31.10.06

Snow Cake


Großbritannien, Kanada, 2006 (Snow Cake) Regie: Marc Evans mit Alan Rickman, Sigourney Weaver, Carrie-Anne Moss 112 Min.
 
"Snow Cake" von Marc Evans ist ein kleines Wunder. Anrührend, komisch, einzigartig: Der Engländer Alex Hughes (Alan Rickman) sieht aus wie jemand, der lange nicht geredet hat. Er ist auf dem schweren Weg zur Mutter seines verstorbenen Sohnes, nimmt widerwillig eine junge Tramperin mit, die eine Ausfahrt später unter die Räder eines rasenden LKW kommt und sofort tot ist. Nun ist er auf dem noch schwereren Weg zur Mutter dieses Mädchen, das in seinem Auto starb. Doch in "Snow Cake" ist alles anders: Mutter Linda (Sigourney Weaver) erweist sich als kindisch, perfektionistisch, autistisch. Der Verlorene mietet sich bei der Hilflosen ein. Bei ihr lernt der verschlossene Mann nicht nur die Regeln von Comic-Scrabble, vor allem die Poesie des Pragmatismus hilft ihm sein eigenes Trauma zu überwinden: Wir können nix dran ändern, lass uns Trampolin hüpfen!
Dass hier jeder Satz ein Treffer für Herz, Hirn oder Lachmuskeln ist, jedes Bild verzaubert, ist nur ein Teil der Magie von "Snow Cake". Man genießt auch die Freude, Menschen als das was sie sind zu akzeptieren und ihre Unterschiede zu sehen. Alan Rickman, der distinguierteste Mund der Filmgeschichte und eines der leidvollsten Gesichter auf der Leinwand, begeistert als Alex Hughes. Sigourney Weaver schafft es reif und kindisch zugleich zu wirken. Und Carrie-Anne Moss beweist noch einmal, dass auf ihrer Matrix eines Menge Schauspielkunst zu entdecken ist. "Perfectamundo" würde Lilian sagen.

30.10.06

Wicker Man


USA 2006 (The Wicker Man) Regie: Neil LaBute mit Nicolas Cage, Kate Beahan, Ellen Burstyn 101 Min. FSK: ab 16
 
Hätte man Nicolas Cage vielleicht besser im Helden-Staub des "World Trade Center" liegen lassen sollen? Auch seine Rolle als "Wicker Man" begeistert niemanden. Dafür regt der Film unterschiedlich auf: Die jemals die fast abgöttisch verehrte britische Vorlage des Horrorfilmklassikers aus dem Jahr 1973 gesehen haben, sind entsetzt. Die anderen nur mild gelangweilt.
 
Nachdem er durch einen Unfall traumatisiert wurde, folgt der Polizist Edward Maulis (Nicolas Cage) dem Hilferuf seiner ehemaligen Verlobten Willow (Kate Beahan), die ihn hat sitzen lassen: Ihre Tochter Rowan sei verschwunden, er möge bitte nach Summersisle kommen, ihr suchen helfen. Nur zu willig reist er zur abgelegenen Insel, die auf keiner Funknetz-Karte verzeichnet ist. Auf dem mysteriösen Privatgelände herrscht ein verschwiegenes Matriarchat. Maulis versucht immer wieder, eine rationalistische Polizeiuntersuchung zu starten und
wedelt erfolglos mit seiner Polizeimarke herum. Während die dominanten Frauen ihn selbstsicher und verächtlich ignorieren, schweigen die Männer, stumme Hilfsarbeiter, völlig. Das ganze Volk von Imkerinnen schwirrt um die Königin Summersisle (Ellen Burstyn) und bereitet sich auf ein heidnisches Ernteritual vor. Soll etwa Rowan dabei geopfert werden?
 
Eindimensional simpel stolpert Nicolas Cage als Detektiv, dessen Suche ihn zu sich selbst führt, durch die Geschichte. Wie zu erwarten, verirrt er sich im Wabelabyrinth der Insel und der matriarchalen Gesellschaft. Seine Bienenallergie ist ebenso wenig subtil wie die trickreichen Schreckmomente in teilweise gleich doppelten Alpträumen. Für das Geheimnisvolle, Bedrohliche sorgt vor allem die Musik von Angelo Badalamenti. Statt der irritierenden, mysteriösen Gesellschaft der britischen Vorlage regiert hier der einfache Schrecken. Die Konfrontation von Christentum und der heidnischen Gesellschaft musste einer wenig originellen Frauengesellschaft weichen. Kurios, dass in Zeiten mittelalterlich aufflammender Religiosität diese ausgerechnet in einem Film, der sie thematisierte, ausgeklammert wird.

Marie Antoinette


USA 2006 (Marie Antoinette) Regie: Sofia Coppola mit Kirsten Dunst, Jason Schwartzman, Rip Torn 123 Min. FSK: o.A.
 
Lost in Tradition!
 
