andere Filme, die andere Perspektiven aufzeigten und vor allem in der deutschen Nachwuchsecke „Perspektiven“ viele tolle Entdeckungen, alle anderen abhängend der beste deutsche Film der Hauptsektionen, „Renn, wenn du kannst“ von Dietrich Brüggemann.

Frauen-Power
Während Frauen auf der Leinwand aus manchmal schwer erfindlichen Gründen sehr häufig bei eindeutigen Idioten, Betrügern, Schlägern oder religiösen Fanatikern blieben, sorgten Regisseurinnen für die Befreiung des Wettbewerbs aus seinem Mitwochen-Tief. Nicole Holofcener mit „Please Give“ ließ in ihrer Familienkomödie Catherine Keener, Amanda Peet und Oliver Platt viele Varianten des Geben und Nehmen durchspielen.
„Na putu“, das eindrucksvolle Comeback der Bären-Gewinnerin von 2007, Jasmila Zbanic, ist ein Favorit im Wettbewerb. „Esma Geheimnis“ war ihr Erstling und bestimmt von den Folgen der Jugoslawien-Kriege. Auch in „Na putu“ sind in Bosnien und Herzegowina immer noch die Folgen von Krieg und Vertreibung zu spüren. Doch wir erleben zuerst ein junges, modernes, verliebtes Paar. Luna ist Stewardess und Amar sitzt im Tower. Als er bei der Arbeit trinkt, suspendiert man ihn für sechs Monate und schickt ihn zur Entziehung. Zufällig trifft er einen ehemaligen Kriegskameraden. Bahrija trägt nun langen Bart, seine Frau ist verschleiert „wie ein Ninja“ und sie leben als konservative Wahhabiten. Unter deren Einfluss wandelt sich der lebenslustige Amar in einen bitteren Moralapostel, verachtet das Leben Lunas und ihrer bosnischen Familie. Obwohl sie ein Kind bekommen wollten, es sogar trotz der Fruchtbarkeits-Schwäche Amars künstlich zeugen wollten, bricht ihre Liebe durch seine radikale Hinwendung zum Religiösen auseinander.
Eine erschreckende Schilderung vom Wandel eines Menschen - und Teilen der Gesellschaft. Amar meint, die Moslems müssten viele Kinder zeugen, weil Allah es gebietet und weil man so gegen den serbischen Feind die Überhand gewinnen. Der aus ihrer Heimat vertriebene Bosnier vermengt in Sarajewo derart Islamismus und Nationalismus auf besonders perfide Weise. In der Kirche Bahrijas wird Moral gepredigt und Frauen der Schleier aufgezwungen, doch er selbst heiratet in Vielehe die 12-jährige Tochter seiner Frau.

Am anderen Ende der Moralvorstellungen siedelte Lisa Cholodenko ihre Familien-Komödie „The Kids are alright“ an: Julianne Moore,  Annette Bening,  Mark Ruffalo sind die Stars einer Familienkonstellation, in der zwei Lesben für ihre beiden Kinder Super-Moms sind. Bis die Teenager neugierig auf den Samenspender werden und ein ebenso cooler wie relaxter Restaurant-Chef auftaucht. Der fährt nicht nur Motorrad, was die alles kontrollierende Mom Nicole streng verbietet. Er verdreht sogar einer der beiden Lesben den Kopf und wirbelt die eigentlich ziemlich konservative Familie durcheinander.

Der doppelte Depardieu
Als letzter Starter schenkte „Mammuth“ von Benoit Delépine und Gustave de Kervern („Aaltra“) dem Festival das Vergnügen eines doppelten Depardieus. Nicht weil der gute Mann mittlerweile für zwei wiegt und sicherlich auch isst. Nein, neben dem Wettbewerbsfilm war er auch in dem wesentlich beschaulicheren „L’ autre Dumas“ zu sehen. Doch der Doppelungen nicht genug (und nicht weil man nach so vielen Filmen alles doppelt sieht): Auch sein Mitspieler Benoît Poelvoorde, der den Assistenten von Dumas spielt und Copyright für „Monte Christo“ und andere Werke beansprucht, taucht in „Mammuth“ wieder als Gegenspieler von Depardieu auf. Der belgische Schauspieler wird von dem Regie-Duo Delépine / de Kervern immer wieder besetzt, ebenso Yvonne Moreau („Louise hires a serial killer“) und Bouli Lanners aus Kelmis bei Aachen. Die „Mammuth“, ein bulliges Motorrad, begleitet Depardieu als simplen Rentner auf einem Roadmovie über Stationen seines Arbeitslebens - Rentenbürokratie sei Dank. Von absurdem Dada zu sanften impressionistischen Würdigungen des imposanten Körpers Depardieus reicht die Spannweite dieses ästhetisch spannendsten Films des Wettbewerbs. Der Film huldigt schon den Schauspiel-Gott, ein Darsteller-Bär ist er und man sollte ihm heute Abend auch einen überreichen.

18.2.10

Jud Süß - Film ohne Gewissen im Wettbewerb der Berlinale

Roehler – Regisseur ohne Gewissen?

Berlin. Nachdem „Shahada“, der deutsche Episodenfilm von Burhan Qurbani über drei junge Muslime in Berlin, deren Werte und deren Glaube im Laufe ihrer Geschichten ins Wanken geraten, das Publikum mit einem Overkill an Problemen überforderte, erfolgte gestern die diffizielle Konfrontation mit deutscher Film- und NS-Geschichte: In „Jud Süß - Film ohne Gewissen“ verfolgt Regisseur Oskar Roehler das Schicksal von Ferdinand Marian (Tobias Moretti). Der Schauspieler übernahm 1940 die Titelrolle in Veit Harlans NS-Propagandafilm „Jud Süß“, in der er brillierte und an der er zerbrach. Vereinzelte, aber entschiedene Buhrufe bestimmten die Pressevorführung.

Schon während der Dreharbeiten zu dem Lieblingsprojekt von Josef Goebbels (Moritz Bleibtreu) spitzt sich die Situation in Marians Umfeld zu. Der Schauspieler, der auf den großen Durchbruch hofft, gibt immer mehr Freunde und Positionen auf. Seine Frau spürt die Gefahr stärker. Sie wird aber als „Viertel-Jüdin“ benutzt, um Marian zu erpressen. Hier gehört der Film uneingeschränkt dem dämonischen Goebbels, dessen Lautstärke immer in Richtung Reichsparteitag tendiert, der aber auch, wenn er seine Maske fallen lässt und Marian einmal direkt zusammenstaucht, für Gänsehaut sorgt.

Der nationale und internationale Erfolg von „Jud Süß“, der sogar vom jungen Michelangelo Antonioni eine positive Kritik erhält, ist nur ein kurzer Rausch. Bei einer Tour durch die Ostgebiete sieht der gebrochene und saufende Schauspieler an der Baustelle für Auschwitz wie sein Film wirkt. Den weiteren Niedergang verfolgt der Roehlers Film im holperigen Schnelldurchgang. Das Ende Marians nach dem Krieg ist nur noch eine Szene lang: Eine letzte Begegnung mit dem ehemaligen jüdischen Kollegen Wilhelm Adolf Deutscher, der Getto und KZ überlebt hat und dem Marian versprach, „Jud Süß“ würde kein Propaganda-Film werden. Am nächsten Morgen bringt sich Marian mit seinem Auto um.

Oskar Roehler hat nicht die besten Erinnerungen an den Berlinale-Wettbewerb. „Elementarteilchen“, seine Adaption des Romans von Michel Houellebecq, lief hier 2006 und wurde zerrissen und auch sein „Jud Süß - Film ohne Gewissen“ wird kein Festival-Erfolg. Roehler zeigt sich immer wieder eigensinnig. „Die Unberührbare“ machte ihn 2000 richtig bekannt. Den Nachfolger „Suck my Dick“ hat kaum jemand gesehen. Sich mit dem Nazi-Film zu beschäftigen ist immer eine Gradwanderung. In einem Interview bewegte sich Roehler in seiner Einschätzung zu „Jud Süß“ parallel zu den Argumenten, die auch Regisseurin Leni Rieffenstahl begleiteten. Politisch sei das ganze schon problematisch, aber ästhetisch herausragend ...!
Doch nicht so sehr der immer noch verbotene Film „Jud Süß“ als die Figur des Marian interessierte Roehler. Ganz wie „Mephisto“ (nach dem verbotenen Roman von Klaus Mann), die umstrittene Biographie des theatralischen Mitläufers Gustaf Gründgens. Und wie Gründgens finden viele andere unrühmliche Figuren der NS-Film-Geschichte Erwähnung. Viele Szenen bringen den furchtbaren und menschenverachtenden Antisemitismus auch emotional auf den Punkt. Der Wahnsinn soll dann aus dem Bild springen, wenn sich die Frau eines Lagerkommanten als „Perversion“ im Feuerglanz einer Bombennacht vom Juden Süß Oppenheimer begatten lässt, gespielt durch Marian. Das Licht, die Besetzung, das gute Schauspiel, die expressionistische Schatten. Stilistisch ist Roehler exzellent, aber eine durchgehende Atmosphäre des Terrors und des Schrecken, etwa wie in „Das weiße Band“, entsteht nicht.

Moritz Bleibtreu mit rheinischem Dialekt ist spannend überzogen. Er gibt dem Affen Goebbels Zucker und landet irgendwo bei Helge Schneider und dessen Hitler-Parodie. Eine Art Anti-Walz. Was der mit feinen Nuancen in „Inglorious Basterds“ kreiert, macht Bleibtreu laut. Tobias Moretti überzeugt, aber die tragischen Figuren und Geschichten haben andere. Etwa Hans Moser, der vergebens für seine jüdische Frau bettelt. Und dann dieser aufrechte Jude Deutscher, der durch die Hölle gegangen ist. Ein Höllenritt wird dieser Berlinale-Auftritt auch für Roehler, der zu sehr das Drama einer Person erzählen will und für das Drama zig Millionen ermordeter Juden ein paar Zeilen im Abspann übrig hat.

