17.5.09

Cannes - Das Kreuz mit der Religion

 

Bei allen spannenden Themen im Mikrokosmos Cannes konnte man glatt die Religionen vergessen, die gerade für die heftigsten Kriege weltweit verantwortlich sind. Dank des eindrucksvollen Historienfilms „Agora" von Alejandro Amenabar wird man sich dieses Wahnsinns wieder schmerzlich bewusst. Das Drama beginnt im Alexandria des 4. Jahrhunderts. In der Klasse der Wissenschaftlerin Hypatia (Rachel Weisz), rund um die verbliebenen Schätze der Bibliothek von Alexandria, versammelt sich die begabte Jugend der Elite. Die Unruhen mit einer aufkommenden radikalen  Religionsgruppe reichen aber auch hinein in den Hort der Vernunft. Ein Christ und ein Anhänger des Schlangengottes Seraphim streiten sich, noch kann Hypatia ihnen vermitteln, dass sie doch alle vor allem gleich seien. Ein paar Pogrome, Gemetzel und Barbareien später haben die bärtigen Christen in ihren dunklen Gewändern die Macht übernommen, ihre ungebildeten Sittenwächter terrorisieren die Straßen, sogar der Rest der zerfallenden römischen Staatsmacht ergibt sich ihnen. Die Schüler der alten Klasse finden sich auf neuen Positionen der religiös verseuchten Gesellschaft: Der konvertierte Oreste ist römischer Statthalter und kann doch nicht die geliebte Hypatia schützen. Der ehemalige Sklave Devus, der Jahre beim katholischen Stoßtrupp für Rechtlosigkeit sorgte, bleibt seiner einstigen Herrin bis zuletzt treu. Denn nachdem die Christen die alte Religion und die Juden ausgemerzt haben, müssen sie jetzt die Vernunft der genialen Astronomin auslöschen und brandmarken sie als Hexe…

Auch auf die Gefahr hin, den Titel „Antichrist" von Lars von Trier um die Ohren gehauen zu bekommen - so zeigt es „Agora". Und dabei geht es nicht darum, welche Religion schrecklicher metzelt. Besonders furchtbar ist der erbitterte Kampf mit Feuer und Schwert gegen die Vernunft und den Atheismus. Dass die Frau Hypathia wahrscheinlich 1200 Jahre vor Keppler herausfand, dass die Erde sich in elliptischer Bahn um die Sonne dreht, wird da zur Nebensache.

Alejandro Amenabar hat keinen durchgehend gelungen aber einen für unsere Zeit enorm wichtigen Film vorgestellt. Denn was sind das für Zeiten, in denen ein Islam-kritischer Deutscher iranischer Abstammung äußert, dass er angesichts eines Gemäldes erstmals die christliche Begeisterung für das Kreuz nachvollziehen könne und er deswegen plötzlich für katholische und evangelische Kirchenobere nicht mehr  tolerierbar ist?

 

Wer jetzt bedauert, das die Poesie der „Liebenden vom Polarkreis", die Romantik und die magische Sexualität der früheren Filme Amenabars durch das erdenschwere Thema Religion verschwunden sind, verhält sich dabei ebenso wie Hypatia, die bei allen astronomischen Studien übersieht, was in der Welt um sie passiert - ob sie sich dreht oder auch nicht.

 

Nach „Agora" sieht man auch andere Filme neu: Führte nicht in „Thirst" der Versuch, eines katholischen Priesters, zu helfen und sich zu opfern zu einem heftigen Ausbruch von ganz unchristlichem Vampirismus? Blinkte nicht im wegen seiner radikal inszenierten Brutalität heftig angegriffenen „Kinatay" aus den erzkonservativen Philippinen überall „Jesus" in Leuchtwerbung auf? Und das ergreifende Drama „Jaffa", das die Unmöglichkeit der Liebe eines Arabers mit einer Israelin angeht.