Ein rosarotes Mädchen-Märchen über „Marie Antoinette" von Francis Ford Coppola-Tochter Sophia. Nach „Lost in Translation" ging die mittlerweile als Regisseurin anerkannte Sophia Coppola nach Frankreich und will den Söhnen und Töchtern der Barrikaden-Kämpferin Marianne erzählen, die verhasste und bei der Französischen Revolution geköpfte Marie Antoinette sei gar nicht ihre verprassende, abgehobene Königin gewesen. Sondern ein einsamer Teenager in unfreundlicher Umgebung, der doch noch entdeckt, wie er Spaß haben kann. Wie in ihrem Erstling „Virgin Suicide" kreiert die junge Filmemacherin vor allem eine Atmosphäre, ein Schweben in luxuriöser Einsamkeit; alberne Rituale der Morgentoilette vor blaublütigem Publikum, absurder Repräsentationszwang und rockige Ausbrüche daraus.
 
Die junge österreichische Prinzessin Marie Antoinette (Kirsten Dunst) wird als fröhlicher Teenager von ihrer Mutter, der Kaiserin Maria Theresia, aus politischen Gründen mit dem französischen Thronfolger Louis XVI verheiratet. Wie dramatisch die folgenden Jahre sein werden, spürt man in einer frühen, ganz schlimmen Szene: Beim Grenzübertritt nach Frankreich wird Marie Antoinette völlig neu eingekleidet und muss ihren Schoßhund zurücklassen! Wie unmenschlich!
 
Die Regeln des Hofes von Versailles machen ihr bald ebenso zu schaffen, wie ein völlig desinteressierter Gatte, der ihr doch eigentlich ein paar Thronerben zeugen sollte. Heimweh und die garstige Kälte der Hofgesellschaft lassen das Mädchen ganz traurig in all die Spiegel des Palastes schauen. Da bleibt nur ein Ausweg: Schwelgen in Luxus und unzähligen schicken Schuhen dient dem Frustabbau, das wissen Brigitte, Imelda Marcos und jedes weibliche Kind. Dass draußen die Menschen verhungerten, weiß man in diesem Film nicht unbedingt. Ob das eher jugendlich anvisierte Publikum - siehe popiger Soundtrack - die berühmt schnippische Antwort Antoinettes im Stile von Harald Schmidt kennt, ist fraglich: Auf den Hinweis an die exzessiv den Staatsetat strapazierende Königin, ihr Volk hätte kein Brot, sagte sie angeblich: "Dann sollen sie doch Kuchen essen!" Aber auch die Hinrichtung Marie Antoinettes wurde ausgeblendet - wir wollen doch keine Flecken im flotten, bunten Barbie-Puppenhaus.
 
Wenn Historienfilme prinzipiell immer eine Lüge sein müssen, weil wir zu wenig von der Historie wissen und der Stoff vor allem von heute erzählt - weshalb regen sich so viele angesichts dieser "Marie Antoinette" auf? Wegen der extremen Modernisierung in der Figur? Das machte auch Baz Luhrmann mit "William Shakespeares Romeo und Julia" und mit "Moulin Rouge". Ohne so viel Gegenwind. Oder weil Festlegungen auf Gut und Böse auf den Kopf gestellt werden?

27.10.06

Kino oder Konzert? Der Stand der Kl ä nge.


Was Sie schon immer über Filmmusik wissen wollten und nicht fragen konnten, weil der Komponist nie dabei ist.
 
Gent. Wahrscheinlich besteht die ganze Filmwelt aus verkannten Genies. Alle werden sie übersehen, nicht genug geschätzt und stehen nie im Scheinwerferlicht: Drehbuchautoren, Produzenten, Setdesigner und vor allem Komponisten. Letztere haben zumindest eine Heimat, einen Ort, an dem man sie liebt: Gent im belgischen Flandern.
 
Dort residiert seit 2001 die World Soundtrack Academy und im Rahmen des "Flanders International Film Festival" werden jährlich die "World Soundtrack Awards" (WSA) verliehen. Dazu gibt es in Konzertsälen all die überhörte Musik live und pur - wenn nicht schon wieder einige Bildschirme mit Filmbildern ablenken würden. Außerdem hörte man beim 33. Flanders International Film Festival (11.-21. Oktober) reichlich Stellungnahmen zum Stand der Klänge.
 
Welche Funktion hat Ihre Musik im Film?
"Meine Musik soll den Film unterstützen, sich nicht selbst aufdrängen. Ich höre sie normalerweise nur im Kontrollraum, in voller Orchestrierung finde ich sie irritierend." John Powell, der Komponist von unter anderem "Ice Age: The Meltdown", "Mr. & Mrs. Smith" und "Bourne Identity" war Ehrengast des Festivals und wurde mit einer Suite während der "World Soundtrack Awards" beglückt, zu der er selbst Schlagzeug spielte.
 
"In diesen politisch schwierigen Zeiten kann die Musik verbindend wirken. Obwohl ich Oliver Stone sehr schätze, war ich bei der Anfrage zu 'World Trade Center' skeptisch. Aber er hat alle Zweifel ausgeräumt." Craig Armstrong lieferte zu "World Trade Center" einen ungewöhnlichen Score mit viel Chor und Pathos ab. Wie sehr seine Kompositionen geschätzt werden, machte Schauspieler Michael Caine klar, als er "The Quiet American" nur unter der Bedingung spielen wollte, dass Armstrong die Musik schreibt. Während der Brite durch "Romeo & Juliet", "Moulin Rouge", "Ray" und "Love Actually" bekannt wurde, komponiert er die meiste Zeit klassische Musik - fürs Orchester, nicht fürs Kino.
 