16.2.10

Der Ghostwriter


Frankreich, Deutschland, Großbritannien 2009 (The Ghost Writer) Regie: Roman Polanski mit Ewan McGregor,  Kim Cattrall,  Olivia Williams,  Pierce Brosnan 120 Min.

Auf der Fähre zur amerikanischen Atlantikinsel Martha’s Vineyard bleibt ein Auto führerlos stehen. Die Leiche des Besitzers wird am Strand gefunden. Es war der Ghostwriter des ehemaligen britischen Premierministers Adam Lang (Pierce Brosnan). Also muss ein neuer Ghostwriter her. Bei dem alten Herausgeber ist der junge, unverfrorene Autor von Biographien (Ewan McGregor) nicht besonders gut angesehen. Doch dem amerikanischen Verlagschef gefällt die freche Art: „Wer will schon Politiker-Biographien lesen. Ich mach eine Geschichte mit Herz draus!“

So landet der neue Schreiberling auf Martha’s Vineyard, gerät in den engeren Kreis des Ex-Premierministers mit seiner Frau und seinem kleinen Stab. Die ersten Gespräche mit Lang zeigen einen eingebildeten Schauspieler, aber auch ein Geheimnis steht im Raum. Liegt der Grund für den Mord im Buchmanuskript, das im Safe verschlossen ist? Der Ghostwriter wird neugierig und beginnt, rumzuschnüffeln. Gleichzeitig klagt der ehemalige Außenminister Langs ihn an, die Festnahme und Folter mutmaßlicher Terroristen für die CIA durchgeführt zu haben...

Roman Polanskis neuer Thriller (Drehbuch: Erfolgsautor Robert Harris) nach „Frantic“, „Mieter“ oder „Chinatown“ kommt erst einmal komisch daher: Pierce Brosnan als Ex-Premierminister Adam Lang ist mit seinen Blair-Anleihen eine klasse Nummer, dazwischen bemüht sich der Hausmeister im Sandsturm die Veranda zu fegen. Ernst wird es erst, als der Ghostwriter zu neugierig wird und trotz deutlicher Farbmarkierung (rot = Gefahr) nicht rafft, wer hier die Fäden in der Hand hat.

So ist auch dieser Polanski ein guter Film, stellenweise sogar ein sehr guter. Doch es ist nicht sein spannendster und auch nicht das Aufregendste, was es zurzeit im Kino zu sehen gibt.

Die Friseuse


BRD 2010 Regie: Doris Dörrie mit Gabriela Maria Schmeide, Natascha Lawiszus, Ill-Young Kim, Christina Große, Rolf Zacher 106 Min.

Soll man die Filme von Doris Dörrie in die Schubladen „tiefsinnige Lebensfragen, esoterisch angehaucht“ und „leichte Unterhaltung“ einteilen? Sicher vermischt sich da auch einiges, aber „Die Friseuse“ hat tatsächlich erstaunlich wenig von den leichten und klugen Ausflügen in Zen-Kloster oder andere Zentralstellen für große Fragen. Die arbeitslose Friseuse Kathi König (Gabriela Maria Schmeide) kehrt nach einer Trennung mit ihrer Tochter Julia zurück in den Berliner Stadtteil Marzahn. In der Plattenbau-Tristesse lässt sich Kathi weder von den Schikanen des Arbeitsamtes noch von zickigen Chefinnen unterkriegen. Dann macht sie halt selbst einen Frisier-Laden auf und finanziert den mit steuerfreien Hausbesuchen im Altersheim.
Bei allem hinderlich ist nur, dass Kathi dick ist, richtig dick. Morgens zieht sie sich mit einem Seil vom Bett hoch, beim Vorstellungsgespräch kommt ihr Hintern nicht mehr aus dem Stuhl raus. Doch Kathi lässt sich weder davon, noch von weiteren Schicksalsschlägen, einer Fuhre illegaler Vietnamesen und der abweisenden Tochter kleinkriegen.

Unverhüllt tritt Dörrie mit ihrer „Friseuse“ ins Leben. Mit frecher Berliner Schnauze, unkaputtbarem Optimismus und Szenen üppiger Nacktheit, die verstören könnten, wenn man sein Menschenbild durch Modemagazine geformt hat. Doch trotz aller Sympathien für die Figur, ist der Humor des Films nicht mal Cindy von Marzahn fürs Feuilleton. Zu simpel, zu platt wird die Lebensgeschichte der schweren Stehauffrau Kathie runtergespult.

An Education


Großbritannien 2009 (An Education) Regie: Lone Scherfig Drehbuch: Nick Hornby mit Carey Mulligan, Alfred Molina, Peter Sarsgaard, Rosamund Pike, Emma Thompson 95 Min.

Zum Verständnis dieses Films muss etwas erklärt werden: Bevor es Casting-Shows gab, existierte „Bildung“. Man lernte etwas, machte einen Abschluss und lernte vielleicht noch weiter, das hieß dann Studium. Um Bildung dreht sich für Jenny (Carey Mulligan) Anfang der noch nicht ganz wilden Sechziger Jahre in „An Education“ alles. Sie muss sich entscheiden. Zwischen einem reichen, aufregenden, schillernden Leben und einem exzellenten, aber recht grauen Schulabschluss mit folgendem Literatur-Studium in Oxford. Als Musterbeispiel für letzteren Weg sitzt die Englischlehrer jeden Tag vor Jennys Nase: Unvorteilhafte Brille, strenge Frisur und trotz junger Jahre umgibt sie ein Hauch von Alter Jungfer. Auf der anderen Seite fährt der charmante, offensichtlich wohlhabende und sehr kultivierte David (Peter Sarsgaard) vor und entführt Jenny in ein luxuriöses, aufregendes Leben, bei dem ein Trip nach Paris nur eine von vielen Vergnügungen ist.

Mehr erzählt „An Education“ von Lone Scherfig („Wilbur Wants to Kill Himself“, „Italienisch für Anfänger“) und nach einem Drehbuch von Nick Hornby (auf Basis der Memoiren von Lynn Barber) nicht. Das aber so gut, dass der Bildungsfilm hervorragend unterhält - und vielleicht auch etwas bildet. Die Zerrissenheit Jennys zwischen braver Mittelklasse-Familie mit strengem, freudlosen Vater und der großen Welt ist in vielen Nuancen spürbar. Das sehr schön ausgespielte und ausgestattete Dilemma lebt sehr vom Charme der Hauptdarstellerin Carey Mulligan, die hier leicht an Audrey Hepburn erinnert. Kamera und Klamotten sind ebenso reizvoll wie der schöne Spaß, den David mit seinen Freunden hat. Am Ende stehen eine böse Überraschung und die Erkenntnis, dass „das Leben, das ich will, nicht von selbst kommt.“ Oder durch eine Casting-Show...

15.2.10

The Book of Eli


USA 2009 (The Book of Eli) Regie: Albert Hughes, Allen Hughes mit Denzel Washington, Gary Oldman, Mila Kunis 118 Min. FSK ab 6

Es scheint die Zeit der Endzeit im Kino angebrochen. Wieder einmal. Nach Will Smith in „I am Legend“ und „The Road“ nach dem Roman von Cormac McCarthy (Start im Mai) streift diesmal Denzel Washington als mythische Gestalt namens Eli durch ein von Menschen verlassenes Amerika. In der Nacht, als er sich in einem verlassen Haus wegträumt, ist man noch in Sorge um ihn. Als er am nächsten morgen gleich ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Bestien niedermäht, kann man in Ruhe die extreme Stilisierung der Hughes-Brüder ("From Hell") bewundern.

Die Ruinen unserer Zivilisation sind apokalyptische Schattenrisse. Nach der Atomkatastrophe herrschen Kannibalismus und Bildungsmangel. Es hat sich viel verändert. Für viele simple Dinge, die heute weggeworfen werden, bringen sich die Menschen um. Nur „alte Leute“ wie Eli können noch lesen. Eine gemeinsame Mahlzeit ist den Menschen unbekannt. Ein Tischgebet erst recht.

Eli vermeidet Ärger. Er versucht, ruhig mit den Menschen zu reden - und wie Denzel redet, ist immer eine Eintrittskarte wert. Sein Prophet Eli(as) zitiert die Bibel, bevor er ein Gemetzel in der Bar einer post-apokalyptischen Western-Stadt anrichtet. Hier regiert Carnegie (Gary Oldman), eine Art Sheriff der Wüstenstadt. Er haust in einem alten Kino und sammelt Bücher. Beziehungsweise, lässt sich von seinen analphabetischen Gewaltschergen Bücher besorgen. „DaVinci Code“ wird direkt verbrannt, eine Mussolini-Biographie findet mehr Interesse. Doch Carnegie sucht ein ganz bestimmtes Buch und das besitzt Eli. Das muss zu einem Duell führen (jemand pfeift dauernd die Titelmelodie von „Spiel mir das Lied vom Tod“) und es wird nicht bei einem bleiben...

Die alte Geschichte wirkt im Look der Hughes-Brüder erschreckend und ungemein eindrucksvoll. „The Book of Eli“ ist Post-Western und mehr. Aber vor allem cool in der Person von Eli / Denzel. Er zitiert Bibel und Johnny Cash, sein einziger Begleiter ist lange Zeit ein iPod Classic. Elis Weg nach Westen ist ihm prophezeit, vielleicht gibt ihm das diese atemberaubende Sicherheit. Neben Washington kann Oldman nicht so beeindrucken wie in ziemlich der gleichen Rolle beim „Fünften Element“. Dafür freut man sich, Tom Waits im Tante Emma-Laden zu sehen. Und: keine Sorge, das ist kein missionarischer Film. Die King James-Bibel, um die es hier geht, ist ein humanistischer Leitfaden in einer verwüsteten Zeit. Am Ende wird sie zwischen Tora und Koran abgestellt.