"Für 'Flight 93' schrieb ich besänftigende Musik, da diese Situation im entführten Flugzeug so dramatisch ist, dass sie eigentlich keine Musik braucht. Also entschied ich mich, musikalisch die Hand des Publikums halten. Das zeigt, dass Filmmusik nicht zu manipulativ sein darf. Mir fällt da Hitchcock ein, der zur Situation von 'Lifeboat' (ein Rettungsboot einsam im weiten Ozean) fragte: Wo ist das Orchester? Im Boot nebenan?" (John Powell)
 
 
Wann setzt der Komponist ein?
Immer als letzter, immer unter enormen Zeitdruck. Denn "Hollywood ist der einzige Ort der Welt, an dem man seine Komposition um sechs Uhr morgens fertig schreibt und sie dann in vier Stunden orchestriert und kopiert bekommt." (Powell) Wenn es allerdings mal anders sein sollte, ist es auch nicht gut, weil "in Hollywood zwischen Script und Film alles ausgewechselt werden kann: Das Drehbuch selbst, der Regisseur zweimal und aus der Hauptdarstellerin wird ein Mann ..." (Tommy Pearson, Filmmusik-Spezialist beim BBC-Radio)
 
"Meist gibt das Drehbuch die Atmosphäre vor, besser ist es allerdings, den fertigen Film zu haben, dann hat man auch die wichtigen Soundeffekte und die Stimmen dabei." (Powell)
 
Der deutsche Komponist Peer Raben (erhielt in Abwesenheit den Lifetime Achievement Award) kann es sich als eigensinnige Legende aus Fassbinder-Zeiten erlauben, seine Musik erst am Ende hinzuzufügen. Ohne weitere Diskussion, wie seine jungen Mitarbeiter Florian Moser und Michael Bauer aus "Rabens Workshop" berichten. Wong Kar-Wai bediente sich für "2046" bei einer Kassette, die ihm Raben auf Anfrage zuschickte. So was geht allerdings auch schon mal schief: Kubrick schmiss 1968 den bei Alex North bestellten Score für "2001" in den Mülleimer und benutzte einfach die Musik, die während der Produktion schon unter den Bildern lag.
 
"Wenn man früh während der Produktion direkt Szenen mit Originalmusik vertont, bringt das zwei bis drei Mal mehr Arbeit, denn die Musik wird später mit weg geschnitten." (Powell) Diese parallele Drehen und Komponieren sei nur machbar, wenn Regisseur und Komponist eine Person sind. Siehe Tom Tykwer bei "Lola rennt" oder auch bei "Das Parfum". Oder Tony Gatlif mit fast allen seinen Filmen von "Gatjo Dilo" bis "Transylvania".
 
"Musik hat etwas Irrationales, es ist die Musik der Seele, die ich in der reichen Musiktradition der Roma finde." (Tony Gatlif)
 
Gatlif erhielt zusammen mit Delphine Mantoulet für seine "Gadja Dila"-Geschichte "Transylvania" (mit Asia Argento) den Georges Delerue-Preis für die beste Musik. Zusammen mit dem Publikumspreis für den Gypsy-Musik-Konzertfilm "When the Road Bends: Tales of a Gypsy Caravan" (von Jasmine Dellal) stellte "Transylvania" allerdings einen subversiven Kontrapunkt gegen all das Orchestrieren und Symphonisieren von Filmmusik in Gent und anderswo. Bei Gatlif ist Musik selbst als Filmkonserve noch äußerst lebendig, während die befrackte Live-Aufführungen von aus der Funktion gerissener Filmmusik in den seltensten Fällen Erlebnisgewinn bringen. Man muss ja auch keine Opernlibretti vorlesen. Nach mehr als hundert Jahren Kino traut sich Unterhaltung scheinbar immer noch nicht Unterhaltung zu sein und strickt weiterhin an einem unpassenden Kunstmäntelchen.

24.10.06

Eine unbequeme Wahrheit


USA 2006 (An Inconvenient Truth) Regie: Davis Guggenheim mit Al Gore 96 Min. FSK: o.A.
 
Man könnte diesem Mann die ganze Schuld an dem Terror und all den Kriegen zuschieben: Hätte Al Gore die Wahl gegen George Bush nicht nur gewonnen, sondern auch um den Sieg bei den Wählerstimmen gekämpft, wäre die Welt heute friedlicher! Doch der Politiker, der schon immer auch Ahnung von anderen Sachen - wie dem Internet - hatte, büßt auf seine Weise. Unermüdlich versucht er den US-Amerikanern klarzumachen, wie dramatisch die Klimaerwärmung bereits ist. Diese in den USA bejubelte Dokumentation begleitet seinen Feldzug.
 