Der Ghostwriter


Frankreich, Deutschland, Großbritannien 2009 (The Ghost Writer) Regie: Roman Polanski mit Ewan McGregor,  Kim Cattrall,  Olivia Williams,  Pierce Brosnan 120 Min.

Roman Polanski sorgt nicht nur in seinem Privatleben für Spannung. Mit der europäischen Produktion „Der Ghostwriter“, die in Berlin und auf Sylt entstand, kehrt er zu seinen Thrillern wie „Frantic“ (mit Harrison Ford) zurück: Ein erfolgreicher britischer Ghostwriter (Ewan McGregor), soll die Memoiren des ehemaligen Premierministers Adam Lang (Pierce Brosnan) verfassen. Doch der Vorgänger des Schreiberlings starb gerade bei einem tragischen Unfall. Auf der Atlantikinsel Martha’s Vineyard, wohin sich der Ex-Premierminister mit seiner Frau und einem kleinen Stab zurückgezogen hat, verbirgt sich ein Geheimnis in Form eines Buchmanuskriptes im Safe. Streng bewacht wie die Insel selbst, weckt es die Neugierde des Autors. Gleichzeitig wird Lang beschuldigt, die Festnahme mutmaßlicher Terroristen und ihre heimliche Auslieferung an die CIA unterstützt zu haben...

Polanski realisierte einen klassischen, gradlinigen Krimi mit viel Humor vor allem in der Karikatur des eitlen, dummen Politikers und des naiven Ghostwriters. Da ist Tony Blair nicht weit, obwohl der Erfolgsautor (des Romanes und auch des Drehbuches) Robert Harris die Aufschlüsselung seiner Geschichte vehement ablehnt. Genau so oft wird Harris zur Zeit allerdings nach der Zusammenarbeit mit Polanski befragt, der sich in den letzten Monaten der Postproduktion schon in Schweizer Haft befand und die Fertigstellung von „Der Ghostwriter“ über seinen Anwalt steuerte, bevor der polnische Meisterregisseur mit französischem Pass unter Hausarrest in seinem Schweizer Chalet den Thriller beendete.

Vielleicht liegt es daran, dass sich Verschwörung und Spannung erst sehr spät zeigen. Es gibt selbstverständlich Rätselraten über den wahren Bösewicht, aber keinen großen persönlichen Konflikt im eher albernen Entdecker. Dass der britische Premier seit seinen Studentenjahren von der CIA gesteuert und damit der Waffenindustrie gesteuert wurde, vermutet man überall im Internet. Doch wahre Politik könnte etwas komplexer und dieser Krimi etwas spannender oder vielschichtiger sein.

In meinem Himmel


USA, Großbritannien, Neuseeland 2009 (The Lovely Bones) Regie: Peter Jackson mit Saoirse Ronan, Mark Wahlberg, Rachel Weisz, Susan Sarandon 136 Min. FSK: ab 12

Peter Jackson hatte ein Leben, bevor er „Herr der Ringe“ wurde. Ein Leben als richtig guter Filmemacher. Vielleicht erinnert sich jemand an „Heavenly Creatures“ (1994) mit Kate Winslet - und nein, die himmlischen Kreaturen sind keine Elfen! Nun kehrt der Filmemacher Jackson zurück mit dem fantastischen, spannenden, tieftraurigen und hoffnungsvollen „In meinem Himmel“.

Susie Salmon (Saoirse Ronan) ist ein glückliches junges Mädchen in einer glücklichen Familie. Das schlimmste was ihr je passierte, war der Sturz des kleinen Bruders, der daraufhin keine Luft mehr bekam. Wie die 14-jährige sich daraufhin den Familien-Mustang schnappt und gemeingefährlich mit dem Bruder auf der Rückbank zum Krankenhaus rast, ist fast Action-Stoff. Doch dann passiert noch etwas anderes. Etwas, auf das sich der Film mit dunklen Andeutungen und der Erzählung von Susie auf der Tonspur langsam hinbewegt. Ein Nachbar (Stanley Tucci) sucht sich Suzie als sein nächstes Opfer aus, baut aufwendig eine Höhle auf einem Acker und lockt das Mädchen hinein. Mit knapper Not kann sie panisch fliehen, doch in der grauen Welt, die sie nun umgibt, kann sie niemand mehr hören. Mit den Polizisten, die zu den Eltern Jack (Mark Wahlberg) und Abigail Salmon (Rachel Weisz) kommen, erfahren wir, dass Blut gefunden wurde, viel Blut. Suzie konnte in Wirklichkeit nie fliehen. Während die Suche nach dem Täter langsam einschläft, beobachtet Suzie aus einem traum- und manchmal albtraumhaften Zwischenreich, wie es ihrer Familie und ihrem Mörder geht. Denn der schaut mittlerweile auch der kleinen Schwester hinterher.

Das wäre kurz zusammengefasst der Inhalt. Aber wenn man Filme erzählen könnte, bräuchten wir keine Kinos. Und Peter Jackson gehört zu den Filmemachern, die im Kino völlig neue und fantastische Dimensionen entdecken. „In meinem Himmel“ packt, schüttelt, berührt. Den Blick von Verstorbenen auf das zurückgelassene Leben gibt es als romantischen Kitsch in „Ghost“ oder immer wieder mit komödiantischem Einschlag, doch er wurde noch nie so emotional und bildgewaltig verfilmt. In unzähligen tollen Szenen vollzieht sich die lange, schwere Trennung Suzies vom Leben in fantastischen Bildern - erschreckende und unfassbar schöne. Es ist einfach unglaublich faszinierend, wie Suzie durch Dimensionen, Elemente, Jahreszeiten und Gefühle gleitet, schwebt und fällt. Gigantische Flaschenschiffe in ihrem Traumsee zerbersten, als der Vater diese Relikte des gemeinsamen Hobbys in der Realität zerschlägt. Das Reale und das Fantastische vermischen sich, die Liebe der Eltern hält das Kind auch noch im Jenseitigen fest. Im Hause der Salmons entwickelt sich derweil mit dem Entwickeln der von Suzie wie wahnsinnig geschossenen Fotos auch die Suche nach dem Mörder und ein Krimi.

Das ist wieder der alte Peter Jackson, der mehr kann, viel mehr, als Fantasy zu verfilmen und Bestseller abzuschlachten. Seine unbekannte Hauptdarstellerin zeigt eine Mischung aus frechem, jugendlichen Wagemut und Empfindsamkeit. Susan Sarandon als super-coole saufende, rauchende Rock-n-Roll-Großmutter veranstaltet ein grandioses Chaos und sorgt für Humor. Doch all diese wunderbaren Kunststücke drehen sich um den Übergang in eine andere Welt, der für Suzie am Ende ein bewegend schöner sein wird. Nachdem sie sich ihren ersten und letzten Kuss geholt hat.

Berlinale DIE RÄUBER, CATERPILLAR


Berlin. Der erste von zwei deutschen Startern im Wettbewerb „lief“ gestern im Wettbewerb. (Oskar Roehlers sicher sehr provokativer „Jud Süß - Film ohne Gewissen“ mit Moritz Bleibtreu als Goebbels stellt sich am Donnerstag der Jury und dem Publikum.) Ein bislang ausgezeichneter und vom depremierend grauen „Submarino“ bis zum knallbunten Coen-Remake von Zhang Yimou „A Woman, A Gun And A Noodle Shop“ sehr farbiger Wettbewerb kommt in seine patriotisch-kritische Phase. Ist Fremdschämen angesagt oder lohnt es sich weiterhin, auch deutsche Filme zu sehen?
Im letzten Jahr erlebte der deutsche Film einen Besucherrekord im Kino. Auch durch die Berlinale hat er an Ansehen gewonnen, Benjamin Heisenberg wurde allerdings 2005 in Cannes (in der Nebenreihe „Un Certain Regard“) mit seinem politischen und viel diskutierten Spielfilmdebüt „Schläfer“ bekannt. Vorher schrieb er schon das Buch zu Christoph Hochhäuslers „Milchwald“ (2002). „Der Räuber“ basiert auf einer wahren Geschichte und auf dem gleichnamigen Roman von Martin Prinz. Tatsächlich raubte ein leidenschaftlicher Marathonläufer mehrere Banken aus und hängte dabei immer wieder die Polizei ab. Endlich mal ein Läufer, der nicht wegen der falschen Zahnbürste oder das falsche Geschlecht in die Schlagzeilen kam. Johann Rettenberger raubte nur Banken aus.

Nach sechs Jahren Knast mit Laufen beim Freigang und Laufband in der Zelle ist Rettenberger direkt bester Österreicher beim Wienatathon. Ein tolles Comeback, dabei hat er langst eine Bank überfallen. Rettenberger ist ein ernster Typ, redet nicht viel, hat keine Freunde, lacht nicht. Auf seiner Polar XY 400 zeigt der Puls nur beim Überfall Spitzenwerte - eine besondere Form des Intervaltrainings. Das Rauben ist ihm ebenso eine Sucht wie der Sport. Dann hat er einen richtigen Lauf, raubt gleich zwei Sparkassen hintereinander aus und auch der Film gibt mit Steady Cam mal richtig Gas.

Bis auf ein paar Szenen zum Ende hin ist „Der Räuber“ nicht auf Spannung inszeniert, gibt den Kick Rettenbergers nicht weiter an das Publikum, sondern lässt beobachten.“Das was ich mache, hat nichts mit dem zu tun, was du Leben nennst“, sagt der Läufer und Räuber Erika, die ihn liebt und verrät. Er ist kein Held, kein Clyde ohne Bonnie, sondern eine tragische Figur. „Der Räuber“ ist ein anständiger, interessanter Film. Aber in jeder Hinsicht bescheiden, im  
Vergleich zu emotinalen Einschlägen wie der japanische „Caterpillar“, der ebenfalls gestern im Wettbewerb lief.