Faszinierte Gesichter, warmer Applaus ... selten gewinnt ein Politiker so viel Aufmerksamkeit. Dieser ist jedoch ein besonderer Politiker: "I used to be the next president of the United States", sagt er selbst scherzhaft. "Ich war mal der nächste Präsident." Jetzt tourt er seit Jahren durch das Land. Hielt seinen Vortrag bereits mehr als tausendmal. Erklärte mit seinem Apple-Laptop wie die Sonnenstrahlen die Erde erwärmen und die Infrarot-Wärme durch die Treibhausgase wie Kohlendioxid nicht mehr ins All ausstrahlen können, wodurch sich die Temperatur der Erde katastrophal erhöhen wird.
 
Mit sehr persönlichen Geschichten, Comics, Animationen, eindrucksvollen Fotos und Grafiken liefert Gore tatsächlich einen eindrucksvollen Vortrag. Das Abschmelzen der Gletscher ist so offensichtlich und erschreckend, dass man sich melancholisch unter eine Decke verziehen oder direkt bei Greenpeace anmelden will. Wenn dann der arme Eisbär ertrinkt, weil das Eis überall geschmolzen ist, müssten alle Zuhörer sofort Ökoaktivisten werden und Grün wählen.
 
Doch das ist erst der Auftakt. Dann gibt es noch die Erwärmung der Meere, das Anwachsen der Zerstörungskraft der Wirbelstürme und Taifune bis Katrina, der New Orleans überschwemmte. Die Erklärung ist ganz einfach: Wirbelstürme gewinnen ihre zerstörerische Energie über warmen Wasser.
 
Auch wenn wir die Tatsachen doch schon längst kennen (und wir weiter fleißig mit Autos durch die Gegend rasen und der Industrie Emissionshandels-Zertifikate kostenlos hinterherwerfen): Wann werden wirkliche Maßnahmen ergriffen? Wenn die Flüchtlinge aus den Niederlanden Deutschland überschwemmen? Wenn Hamburg unter Wasser liegt? So ist auch der pessimistische Grundton dieser "unbequemen Wahrheit" verständlich. Er glaubt nicht, dass er die Menschen mit seiner Warnung erreicht. Selbst Gores Glaube an die Demokratie ist - verständlicherweise? - beschädigt.
 
Gore ist immer noch ein Politiker - man sollte ihm nicht alles glauben. Aber vielleicht anfangen, nachzudenken. "Eine unbequeme Wahrheit" ist die andere Seite der Medaille vom Spielfilm "The Day After Tomorrow" und enorm wichtig, weil man so vielleicht versteht, dass dieses Horrorszenario keine Hollywood-Erfindung ist.

Dagmar Hirtz Ehreneditorin bei Film+

"Film+", das Forum für Filmschnitt und Montagekunst, das vom 25. bis 27. November 2006 zum sechsten Mal in Köln stattfindet, wird 2006 das Oeuvre von Dagmar Hirtz präsentieren. Die aus Aachen stammende Editorin, Produzentin und Regisseurin Dagmar Hirtz studierte Musik, bevor sie im Kopierwerk und am Schneidetisch zum Film kam. Sie hat den neuen deutschen Film durch ihre Montagen von Filmen der Margarethe von Trotta, von Volker Schlöndorff und Michael Verhoeven ganz wesentlich geprägt. Eine weitere jahrelange fruchtbare Arbeitsbeziehung verbindet Dagmar Hirtz mit Maximilian Schell, dessen Regiearbeiten sie fast ausnahmslos schnitt. Mit "Unerreichbare Nähe" und "Moondance" realisierte sie auch selbst abendfüllende Spielfilme.
 
In Anwesenheit der diesjährigen Ehreneditorin zeigt "Film+" drei von Dagmar Hirtz montierte Filme: "Der Richter und sein Henker" (D/I 1975, R: Maximilian Schell), "Tätowierung" (D 1967, R: Johannes Schaaf), "Die bleierne Zeit" (D 1981, R: Margarethe von Trotta).
Infos: www.filmplus.de

18.10.06

The Giant Buddhas


Schweiz 2005 (The Giant Buddhas) Regie: Christian Frei 95 Min.
 
Mit seinem "War Photographer" macht der Schweizer Dokumentarist Christian Frei weltweit Furore. Und auch sein nächstes Projekt erzählt anhand eines spektakulären Objekts vom Stand der Welt: Im März 2001 wurden im abgelegenen Bamiyantal in Afghanistan zwei riesige Buddha-Statuen von den Taliban in die Luft gesprengt. Einer davon, 55 Meter hoch, war der größte stehende Buddha der Welt. Auf seiner Filmreise zu den Ruinen dieser kulturhistorischen Schätze verbindet Frei mehrer Stränge. Der Wandermönch Xuanzang war im siebten Jahrhundert entlang der Seidenstrasse unterwegs und passierte Bamiyan. Während die Menschen in den Höhlen von Bamiyan von ihrem Leben zeugen, machen sich kluge Köpfe in aller Welt Gedanken über den neuerlichen Bildersturm. Eine vielschichtige, aber manchmal auch zähe Annäherung.

Shortbus


USA 2006 (Shortbus) Regie und Buch: John Cameron Mitchell mit Sook-Yin Lee, Paul Dawson, Lindsay Beamish, PJ DeBoy, Raphael Barker, Jay Brannan, Peter Stickles 102 Min.
 