Ein schockierendes und auch absurdes Abbild des Krieges stellt uns der alte japanische Regisseur Koji Wakamatsu ins Wohnzimmer: Einen Rumpf mit amputierten Armen und Beinen. Ein Kopf, großflächig von tiefen Narben zerfurcht, taub und stumm. Fast könnte man Mitleid mit diesem verkrüppelten Mann haben, hätten wir nicht in den ersten Szenen gesehen, dass sich dieser „Kriegs-Gott“ des japanisch-chinesischen Krieges 1940 seine höchsten Medaillen mit dem Vergewaltigen von Chinesinnen verdient hat. Seine anfangs geschockte Frau füttert und pflegt ihn. Liest dem Stammelnden die Wünsche von den Lippen ab, auch wenn er vor allem mit ihr schlafen will. Doch er zeigt schnell sein hässliches Gesicht, verschlingt auch ihr Essen, ist überhaupt unersättlich wie die große japanische Nation, die immer mehr Opfer haben will. Man sieht, dass er seine Frau gerne schlagen würde, wie er es täglich machte, bevor man ihn einzog.
Die grandiose Metapher für das Monstrum des Krieges, das sich, begleitet von Propaganda und Patriotismus in den Hütten einnistet, ist Wakamatsu erschreckend gelungen. Diese Bild des Schreckens wird sich auf der Netzhaut einbrennen wie halb weggeschossene Gesichter oder vom Napalm verbrannte vietnamesische Kinder.

In „Perspektive Deutsches Kino“, der Nachwuchsreihe für den deutschen Film, war gleich der Auftakt ein Knaller: „Renn, wenn du kannst“ von Dietrich Brüggemann zeigt Robert Gwisdek, Anna Brüggemann und Jacob Matschenz in einer Jules und Jim-Geschichte. Die spielt allerdings im Ruhrgebiet und Ben (Robert Gwisdek) sitzt im Rollstuhl. Die junge Cellistin Annika (Anna Brüggemann) liegt nach vielen schönen Momenten zu dritt irgendwann zwischen Ben und seinem Zivi Christian (Jacob Matschenz) und kann sich nicht entscheiden. Sensationell freche Dialoge, eine mutige Geschichte, der Charme des Ruhrpotts und tolle Darsteller machen „Renn, wenn du kannst“ zu einem der Hingucker für dieses Kinojahr.

14.2.10

Berlinale „Renn, wenn du kannst“

In „Perspektive Deutsches Kino", der Nachwuchsreihe für den deutschen Film, war gleich der Auftakt ein Knaller: „Renn, wenn du kannst" von Dietrich Brüggemann zeigt Robert Gwisdek, Anna Brüggemann und Jacob Matschenz in einer Jules und Jim-Geschichte. Die spielt allerdings im Ruhrgebiet und Ben (Robert Gwisdek) sitzt im Rollstuhl. Die junge Cellistin Annika (Anna Brüggemann) liegt nach vielen schönen Momenten zu dritt irgendwann zwischen Ben und seinem Zivi Christian (Jacob Matschenz) und kann sich nicht entscheiden.

Dietrich Brüggemann sagte zu seinem ebenso romantischen wie bitter-süßen Film: „Zuneigung ist in unserer Welt eine Ware, die gehandelt wird. Welchen Wert habe ich selbst? Wie attraktiv bin ich? Für unseren Protagonisten stellen sich diese Fragen in der denkbar härtesten Form. Ich wollte der Frage nachgehen, ob man durch die Kraft der Ideen seine physischen Beschränkungen überwinden kann – eine Frage, die eng mit der Natur des Kinos verknüpft ist."

Sensationell freche Dialoge, eine mutige Geschichte, der Charme des Ruhrpotts und tolle Darsteller machen „Renn, wenn du kannst" zu einem der Hingucker für dieses Kinojahr.

Scorseses Filmrätsel Shutter Island


Die 60. Berlinale wird scheinbar ein Festival der Herzen, den irgendwas muss die Eisdecke über Berlin ja wegschmelzen. Am Samstag stieg die Temperatur in gefühlte Frühlingsdimensionen - auf jeden Fall im Umfeld der dahin schmelzenden Damen beim Auftritt von Leo DiCaprio.

Berlin. Sie sind das Traumpaar jedes Filmfestivals: Leo DiCaprio für die Fans und Martin Scorsese für den Anspruch. Zehn Jahre nach „The Beach“ war der Leo wieder bei den Bären in Berlin und der Kreisch-Faktor extrem hoch. „Shutter Island“ ist nach „Gangs of New York“, „The Aviator“ und „The Departed“ bereits der vierte gemeinsame Film von DiCaprio und Scorsese. Der Thriller nach dem Roman von Dennis Lehane liefert eine Achterbahn-Fahrt mit Gänsehaut-Qualitäten und selbst für Leser des Romans am Ende eine Überraschung. Denn ausgerechnet die letzten Zeilen des Dialogs (im Drehbuch), die ihn besonders berührten, stammen nicht aus dem Roman, erzählte der italo-amerikanische Regisseur bei der Pressekonferenz.

„Shutter“ ist im Englischen der Verschluss der Kamera. Und nach Meinung der Ärzte (Ben Kingsley und Max von Sydow) hat der US-Marshall Teddy Daniels (DiCaprio) nach einem traumatischen Ereignis die Realität ausgeschlossen und sich einen eigenen Traum-Film gedreht. 1954 soll er mit seinem neuen Kollegen Chuck Aule (Mark Ruffalo) auf der hermetisch gesicherten Gefängnis-Insel Shutter Island eine vermisste Frau finden. Sie war ein Häftling, beziehungsweise eine Patientin, wie es die Ärzte betonen. Während ein Sturm für Chaos sorgt, verfolgt Teddy seinen eigenen Fall: Hier ist auch der Mann inhaftiert, der seine Frau umbrachte. Und in einem speziellen Sicherheitstrakt werden angeblich im Auftrag der Regierung Experimente an den Hirnen der Inhaftierten durchgeführt. Eine Fortsetzung des Grauens, den Teddy als amerikanischer Soldat bei der Befreiung des Konzentrationslagers von Dachau erlebte.

Macht der alte Meister Scorsese plötzlich auf Politik, lässt US-Forscher genau so schlimm wie Nazi-Ärzte wüten und kümmert sich um die Traumata der US-Soldaten in alten und neuen Kriegen - ja, spinnt denn der? Oder nur die Hauptfigur des Films, Teddy Daniels? Die Auflösung überrascht, die Ausführung packt von den ersten, extrem schicksals-dräuenden Szenen an. Doch auch in der Fragestunde der Berlinale gab es keine Auflösung: Der Meister und sein Star beweihräuchern sich erst einmal und Leo sprach zwei Sätze Deutsch, bevor es zu Fragen des Films kam. Scorsese, das wandelnde Filmlexikon mit den kleinen, wachen Augen hinter der dicken Brille, referierte zu Klassikern wie „Out of the Past“ und „Catpeople“ oder auch zum Deutschen Expressionismus, die atmosphärisch als Vorbild dienten. Aber entscheiden, wer jetzt spinnt, muss man letztendlich selber.

Die Verbindung zwischen Wunde und (der griechischen Übersetzung) Trauma bekam auch der Däne Thomas Vinterberg in seinem eindrucksvollen Wettbewerbsfilm „Submarino“ sehr packend ins Bild: Nach einem schrecklichen Unfall in ihrer Kindheit, werden zwei Brüder mit ungesehener Härte immer wieder vom Schicksal getroffen. Der eine geht an der Nadel zugrunde, der andere säuft und schlägt sich fast tot. Trotzdem lässt der ehemalige Dogma-Filmer Vinterberg in seinen grauen Bildern die Hoffnung leben. Eine wie beiläufig wirkende Handkamera täuscht über die raffinierte Montage hinweg. Die parallel ablaufenden, aber hintereinander gezeigten Lebenswege der Brüder machen Momente verpasster Verständigung bitter klar.

Nach Roman Polanski ist der berühmte, aber anonyme Street Art-Künstler Bansky der zweite große Abwesende im bislang sehr aufregenden Wettbewerb. „Exit Through The Gift Shop“, seine (inszenierte) Dokumentation über den (echten?) Dokumentaristen der Street-Art-Szene, den lächerlichen Franzosen Thierry, ist ein witziges, von den Ideen der „Straßen-Künstler“ nur so sprudelndes Stück Film. Wenn in der zweiten Hälfte am Beispiel Thierrys die Manipulierbarkeit der Kunstszene und der Öffentlichkeit vorgeführt wird, bleibt nur noch dieses Statement des anonymen Briten Bansky.

Völlig enttäuschend dagegen zwei deutsche Beiträge bei den Berlinale Specials, die bereits Resterampe genannt werden:
„Die Friseuse“ (Kinostart am Donnerstag) von Doris Dörrie ist ein dünnes Kommödchen über ein sehr dicke Friseuse mit unschlagbarem Optimismus. Dass die Nacktszenen des üppigen Körpers Amerikanerinnen aus dem Kino trieben, ist das Bemerkenswerteste an dem Film auf Fernsehniveau. Einen guten Mehrteiler gibt bestimmt auch Jo Baiers „Henry 4“ nach den Romanen von Heinrich Mann ab. Die passenden Fernsehgesichter hat der historische Europudding auf jeden Fall. Die bemüht brave Inszenierung horrender Ereignisse um die Bartholomäus-Nacht gehört nicht auf ein internationales Festival. Da werden „Die Räuber“ heute im Wettbewerb hoffentlich eine bessere Visitenkarte des deutschen Films abliefern.