Schon bei der Premiere in Cannes war "Shortbus" DER Geheimtipp. Gleichzeitig fragte man sich, wer diesen sehr freizügigen Film wohl ins Kino bringen würde. Jetzt traute sich Senator und schon schwappt aus den prüden USA der Begriff Pornografie herüber. Reißerisch, denn "Shortbus" ist in seinen "Short Cuts" des New Yorker Lebens vor allem zutiefst menschlich und ehrlich.
 
Der Film beginnt mit dem Reigen dreier, teilweise akrobatischer Orgasmus-Szenen und man hält schon den Atem an, wie rasant Regisseur John Cameron Mitchell rangeht. Auch der Pollock an der Wand bekommt einen der vielen frechen Scherze dieses bei aller Ernsthaftigkeit umwerfend komischen Films ab. Doch die postcoitive Traurigkeit macht deutlich, es geht nicht ums Schauturnen. Hier sind drei einsame Menschen verzweifelt auf der Suche nach anderer Nähe.
 
Die Paarberaterin Sofia macht ab und zu auch Sexualberatung, hat aber selbst noch nie einen Orgasmus gehabt - nicht gerade ideal für Job und langjährige Beziehung. Ihre Kunden Jamie und James überlegen sich, ob sie zu einer offenen Beziehung umsteigen wollen. Dabei quasselt der ehemalige Kinderstar Jamie unsensibel drauf los, während der deprimierte James für sein filmisches Vermächtnis alles mit der Kamera aufzeichnet. Die Domina Severin macht auch privat nur an und runter. Dabei zeigen ihre künstlerisch bearbeiteten Polaroids eine enorme Sensibilität. Alle diese Menschen treffen sich im erotischen Salon von Justin Bond namens "Shortbus". Bei Gesprächen, Getränken und anderen Drogen (Potcorn!), wunderbarer Musik (Yo La Tengo) und Gruppensex erhalten sie die Chance, sich zu öffnen und zu verändern.
 
Wobei der Humor herrlich unverschämt daherkommt: Da wird eine Performance mit Tampon als "Periode piece" (eigentlich: Historisches Drama) bezeichnet. Bei einem Dreier bläst man mit der US-Nationalhymne nicht den Marsch sondern in den Arsch. Die Statisten werden im Abspann augenzwinkernd als "Sextras" bezeichnet. Dass die Original- oder OmU-Version unerlässlich sind, versteht sich dabei von selbst.
 
Mit der mega-schrillen Transvestiten-Bio "Hedwig and the Angry Inch
" (2001) machte sich John Cameron Mitchell einen Namen. Jetzt übte er zwei Jahre lang mit Laiendarstellern die Rollen ein, die sie in "Shortbus" sehr überzeugend verkörpern. Kameraflüge über ein bunt übermaltes New York verbinden die witzigen und anrührenden Szenen. In dem Maße wie sich Sofia der sexuellen Erfüllung nähert, wird ganz New York immer öfter von einem elektrischen Black Out bedroht.

17.10.06

Dead or Alive


USA 2006 (Dead or Alive) Regie: Corey Yuen mit Eric Roberts, Jaime Pressly, Holly Valance, Sarah Carter 86 Min. FSK: ab 12
 
Big Brother für Schläger: Action-Püppchen, die so dumm aussehen, dass man ihnen über die Straße helfen muss, treffen sich auf mysteriöser Insel, um in gnadenlosen Duellen das "Dead or Alive"-Duell auszufechten. Damit dies nicht ganz stupide abläuft, bricht ausgerechnet der Veranstalter (Eric Roberts als einziger richtiger Schauspieler bei der Prügeltruppe) die Regeln und muss als Schurke bekämpft werden.
 
Das von Alles-Produzent Bernd Eichinger ("Das Parfum") verfilmte Computerspiel ist im besten Fall albern. Inhaltlicher Schwachsinn wurde physikalisch haarsträubend aufbereitet, weil die Figuren die meiste Zeit an irgendwelchen Kabeln hängen. Dramaturgisch ist das einfallsloser als eine TV-Show. Mehr als die Gratis-Kinokarte zum Videospiel ist dieses Filmchen nicht wert.

Nacho Libre


USA 2006 (Nacho Libre) Regie: Jared Hess mit Jack Black, Ana de la Reguera, Héctor Jiménez 92 Min. FSK: ab 6
 
"Wer denkt sich so was aus?" Das ist wohl der häufigste Gedanke im Publikum von "Nacho Libre"? Direkt gefolgt von: "Was ist das???" Eine krude Mex-Gags-Mischung - das ist wohl die knappste Antwort zu dieser mehr als schrägen Komödie von "School of Rock"-Star Jack Black und "Napoleon Dynamite"-Regisseur Jared Hess.
 
Inmitten des mexikanischen Kitschlandes liegt ein armes Kloster. Das Essen, welches die Kinder Tag für Tag in den Napf geklatscht bekommen, scheint der Keimherd allen Leids des Katholizismus. Verantwortlich ist Klosterkoch Nacho (Jack Black) nicht wirklich, doch das Darben der kleinen Klosterschüler geht ihm unter die dicke Haut. Er selbst landete als Sohn einer skandinavischen Mutter und eines mexikanischen Diakons hier, nachdem er mit zusammengeklaubtem Heldendress ausbüchste und Wrestlingstar werden wollte. Und angesichts der akuten Notlage muss Nacho Libre, der knallbunte, maskierte Zorro des Wrestlingrings, wieder seinen Job aufnehmen.
 
Zusammen mit dem hageren und hässlich behaarten Straßenräuber Esqueleto (Héctor Jiménez), das Skelett, bilden sie ein Wrestlingteam, werden "Luchadors", wie man die Volkshelden in Mittelamerika nennt. Zwar beziehen der Fette und der Spindeldürre immer Prügel, selbst von einem gehörnten, durchgeknallten Zwergenpaar. Doch der Briefumschlag der Veranstalter lässt die Lieblings-Verlierer zu reichen Männern werden. Nacho bleibt inkognito, kann aber seinen Kindern endlich anständiges Essen vorsetzen. Und immer am Wochenende in diese hautengen, bunten Spandex-Klamotten schlüpfen, die den fetten Hintern so gut betonen...
 
Schon "Napoleon Dynamite", diese Monty Python-Version von "Donnie Darko" mit Regisseur Jared Hess in der Hauptrolle, war absonderlich, abstrus, kurios, befremdlich, bizarr, eigenartig, merkwürdig, eigenartig, grotesk, wunderlich, seltsam... "Nacho Libre" ist schlimmer. Zu Hess gesellte sich das schreckliche Duo Black (Jack, der Schauspieler) und White (Mike, der Autor). Zur echt mexikanischen Kulisse kam ein alberner Drei-Rad-Roller, viel Ethno-Humpapapah mit 60er-Touch auf dem Soundtrack (Danny Elfman) und respektloser Blödsinn überall. Das macht keinen Sinn, aber manchmal Spaß.
 
Einen Unterschied gibt es zwischen "Napoleon Dynamite" und "Nacho Libre": Ersterer war authentisch ... na ja, soweit dieser Begriff zu so viel Skurrilität passt. Die Figuren sahen aus wie Teenager, lebten in entsprechenden Wohnungen, schwänzten die passenden Schulen. Während die Auswahl der einheimischen Gesichter auch einen kunstreichen Fotoband ehren würde, passt Jack Black trotz Lockenkopf und Schnurrbart nicht wirklich nach Mexiko. Was wiederum komisch wirkt, aber die Humorschraube vielleicht auch überdreht.

16.10.06

The Guardian (Jede Sekunde z ä hlt)


USA 2006 (The Guardian) Regie: Andrew Davis mit Kevin Costner, Ashton Kutcher, Melissa Sagemiller 139 Min. FSK: ab 12
 
Nachdem Stone pathetisches "World Trade Center" die verschütteten Retter von 9/11 "huldigte", kommt jetzt die Coast Guard dran. Diese Luft-Wasser-Retter sollen bei den Katerina-Überschwemmungen die einzigen staatlichen Einheiten gewesen sein, die funktionierten. Kevin Costner stürzt sich für sie ins eiskalte Wasser und kommt dank guter Story als "The Guardian" fast ungeschoren davon.
 
"Mit dem Alter wirst du immer besser" - diesen Satz hat sich Costner bestimmt per Vertrag ins Script schreiben lassen. Er gilt aber dem Rettungsschwimmer-Star Ben Randall (Costner), der in Alaska zu kenternden Fischern und Touristen fliegt, um sie in letzter Sekunde aus der Beringsee zu fischen. Randall ist eine Legende, keiner hat so viele Menschenleben gerettet wie er. Und auch in dieser Nacht gibt er wieder alles. Nur der Hubschrauber macht nicht mit, der Höhenmesser gibt den Geist auf und infolgedessen stürzt das ganze Team ab, während Randall selbst im Wasser ist. Er überlebt als einziger. Schwer traumatisiert soll er sich bei einem Ausbilderjob erholen. Ganz wie es im Buch der Filmklischees steht, Kapitel "Comeback des alten Hasen".
 
Dass es bei solchen Job-Problemen auch zuhause kriselt, ist zu erwarten. Wie soll Frau Randall denn glücklich werden, wenn ihr Mann immer mit seinen Kumpels draußen im Eismeer ist und fremde Leute rettet. Vor lautet Mitmenschlichkeit kommen er selbst und seine Liebe viel zu kurz. Deshalb lässt sie ihn sitzen und er hat jetzt nur noch seine Retterei.
 
Die Konfrontation mit einem jungen Rebellen ist auch nicht gerade originell. Doch Costner und Kutscher machen die Sache interessant. Schon am ersten Tag auf der Akademie kündigt der arrogante Jake Fischer (Ashton Kutcher) an, alle Rekorde von diesem Randall zu eliminieren. Was auch kein Problem für diesen Fisch(er) ist, der an der Uni reihenweise Schwimmwettkämpfe gewann. Doch das Retten im eiskalten Wasser, zwischen meterhohen Wellen ist eine andere Sache. Und es ist vor allem Teamwork. Das ist die große Lektion, die Jake lernen muss. Das psychologische Problem dabei passt praktischerweise ganz gut zu dem seines Ausbilders...
 