12.2.10

Berlinale Polanskis „Ghostwriter“ und der Regisseur nur ein Geist


Roman Polanski sorgt nicht nur in seinem Privatleben für Spannung. Mit der europäischen Produktion „Der Ghostwriter“, die in Berlin und auf Sylt entstand, kehrt er zu seinen Thrillern wie „Frantic“ (mit Harrison Ford) zurück: Ein erfolgreicher britischer Ghostwriter (Ewan McGregor), soll die Memoiren des ehemaligen Premierministers Adam Lang (Pierce Brosnan) verfassen. Doch der Vorgänger des Schreiberlings starb gerade bei einem tragischen Unfall. Auf der Atlantikinsel Martha’s Vineyard, wohin sich der Ex-Premierminister mit seiner Frau und einem kleinen Stab zurückgezogen hat, verbirgt sich ein Geheimnis in Form eines Buchmanuskriptes im Safe. Streng bewacht wie die Insel selbst, weckt es die Neugierde des Autors. Gleichzeitig wird Lang beschuldigt, die Festnahme mutmaßlicher Terroristen und ihre heimliche Auslieferung an die CIA unterstützt zu haben...

Polanski realisierte einen klassischen, gradlinigen Krimi mit viel Humor vor allem in der Karikatur des eitlen, dummen Politikers und des  naiven Ghostwriters. Da ist Tony Blair nicht weit, obwohl der Erfolgsautor (des Romanes und auch des Drehbuches) Robert Harris die Aufschlüsselung seiner Geschichte vehement ablehnt. Genau so oft wird Harris zur Zeit allerdings nach der Zusammenarbeit mit Polanski befragt, der sich in den letzten Monaten der Postproduktion schon in Schweizer Haft befand und die Fertigstellung von „Der Ghostwriter“ über seinen Anwalt steuerte, bevor der polnische Meisterregisseur mit französischem Pass unter Hausarrest in seinem Schweizer Chalet den Thriller beendete.

Vielleicht liegt es daran, dass sich Verschwörung und Spannung erst sehr spät zeigen. Es gibt selbstverständlich Rätselraten über den wahren Bösewicht, aber keinen großen persönlichen Konflikt im eher albernen Entdecker. Dass der britische Premier seit seinen Studentenjahren von der CIA gesteuert und damit der Waffenindustrie gesteuert wurde, vermutet man überall im Internet. Doch wahre Politik könnte etwas komplexer und dieser Krimi etwas spannender oder vielschichtiger sein.

Berlinale MY NAME IS KHAN

Bei der Rekordjagd von „Avatar“ darf nicht vergessen werden, dass der indische Film der erfolgreichste der Welt ist: Nirgendwo rennen so viele Menschen so begeistert ins Kino wie in Indien. Nirgendwo anders werden so viele Filme produziert. Nun tritt Bollywood-Superstar Shah Rukh Khan bei der Berlinale auf, er ist eine Art Michael Jackson des Films: Unglaublich populär, nur noch wesentlich lebendiger. Das ebenso unglaublich politische wie unglaublich kitschige Drama „My Name Is Khan“ (Start 6. Mai) zeigt ihn als indischen „Rainman“ und als heiligen Narr, der - hier ist der Film endgültig abgehoben - zum Retter der USA wird. Sein namensverwandter Held Rizvan Khan leidet am Asperger-Syndrom, einer milden Form von Autismus, und muss in Indien das blutige Schlachten zwischen Hindus und Moslem miterleben. Doch seine Mutter lehrt ihm, es gibt nur zwei Arten von Menschen - gute und schlechte. Jahre später ist er in den USA glücklich mit einer Traumfrau verheiratet, als die Anschläge vom 11. September 2001 einen Hass gegen Muslims auslösen. Sein hinduistischer Stiefsohn Sam wird aufgrund des Nachnahmens Khan ermordet und in seiner verzweifelten Einfalt will Rizvan allen, aber vor allem dem Präsidenten Bush klarmachen: „Mein Name ist Khan, ich bin kein Terrorist.“ Seine Reisetätigkeit auf den Spuren von Bush rufen allerdings die Sicherheitsdienste auf den Plan.
Shah Rukh Khan wurde tatsächlich bei der Einreise in die USA einst wegen seines Namens stundenlang festgehalten. „My Name Is Khan“ beginnt seine fast drei prallen Filmstunden dementsprechend packend und politisch. Spätestens wenn die Liebe zwischen Rizvan und Mandira (Superstar Kajol Devgan) ausbricht, ist dieser amerikanisch-indische Film wieder in Bollywood angekommen. Zwar fehlen die vielen Lieder (fast) und die Tanzeinlagen, doch hier traut man sich, die Gefühle viel deutlicher heraus zu schreien und die Schmetterlingsgefühle blumiger auszumalen. Doch trotz heftigster Überzeichnungen und eines sehr freien Umgangs mit der Krankheit des Helden ist der Aufruf zur Verständigung überzeugend. Im Wettbewerb leider außer Konkurrenz, aber ein starker Kandidat für den Friedenspreis der Berlinale.

Berlinale Jury und Eröffnungsfilm TUAN YUAN

Tiefe Gedanken statt großen Glamours

Jury-Vorstellungen bei großen Pressekonferenzen gehen oft im Blitzlichtgewitter unter. Bei der 60. Berlinale und dieser Jury unter Werner Herzog blieben die Kameras ungewöhnlich still und die Ehr-Bekundungen erstaunlich fachkundig. „Gute Filme sind eine Frage von Wahrheit, die von ganz unten irgendwo durchschimmert.“ Sätze wie dieser von Herzog sind wie gemacht für das Poesie-Album der ehrlichen, unverdorbenen Filmemacher. So gab es selbstverständlich keine Antwort auf die üblichen Fragen, aber eine Beruhigung für die Jury-Arbeit: „Es gibt keine klaren Kriterien für gute Filme, aber wenn ein ganz großer Film hier laufen wird, werden wir ihn erkennen.“ Da brauchte man sich dann auch keine Sorgen mehr um US-Schauspielerin Rene Zellwegger zu machen, die zerknautscht eingeflogen wurde und eher konfus antwortete. Aber etwas mit Herz war auch bei ihr dabei.

Zwar erinnert die Idee, den sehr eigensinnigen und im Streit mit Kinski fast mörderischen Werner Herzog zum Jury-Vorsitzenden zu machen, an die Geschichte vom Bock als Gärtner, doch noch wirkte die Stimmung harmonisch. Herzog wurde bereits vor 42 Jahren für „Lebenszeichen“ mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Er hatte damals in Neukölln spontan ein Kino gemietet und damit anarchisch das Festival nach außen geöffnet. Insgesamt hatte er drei Filme im Festival und meint zum aktuellen Erfolg von „Bad Lieutenant“ „die Filmindustrie bewegt sich langsam in meine Richtung“.

Die Schauspielerin und Sängerin „Conny“ Froboess kann sich nicht mehr wirklich erinnern, wann sie das erste Mal bei der Berlinale war, aber auch sie „merkt es am Herzschlag, ob sie ein Film bewegt“. Die Berlinerin findet es wahnsinnig schön, dass sich hier so viele Menschen für die Filme begeistern und dass man keine Zäune braucht wie beim Fußball.

Zum Schluss der Pressekonferenz wurde Herzog noch einmal fast esoterisch: „Die Essenz wird über mysteriöse Wege zu uns kommen, egal ob das Gedicht in Stein gehauen ist, ein Gemälde zu uns spricht oder uns etwas über das Internet erreicht.“ Die Frage nach den digitalen Techniken sollte einen alten Anhänger des echten Films aufs Glatteis führen, doch Herzog zeigte sich erstaunlich offen und auf der Höhe der Zeit: „Digitale Effekte erlauben uns, alles, was sich erträumen lässt, auf die Leinwand zu bringen.
Wir haben allerdings noch kein richtiges Verhältnis zu diesen Effekten entwickelt.“ Bei „Avatar“ liebte er die kleinen Sachen, die Quallen und die kleine Blumen, die auf der Haut landen. Man darf also sehr gespannt sein, auf das Urteil dieser Jury.

Als erste Film in Konkurrenz erzählt „Tuan Yuan“ (Zusammen - Getrennt) eine melancholische Geschichte von schwieriger Wiedervereinigung einer gesamt-chinesischen Liebe. Mehr als 50 Jahre nach der Errichtung der Volksrepublik China auf dem chinesischen Festland und der Gründung der Inselrepublik Taiwan wird die erste Reise einer Besuchergruppe von ehemaligen Soldaten der Volkspartei Kuomintang aus Taiwan zur Zusammenführung mit Familienangehörigen in Schanghai zugelassen. Der alte Soldat Liu Yansheng will in seiner Heimatstadt Schanghai die wahre und einzige Liebe seines Lebens Qiao Yu’e wiederfinden, die er bei der Flucht über 50 Jahre zuvor zurücklassen musste. Sie hat mittlerweile eine Familie mit einem Unteroffizier der Kommunistischen Truppen gegründet.
Es ist rührend süß, wie die alten Liebenden sich immer näher kommen und Händchenhalten. Zuerst überbieten sich die beiden Männer in Großmut, als Liu Yu’e mit nach Taiwan nehmen will. Nur die Familie beschwert sich. Doch dann erleidet der liebe und brave Ersatzehemann einen Schlaganfall.
Diese chinesische „Wolke 9“ ohne Sex könnte sehr dramatisch sein. Regisseur Wang Quan'an, der mit „Tuyas Hochzeit“ 2006 den Goldenen Bären gewann, vergisst aber auch den Humor nicht. Etwa wenn das Ehepaar erst noch einmal heiraten muss, um sich scheiden zu lassen. Mit Blicken auf die drastische Entwicklung der Boom-Town Shanghai und auf die Enkelin, der ein ähnliches Schicksal droht, weil ihr Freund nach Amerika will, spielt der Film sehr offen im China von heute. Ein China, das nicht glücklich macht, wenn am Ende eine Kern-Familie in einer zu großen, modernen Wohnung alleine bleibt.

Berlinale 2010


Teilen und vereinigen

Berlin. Die diesjährige Berlinale, die heute Abend mit dem chinesischen Film „Tuan Yuan - Apart Together“ seine Eröffnung feiert, wird speziell. Nicht nur weil vom 11. – 21. Februar 2010 die 60. Ausgabe des Festivals mit der bewegtesten Geschichte sein Jubiläum ausführlich feiert. Die 60. Berlinale jubiliert nicht nur, sie breitet sich auch immer mehr in der Stadt aus, die sie viergeteilt, dann als kultureller Außenposten des Westens am Rande der Mauer und nun sehr erfolgreich wiedervereinigt erlebte. Der „Fliegende Rote Teppich“ geht 2010 erstmalig in die einzelnen Stadtteile, jeden Abend bekommt ein anderer seine Portion Promi ab. Wie das dem Festival-Zentrum am Potsdamer Platz bekommt, muss sich zeigen. Speziell ist auch, dass einige der - nach Papierform - spannendsten Filme in der Sonderreihe „Berlinale Special“ stattfinden. Schon lange fragt man sich auf allen großen Filmfestivals, wieso es spezielle Filme und nicht so spezielle Filme geben soll.

Der Eröffnungsfilm von Wang Quan'an, der 2006 mit Tuyas Hochzeit den Goldenen Bären gewann, zeigt, wie mehr als 50 Jahre nach der Errichtung der Volksrepublik China auf dem chinesischen Festland und der Gründung der Inselrepublik Taiwan die erste Reise einer Besuchergruppe von ehemaligen Soldaten der Volkspartei Kuomintang aus Taiwan zur Zusammenführung mit Familienangehörigen in Schanghai zugelassen wird. Ein passender Film zur einst geteilten Stadt mitten in einer geteilten Nation, der mit 19 Filmen im Wettbewerb um den Goldenen Bären antritt. Mit im Rennen sind unter anderem Michael Winterbottom und Roman Polanski. Der Regisseur wird sich ziemlich sicher nicht frei machen können, um seinen Polit-Thriller „Ghostwriter“ vorzustellen. Bis zur Preisverleihung darf man aber auch Solidaritäts-Adressen und -Diskussionen für den im Schweizer Chalet-Arrest befindlichen Regisseur gespannt sein.

Das winterliche Metropolis des Weltkinos hält den Hollywood-Film ganz (selbst-) bewusst wieder recht kurz. Selbst Scorseses „Shutter Island“ (mit seinem neuen Lieblingsschauspieler Leo DiCaprio im vierten Auftritt hintereinander) landete eher unglücklich (außer Konkurrenz) bei der Berlinale. Die Finanzkrise verhinderte, dass der Thriller schon im letzten Jahr in den USA anlaufen konnte. Dafür kann die Berlinale direkt am Freitag mit Stars aufwarten: Ewan McGregor und Pierce Brosnan sind die Hauptdarsteller im Thriller „Ghostwriter“. Die Anwesenheit des Schauspielstars Shah Rukh Khan zur Premiere von „My Name is Khan“ wird die Anhänger des indischen Kinos an den Potsdamer Platz bringen.

Früh hat auch der aus Aachen stammende Produzent Martin Heisler (Lichtblick Media) mit seinem neuen Dokumentarfilm "David wants to fly" seinen auftritt. Der Film über einen Regisseur, der spirituelle Hilfe unter anderem bei David Lynch sucht, eröffnet die Dokumente-Reihe im Panorama. Aus Nordrhein-Westfalen sind gleich 17 Filme, die von der Filmstiftung NRW gefördert wurden auf den Berliner Filmfestspielen. "Jud Süß - Film ohne Gewissen" von Oskar Roehler wird im Wettbewerb mit Spannung erwartet und Jo Baiers "Henri 4" nach Heinrich Manns "Henri Quatre"-Romanen startet als Berlinale Special.

Berlin kann sich im Programm auch selbst widerspiegeln. Nicht nur mit der Wiederaufführung der wiedervereinigten Urfassung von „Metropolis“ Jahrzehnte nach der Aufführung in Berlin. Dominik Grafs Berlin-Thriller „Im Angesicht des Verbrechens“ vermittelt im epischen 10-Teile-Format das düstere Bild einer Stadt, die von Geld sowie Politikern versaut und von den Russen kontrolliert wird. Nur hier wird das mehr als achtstündige Werk (fast) zusammenhängend gezeigt. Und auch bei der Durchsicht des unabhängigen wie selbstbewussten Programms mit viel Asien und Weltkino, kann man an die Einzigartigkeit der Berlinale im internationalen Festivalreigen glauben.

7.2.10

Max Manus


Norwegen, BRD 2008 (Max Manus) Regie: Joachim Rønning mit Aksel Hennie, Agnes Kittelsen, Nicolai Cleve Broch 118 Min.

In Norwegen ist er ein Volksheld, bei uns weitgehend unbekannt: Der Widerstandskämpfer Max Manus (1914–1996) wehrte sich im 2. Weltkrieg gegen die deutschen Besatzungstruppen. Dass der jugendliche Übermut des Anfangs zu einem gebrochenen und alkoholkranken Helden führt, gibt dem in Norwegen sehr erfolgreichen konventionellen Kriegsfilm einige wertvolle Momente.

Max Manus (Aksel Hennie) und seine Freunde sind 1940 Amateure, die eine Untergrund-Zeitung gründen wollen und mit Spielzeug-Pistolen rumfuchteln. Soll man vielleicht ein Kino mit dem Gestapo-Chef in die Luft jagen? Nein, das könnte auch Unschuldige treffen. Der unvorsichtige Cowboy Max macht auf eigene Faust Widerstand, bis er von den Deutschen erwischt wird. Nur ein legendärer Sprung aus dem Fenster rettet ihn. Vom Widerstand aus dem Krankenhaus befreit und in ein Ausbildungslager nach Schottland geschmuggelt, muss er nun die Frage, ob er dumm oder verrückt sei, nicht mehr beantworten. In gut geplanten Aktionen leitet Max ab 43 mit seinem Freund Gregers Gram (Nicolai Cleve Broch) nun Sabotage-Trupps, die in norwegischen Häfen deutsche Schiffe mit Haftminen versenken und sich dann ins neutrale Schweden absetzen. Dort lernt Max die Freundin von Gregers, Tikken (Agnes Kittelsen), kennen und lieben. Doch selbst mit schweren Verwundungen kehrt Max immer wieder nach Norwegen zurück, um die wenigen verbliebenen Kämpfer zu retten oder zu rächen. Derweil wartet der gefährlich charmante deutsche Offizier Siegfried Fehmer (Ken Duken als Mini-Waltz) in Oslo auf seinen erfolgreichsten Gegner.

Während spannende Action und die Geschichte der Freunde von Max sich die Waage halten, beginnt der Film sehr heftig mit Szenen aus dem Finnlandkrieg. Doch auch das ist stimmig für die Biographie von Max Manus, der 1940 in Finnland gegen die Sowjet-Armee kämpfte und schwer verwundet wurde. Zwar ist die Aussage „Mein Land ist mir gestohlen worden“ einfach. Doch die jungen Männer, die immer mit Scherzen auf den Lippen gegen die Besatzer kämpfen, erleben auch die Opfer des Widerstands, wenn zum Beispiel einfache Werftarbeiter bei Vergeltungsaktionen hingerichtet werden. Die meisten Saboteure sterben und so feiert Max den Sieg über die Deutschen 1945 alleine mit den Geistern der Toten. Getrunken hat er vorher schon zu viel und der Alkoholismus begleitete ihn bis zum Tod.

Wenn Max im Stile von James Bond auf dem Fahrrad rumballert, ist das gut inszeniert. Die Action stimmt, „Max Manus“ unterhält und erzählt eine in Deutschland recht unbekannte Seite des 2. Weltkrieges. Einige Stränge werden vernachlässigt, so kommt die Gegnerschaft mit dem Gestapo-Chef Siegfried nie richtig zum tragen. Zum Glück vermeidet das konventionelle Historiendrama die Glorifizierung des Widerstandes. Wenn Max Manus als „Wrack ohne Geld und Ausbildung“ den Frieden fürchtet, ist auch das eine bittere Note zum Heldentum, die angenehm realistisch klingt.

Percy Jackson - Diebe im Olymp


USA, Kanada 2010 (Percy Jackson & The Olympians: The Lightninig Thief ) Regie: Chris Columbus mit Logan Lerman, Uma Thurman, Pierce Brosnan, Sean Bean

Wenn Kinder Leseprobleme haben und / oder die Väter kurz nach der Geburt abgehauen sind, gibt es jetzt eine Lösung: Die Kids werden Halbgötter, können fast jeden zusammenschlagen und sogar irgendwann den Papa kleinmachen. „Percy Jackson“ löst also einige der drängendsten Probleme unserer Zeit. Und ist zwischendurch eher peinlich und albern als gewitzt unterhaltend.

Der zwölfjährige New Yorker Percy Jackson (Logan Lerman) muss auf die Sonderschule, bis ihn im Museum plötzlich die Mathelehrerin anfällt - als geflügeltes Monster (aus dem Computer). Nun flieht der Junge hektisch zum Sommercamp der verlassenen Götter-Bastarde und erfährt von seiner wahren Herkunft. Auch davon, dass sein Kumpel Gabe (Gabe Ugliano) nicht gehbehindert, sondern ein Satyr mit Ziegenbeinen ist. Mit anderen Superhelden-Teenagern, deren Fähigkeiten völlig ignoriert werden, trainiert man ein wenig. Dann brechen Poseidons Sohn Percy, dessen Beschützer Gabe und Athenes Tochter Annabeth (Alexandra Daddario) auf, um Percys Mutter aus dem Hades zu retten und dann auf dem Olymp den Krieg der Götter zu verhindern.