Wo "Der perfekte Sturm" mit einer Riesenwelle für Aussehen sorgte, machen hier vor allem die Figuren die Welle. Ihre Schicksale spiegeln sich ineinander, zwei Raubeine müssen sich zusammenraufen. Sie lernen zwar nichts fürs Leben, aber für den Job in der "Waterworld" sollte es reichen. Doch auch die Rettungsszenen im tosenden Meer machen richtig was her. Und am Ende macht er uns der alte Rettungsschwimmer noch mal richtig den Costner, einen Helden alter Schule. Da denkt man zurück, wie er freihändig auf dem Pferd durch den Bürgerkrieg ritt. Wie er eigenhändig ein ganzes Maisfeld für die Baseball-Arena ummähte. Wie er einhändig die "Waterworld" umsegelte. Als rechts-händiger und schon damals zu alter Baseball-Werfer noch das Club-Groupie Susan Sarandon (Annie) umlegte. Und vor allem am letzten Loch den Golfball immer wieder ins Wasser schlug. Das ist der Stoff aus dem Legenden sind und von so einer erzählt der Film ja schließlich auch.

11.10.06

Die (Film-) Musik spielt in Gent

Flanders International Film Festival
 
Gent. Viel Filmmusik und reichlich deutsche Beiträge bestimmen das 33. Flanders International Film Festival, das große Filmfestival Belgiens (11. bis 21. Oktober). Seit vielen Jahren hat sich Gent zum wichtigsten europäischen Filmfestival mit dem Schwerpunkt Musik im Film herauskristallisiert. Gestern feierte man mit Tom Tykwers "Das Parfum" die Eröffnung. Passend, da ja Tykwer auch immer wieder Musik für eigene Film wie "Lola rennt" schreibt. Das Festival teilte mit, "der Film sei für den Wettbewerb deshalb hervorragend geeignet, da das Flanders International Film Festival in seinem internationalen Wettbewerb den Schwerpunkt auf den Einfluss der Musik auf den Film legt." So gibt es unter den vier Hauptpreisen auch den "George Delerue Prize for Best Music".
 
In den verschiedenen Sektionen zeigt sich wieder der internationale Trend, dass deutsche Filme im Ausland sehr geschätzt werden. Ganz im Gegensatz zu teilweise enttäuschenden Zahlen im einheimischen Kino. So sind "Knallhart" von Detlev Buck, "Requiem" von Hans-Christian Schmid, "Bye, Bye Berlusconi" von Jan Henrik Stahlberg, Matthias Glasners "Der freie Wille", "Komm näher" von Vanessa Jopp sowie mehr als zehn weitere Titel in Gent zu sehen.
 
Im Rahmen des Festivals werden traditionell auch die renommierten World Soundtrack Awards (WSA) an die besten Komponisten des letzten Jahres verliehen. Die Gala-Veranstaltung wird begleitet von einem Konzert mit Kompositionen von John Powell, Michael Giachino und Peer Raben. Der deutsche Komponist erhält zudem am Sonntagabend den Lifetime Achievement Award. Seit 1969 schrieb Peer Raben fast alle Musiken für die Filme von R. W. Fassbinder. Neben Kompositionen für Film und Fernsehen entstanden auch viele Kompositionen für das Theater - u.a. für Inszenierungen von Peter Zadek, Claus Peymann und anderen berühmten Regisseuren. Aber Peer Raben widmete sich noch einer weiteren Leidenschaft - dem Chanson. Über viele Jahre hinweg entstanden Chansons für Ingrid Caven zu Texten von ihm selbst, von R. W. Fassbinder und Hans Magnus Enzensberger.
 
Am 19. Oktober gibt der WSA-Gewinner von 2001 Craig Armstrong ein Konzert mit seinen Kompositionen zu den Filmen "Romeo & Juliet", "Moulin Rouge", "Ray" und "Love Actually".

10.10.06

Lucas der Ameisenschreck


USA 2006 (The Ant Bully) Regie: John A. Davis mit den Stimmen von Julia Roberts/Barbara Schöneberger (Hova), Nicolas Cage (Zoc), Meryl Streep (Queen), Paul Giamatti (Stan) 89 Min. FSK: o.A.
 
Das große Krabbeln bei den Animationen geht weiter: Nach "A Bug's Life" und "Antz" schrumpfen wir nun mit dem Kind Lucas unter die Grasnabe und erleben kriegerische Abenteuer. Die Animationstechnik machte dabei Fortschritt. Die Anima, die Seele blieb auf der Strecke.
 
Der von den anderen Kindern gepiesackte Lucas lässt seine Wut am Ameisenhügel im Garten aus. Das führt dort unten zu Überschwemmungen und anderen schrecklichen Katastrophen. Verzweifelt sucht Ameisenmagier Zoc nach einer Waffen gegen den riesigen Zerstörer. Und es klappt: Eine Tinktur lässt Lucas schrumpfen und vor dem Ameisen-Gerichtshof landen. Zur Strafe soll er wie eine Ameise leben. Als erstes muss er lernen, nicht alles alleine lösen zu wollen. Hier geht die Gemeinschaft vor. Dann wird er in höchster Not Ameisenkräfte in sich entdecken. Es steckt eine Ameise in jedem von uns...
 