Chris Columbus, Erfolgsregisseur im Kinder- und Jugendbereich („Harry Potter“), dachte sich: machen wir mal so eine Art „Zeus Jr. allein zu Haus“. Während der Götter-Kampf zwischen Zeus, Poseidon und Hades droht, gibt es letztendlich die neue Herrschaft der digitalen Tricks. So wird von Anfang an zu dick aufgelegt, all diese Bits und Bytes fallen bei Höllenhunden und Hydren übertrieben aus dem Bild. Nur selten machen sie Eindruck, am stärksten beim Höllenritt von Percy. Dass dieser allerdings mit der Rocknummer „Highway to Hell“ eingeleitet wird, macht klar, was die Macher unter Spaß verstehen.

Immer wieder erleiden die Original-Geschichten der „Olympier“ ein krasses Revamping. Man mag selber entscheiden, ob es cool oder klamottig ist, mit dem Aufzug hoch in den Olymp zu düsen. So selbstverliebt und arrogant, wie Logan Lerman den Percy spielt, geht der Film dauernd mit seinen tricktechnischen Möglichkeiten um. Wenn man seinen Held fliegen lassen kann oder er die mächtigste Waffe der Welt in den Händen hält, ist das einfach so. Da braucht man bei der Figurenentwicklung nicht mitzugehen. Ebenso wenn ihm die Mutter (Catherine Keener) ermordet wird. Die Trauerphase kann man in Sekunden abhandeln.

Die Verfilmung des ersten Romans noch so einer Jugend-Fantasy-Serie - diesmal von Rick Riordan - ist inhaltlich eine sehr simple Schnitzeljagd. Den Bildungsköder, dass ja alles mit griechischen Göttersagen durchsetzt sei, wollen wir nicht schlucken. „Percy“ ist der Highschool selbstverständlich näher als dem Olymp. Alles geriet völlig amerikanisiert - was uns denn nicht fremd ist, wenn wir schön viele Hollywood-Filme gesehen haben. Aus diesem kulturellen Hintergrund speist sich denn auch der Spaß, Uma Thurman mit neuer Frisur als Medusa zu sehen und vor Grinsen zu erstarren. Pierce Brosnan mit Pferdehintern ist nur peinlich. Der Rest der Scherze richtet sich wohl an die Kino-Kids, doch auch sie verdienten Figuren, die nach menschlichen Erfahrungen reagieren und nicht nach Schema F der Drehbuch-Mechanik.

6.2.10

Invictus - Unbezwungen


USA 2009 (Invictus) Regie: Clint Eastwood mit Morgan Freeman, Matt Damon, Tony Kgoroge 134 Min.

Lässt sich der alte Haudegen Clint Eastwood vor den Karren der problematischen Fußball-WM in Südafrika spannen? Sicher ist, dass der über alle Kategorien herausragende Regisseur mit „Invictus“ wieder einen guten und starken Film gemacht hat. Eastwood genießt als Schauspieler, Regisseur und integrer Mensch einen besonderen Status auch in Hollywood, sodass er, genau wie seine Filmfiguren („Dirty Harry“), vor niemandem den Kopf beugen braucht. Sein Film über Nelson Mandela und die Rugby-WM von 1995 in Südafrika erzählt vor allem von Versöhnung einer geteilten Nation. Mit Morgan Freeman als Mandela-Darsteller (und Produzent) ein ebenso packender Sport- wie ein berührender Menschenfilm.

Zwei Seiten, Schwarz und Weiß: Das Fußball-Feld mit jungen Schwarzen links von der Straße bricht in Jubel aus, als das Auto mit Nelson Mandela vorbei fährt. Die elitären weißen Rugby-Spieler recht bezeichnen ihn als „Terrorist“. Es ist das Jahr 1990, der legendäre ANC-Führer Mandela wurde nach 27 Jahren Gefängnis entlassen. Historisch rasant gewinnt der ANC 1994 die Wahlen, an der erstmals schwarz und weiß teilnehmen durften. Mandela wird Präsident, doch das Land befindet sich am Rande eines neuen Bürgerkrieges. Überall wo ein Miteinander werden soll, gibt es Konfrontation.

Flott erzählt „Invictus“ diese Geschichte nach, um sich Zeit für die faszinierende Figur Mandelas (Morgan Freeman) und seine Ideen zu nehmen. Da ist es eine nette Spielerei, dass ihn der Spiegel mit Rasierschaum auch in Schwarz-Weiß zeigt. Aber das Konzept der „reconciliation“, diese besondere Form von Versöhnung, welches die „Rainbow Nation“ mit der neuen Flagge und der neuen Nationalhymne einigen soll, muss jeden berühren. Nicht nur angesichts von schwieriger deutscher Vergangenheitsbewältigung nach 1945 und 1989. Auch im privaten Leben können solche Sätze Wirkung zeigen: „Vergebung befreit die Seele. Sie vertreibt die Angst und ist unsere mächtigste Waffe.“

Nelson Mandela entscheidet sich in der kritischen Situation für seine „Familie aus 42 Millionen Südafrikanern“, mit dem Gegner mitzufühlen, mit dem Gegner zu spielen. Ihn damit zu überraschen, dass die Schwarzen keine Rache an ihren Unterdrückern und Peinigern suchen. „Playing the enemy“ heißt der beziehungsreiche Titel der Vorlage von John Carlin (Drehbuch Anthony Peckham). Die weißen Südafrikaner lieben ihre „Springbocks“, ihr Rugby-Team. Die Schwarzen spielen lieber Fußball. Doch bei der WM im eigenen Land sollen alle gemeinsam hinter „ihrem“ Team stehen. Für diesen generalstabsmäßig durchgeführten Plan lässt Mandela sogar wichtige Regierungsdelegationen warten. Ist das Politik oder Sport, fragt seine engste Mitarbeiterin skeptisch. Doch letztendlich verwandelt Mandela jeden, mit dem er zusammentrifft. Er beseelt auch Francois Pienaar (Matt Damon), den aus einer rassistischen Familie stammenden Kapitän der Springbocks. Ein Schlüssel zum neuen Selbstbewusstsein ist dabei das titelgebende Gedicht von William Ernest Henley (1849–1903) mit den Schlusszeilen „ICH bin der Herr von meinem Stern, ICH bin der Meister meiner Seel'!“ Ein Gedicht, das Mandela in Haft und Arbeitslager Kraft gegeben hat.

Man kann bei „Invictus“ gut an das fußballerische „Wunder von Bern“ denken, das 1954 wichtig für das „nation building“, das Bewusstsein einer Nation, in Deutschland war. Aber man könnte den Film auch vor der Folie sehen, dass auch die USA erstmals einen Schwarzen Präsidenten hat, der Vorurteile und Widerstände überwinden muss. Clint Eastwood ist ein wacher politischer Mensch, schlug als Bürgermeister von Carmel selbst mal einen politischen Weg ein.

Morgan Freeman, auch Produzent dieses Films, erweist sich mit seiner ruhigen und kraftvollen Ausstrahlung als kongenialer Darsteller Mandelas. Matt Damon hat sein Fitness-Studio eifrig genutzt, ihm gelingt das weiße Jüngelchen aber recht gut. Richtig gut sind dann die Sportszenen der zweiten Hälfte. Da bringt vor allem die Tonspur Aggressivität und Kraft des Rugby-Sports rüber. Immer wieder sehr schön auch im Mikrokosmos der Leibwächter-Truppe, die sich aus treuen Mandela-Kämpfern und weißen Veteranen des alten Präsidenten De Clerk zusammensetzt. Ein Film, der Hoffnung macht, auch wenn die aktuellen Meldungen aus Südafrika viele neue Probleme aufzeigen.

3.2.10

Welcome


Frankreich 2009 (Welcome) Regie: Philippe Lioret mit Vincent Lindon, Firat Ayverdi, Audrey Dana, Derya Ayverdi 110 Min.

Vorsicht! Helfen Sie keinem Mitmenschen - Sie könnten dafür in den Knast kommen. Zumindest an den Grenzen der Festung Europa. Das musste ein Kapitän von „Ärzte ohne Grenzen“ in Italien erfahren. Und auch der Schwimmlehrer Simon (Vincent Lindon) erhält bald eine Vorladung der Polizei. In seinem Heimatort Calais gab er zuerst dem jungen Kurden Bilal (Firat Ayverdi) Schwimmunterricht. Dann nahm er den Jungen, der gefoltert wurde und aus dem Iran geflohen ist,  mit nach Hause. Vielleicht um seine beim Flüchtlings-Camp engagierte Frau Marion (Audrey Dana) zu beeindrucken, denn die hat sich von ihm getrennt. Vielleicht einfach nur um zu helfen.

Bilal ist tagelang gelaufen, um nach Europa zu kommen. Nun kann er kaum schwimmen, will aber den Ärmelkanal überqueren, weil seine Geliebte Mina in London bald gegen ihren Willen verheiratet werden soll. Doch Simon wird verhaftet, weil er einen Flüchtling aufgenommen und ihm beim illegalen Grenzübertritt geholfen hat. Der Film ist Fiktion, solche Fälle sind in Frankreich bittere Realität.

Der sozialkritische Film mit dem zynischen Titel „Welcome“ zeigt viele Facetten einer Stadt, in der die Verfolgten stranden. Ebenso die Seiten des Schwimmlehrers, der die Flüchtlinge sieht, schweigend mitbekommt, wie sie behandelt werden. Er hat seine eigenen Probleme, Trennung und Scheidung. Dann hilft er spontan. Vor diesem gelungenen und bewegenden Film einer Freundschaft realisierte Philippe Lioret „Keine Sorge, mir geht's gut“ (2006) und „Die Frau des Leuchtturmwärters“ (2004).

She, A Chinese


Großbritannien, Frankreich, BRD 2009 (She, A Chinese) Regie: Xiaolu Guo mit Huang Lu, Wei Yi Bo, Geoffrey Hutchings 102 Min. FSK ab 12

Eine typische Geschichte der Globalisierung: Episoden und Begegnungen mit verschiedenen Männern führen die Protagonistin Mei von einem kleinen chinesischen Dorf über eine Millionenstadt schließlich nach London. Die internationale Koproduktion beschreibt in sichtbar mit Video aufgenommen, schnell geschnittenen Bildern, wie eine junge Chinesin die Welt und sich selbst bei ihrer Reise von Ost nach West entdeckt. Elliptischen Episoden werden von distanzierenden Zwischenüberschriften unterbrochen.

Eine persönliche und politische Parabel, die sehr dem eigenen Weg der Regisseurin von ihrem Dorf nach Beijing und in den Westen ähnelt. „She, a Chinese“ gewann 2009 den Goldenen Leoparden beim Festival in Locarno. Die Regisseurin und Buchautorin Xiaolu Guo produzierte und inszenierte im letzten Jahr ebenfalls „Once upon a time proletarian“.

Zeiten ändern Dich


BRD 2009 (Zeiten ändern Dich) Regie: Uli Edel mit Bushido, Elyas M'Barek, Moritz Bleibtreu, Hannelore Elsner 90 Min.

Eben noch rechter Provokant und jetzt in einem Film mit Karel Gott (Die goldene Stimme aus Prag) und Uwe Ochsenknecht (Frauen-Darsteller im Musical „Hairspray“!). Das ist ein krasser Absturz für einen Schwulen- und Frauen-Feind. Man fragt sich, ob es nicht Aussteigerprogramme für derart bedrohte junge Menschen geben sollte. Wenn Bushido weiter in den Fängen des großen Zampano Eichinger bleibt, wird er demnächst noch Filmmusik für ein Biene Maja-Remake machen. Als Realfilm mit Ochsenknecht als Willi...

Spott erntete Bushido bei den ersten Kritiken der Verfilmung seiner Biografie, die - wie nicht anders bei Eichinger zu erwarten - weichgespült und stromlinienförmig auf den Massengeschmack kalkuliert wurde. Uli Edel („Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, „Der Baader Meinhof Komplex“) erweist sich anscheinend wieder als Erfüllungsgehilfe und die Fans, die schon das Buch eifrig kauften, würden sogar in den Film gehen, wenn Bushido mit Karel Gott singt...

2.2.10

Up In The Air


USA, 2009 (Up In The Air) Regie: Jason Reitman mit George Clooney, Vera Farmiga, Anna Kendrick, Jason Bateman 110 Min. FSK o.A.

George Clooney kann einem alles verkaufen, irgendeine Pad-Plörre als Edel-Kaffee und selbst die eigene Kündigung. Den Rausschmiss als Chance und Beginn eines neuen Lebensabschnittes zu verkaufen, ist der Job von Ryan Bingham (George Clooney), der in der Krise Hochkonjunktur hat. So ist Ryan immer unterwegs, von einer Fabrikschließung zum nächsten Heuschrecken-Massaker quer durch die USA. Er lebt in der Luft und liebt all die Sachen, die andere am Fliegen hassen. Dieser leidenschaftliche Vielflieger macht selbst die absurden Sicherheitskontrollen zu einer lässigen Performance. Ryan hat ein leichtes Leben, denn alles, was er braucht, ist in seinem Handgepäck. In Vorträgen propagiert er dafür, sich nicht nur der Last aller Besitztümer zu entledigen. Ebenso viel wiegen menschliche Beziehungen, deshalb reduziert der charmante Mann diese auch aufs Nötigste. Eine heiße Romanze im Flughafen-Hotel fängt für Ryan und Alex Goran (Vera Farmiga) damit an, dass sie sich gegenseitig mit ihrem Frequent Flyer-Status anmachen. Der Sex ist auch wild und großartig. Schwierig nur, einen gemeinsamen Termin zu finden, bei zwei Menschen, die dauernd unterwegs sind.

Die Katastrophe für Ryan tritt ein, als seine Feuer-Firma Reisekosten einsparen will und die Kündigungen nur noch über Videokonferenz laufen sollen. Das Rausschmeißen einer Fremdfirma anzuvertrauen, weil man selbst nicht sehen will, was man mit seinen „Sparmaßnahmen“ anrichtet, ist schon brutal. Diese ganze Angelegenheit per iChat zu „erledigen“, das ist ähnlich sensibel wie eine Beziehung per SMS zu beenden. Menschen sind auf seinen Reisen Hindernisse, aber beim Kündigen legt Ryan Wert auf Menschlichkeit. Deshalb geht er noch ein letztes Mal auf Tour, zusammen mit der jungen, naiven Computer-Expertin Natalie (Anna Kendrick), die ihre Jobs vereinfachen will. Diese Reise wird mit ein paar klugen Erkenntnissen Natalies seine Philosophie des leichten Lebens mit Handgepäck auf den Kopf stellen. Der Überflieger Ryan Bingham wird den Sinn des Lebens und des Fliegens neu verstehen.

Schon „Die Reisen des Mr. Leary“ führten vor, wie man viel von der Welt sieht, ohne von irgendwas berührt zu werden. „Up In The Air“, nach Walter Kirns Roman "Mr. Bingham sammelt Meilen", erzählt mit Witz und Weisheit, wie man viele Meilen fliegt, ohne bewegt zu werden. Mitten im Film gibt es ein tiefes, weises Gespräch über das, was man vom Leben erwartet. Das vom gerade mal 33-jährigen Regisseur Jason Reitman? Doch der Sohn von Ivan Reitman („Ghostbusters“, „Dave“) legte ja schon mit dem gefeierten und preisgekrönten „Juno“ so eine echte Geschichte aus dem Leben hin. Wieder muss man diesen Film lieben und auch die Musik gehört erneut in die Kategorie „will ich sofort haben“.

Anfangs sieht man die Orte von ganz oben aus der Ryan-Perspektive, weit weg von den kleinen und großen Sorgen der Menschen. Flug und Flucht sind ja etymologisch verwandt, haben im Englischen und Niederländischen noch den gleichen Begriff. Rasant geschnitten ist die Dauerflucht vor Familie und Bindungen. Dann gibt ihm eine Affäre etwas Halt und man bekommt direkt Angst um die Zukunft der beiden, die gerade zueinander finden. Dass ausgerechnet der Dauer-Flieher dem Bräutigam, der vor der Hochzeit abhauen will, vom Guten der Ehe überzeugen soll, ist eine sensationelle Szene von vielen. Und es ist grandios, wie perfekt und mit so vielen feinen Noten Clooney auch diesen Typ hinbekommt. Der kann einem einfach alles verkaufen...

1.2.10

Verdammnis


Schweden, Dänemark, Deutschland 2009 (Flickan som lekte med elden) Regie: Daniel Alfredson mit Noomi Rapace (Lisbeth Salander), Michael Nyqvist, Lena Endre, Peter Andersson 129 Min. FSK: ab 16

Der Koproduzent ZDF und das TV-Format sind düstere Hinweise und je länger die Hackerin Lisbeth Salander mit dem Journalisten Michael Blomkvist einem Wust von Verbrechen auf der Spur sind, fühlt sich der Kinofilm nach Fernsehen an. „Verdammnis“ leidet unter dem Fluch das zweiten Teils, ist wesentlich schwächer als „Verblendung“, die erste Verfilmung der Roman-Serie „Millennium“ von Stieg Larsson.

In „Verblendung“ ist die ebenso mysteriöse wie aggressive Punkerin und Detektivin Lisbeth Salander (spannend: Noomi Rapace) am Ende den Altnazis davon gekommen. Doch nun plagt sie selbst im sonnigen Süden der düstere Albtraum einer Kindheit mit Vergewaltigung und Unrecht. Ihr Stiefvater schlug die Mutter fast tot. Und nachdem sich Lisbeth am Gewalttäter gerächt hat, missbraucht sie ihr gesetzlicher Vormund. Diese sehr düstere Welt mitten in einem Wohlstandsland liefert dem Millennium-Chefredakteur Michael Blomkvist (gut: Michael Nyqvist) eine Geschichte über Mädchenhandel, doch noch bevor sie veröffentlich wird, findet Michael die ermordeten Autoren. Die ganze Redaktion wird nun abgehört und bedroht. Lisbeth wird dieser und noch ein weiterer Mord untergeschoben. Obwohl das Recherche- und zeitweilige Liebes-Paar nur über ihre Computer Kontakt halten, klären sie die Hintergründe auf, die bis in höchste Regierungskreise reichen und gleichzeitig eng mit Lisbeths schrecklicher Kindheit zusammenhängen...

Auch im Staate Schweden scheint Einiges faul zu sein, doch „Verdammnis“ konzentriert sich bei der komplexen Verschwörung letztendlich vor allem auf das Drama um die düstere Punkerin Lisbeth. Das sorgt für ein spannendes Finale, lässt aber den Zuschauer unbefriedigt zurück. Und auch im dritten Teil „Vergebung“, der im Juni in die Kinos kommen soll, werden nicht alle Fäden wieder aufgenommen. Obwohl die körperlichen und seelischen Gewalttaten sehr drastisch dargestellt werden, wirkt „Verdammnis“ nicht so nachhaltig wie der inhaltlich geschlossenere „Verblendung“. Ein mäßiger Krimi, bei dem die Spannung des realen Hickhacks ums Erbe des Autors Stieg Larsson viel größer ist.