Der technisch fortschrittliche CGI-Animationsfilm bietet reihenweise Abenteuer mit der Originalität von Sindbad, dem Seefahrer. Beim Kampf gegen die Wespen und den Insektenvernichter wehren sich martialisch gezeichnete Ameisen mit eigenen Waffen. Die Waffe der Animateure ist heutzutage der Computer. Regisseur John A. Davis hatte Erfahrung mit "Jimmy Neutron". Ähnlich bleibt "Lucas" mit der gleichen kühlen Künstlichkeit unnahbar, mit einem Design, das man früher gerne für Science Fiction anwendete. Positiv dabei vor allem der didaktische Ansatz, den "Zerstörer" bei seinen Kolonisierten leben zu lassen. So - und menschlicher - ließ T.H.White einst Arthur, den "König auf Camelot" die Tiere verstehen. Aber das ist ein Buch, was gar nicht Fortschrittliches.

Der Teufel tr ä gt Prada


USA 2006 (The Devil Wears Prada) Regie: David Frankel mit Meryl Streep, Anne Hathaway, Stanley Tucci 109 Min. FSK: o.A.
 
Dass die ganze Branche nur davon lebt, wie Frauenzeitschriften ihrem Publikum das Selbstwertgefühl untergraben und für ewig schlechtes Gewissen sorgen, wird hier niemals erwähnt. Aber selbst im Reich der Harmlosigkeiten ist diese "Teufelei" brav und vorhersehbar. Nach der autobiografischen Buchvorlage von Lauren Weisberger steigt ein natürlich sympathisches Mädchen in kalter Glamourwelt auf und geht dabei Gefahr, sich selbst zu verlieren.
 
Andrea Sachs (Anne Hathaway) kommt aus der Provinz und landet in New York als zweite Sekretärin bei "Runway", einem namhaften Modemagazin. Alle tragen schwarze Klamotten, alle sind hektisch, panisch und neurotisch. Die erste Sekretärin Emily (Emily Blunt) weist sofort darauf hin, dass "eine Millionen Mädchen für diesen Job morden würden." Sie vergaß zu erwähnen, dass es tatsächlich ein mörderischer Job ist, vor allem wegen der Chefin Miranda Priestly (Meryl Streep). Die selbstherrliche Inquisitorin der Modewelt knallt Morgen für Morgen schlecht gelaunt, arrogant, bösartig und unhöflich ihren Mantel auf den Schreibtisch, damit ihn jemand anderes wegräumt. Andrea darf nie nachfragen, egal wie sinnlos der Auftrag ist. Unmögliches zu erledigen, gilt hier als selbstverständlich. Wenn Andrea den neuen Harry Potter noch vor dem vor dem Druck besorgt, gibt es keinen Dank. Der normale Arbeitswahnsinn halt.
 
Doch das "kluge Pummelchen" (Zitat Miranda) macht - kaum verständlich - den Wahnsinn mit. War sie Anfangs noch so vernünftig, den Laden nicht ernst zu nehmen, die albernen Eitelkeiten und Äußerlichkeiten mit einem Lächeln zu quittieren, macht sie jetzt alles mit. Sie hofft auf Beziehungen für ihren Traum, Schriftstellerin zu werden. So sieht Andrea bald genau so albern aus, wie die anderen Mode-Tussen. Das "Working Girl" vergrault Freunde und ihren "Boyfriend". Sie ist Tag wie Nacht bereit, zu springen, wenn Miranda anruft. Bei der Anpassung ist Nigel (Stanley Tucci), die Seele des Ladens, hilfreich. Ein Gang durch die reichhaltige Garderobe, die wohl das weibliche Publikum begeistern soll, und Andrea sieht in unbequem hohen Schuhen, hinter dicker Schminke nur noch albern aus. Mit zynischen Bemerkungen hilft Nigel auch, die Tretmühle zu ertragen.
 
Wenn man das Magersucht-Verbot bei den Modemessen von Madrid und Mailand als Fortschritt betrachtet, ist dieser Film Mittelalter, weil nur sanfteste Seitenhiebe auf das Hungern für Größe 2 zu entdecken sind. Auch ansonsten ist Andreas Erfolgsstory von Harmlosigkeit bestimmt. Wie gemein und geistreich zog doch Robert Altman in "Pret-a-Porter" die Modebranche durch den Kakao. Auch wenn Meryl Streeps Drache Miranda nun eine geniale Show der arroganten Kälte ist, waren damals die Chefredakteurinnen richtig böse. Das Versöhnliche verantwortet wohl die Autorin Lauren Weisberger, die selbst so eine "Karriere" bei der "Vogue" erlebte. Immer hin lernt ihre Andrea letzlich, sich nicht von diesen Predigern des falschen Lebens fertigmachen zu lassen. Am Ende schenkt sie ihnen ein unbezahlbares Accessoire, ihr entwaffnendes Lächeln.

Ricky Bobby - K ö nig der Rennfahrer


USA 2006 (Talladega Nights: The Ballad of Ricky Bobby) Regie: Adam McKay mit Will Ferrell, John C. Reilly, Sacha Baron Cohen 108 Min. FSK: ab 6
 
Zwei Karten für diesen Rennwagen-Film ... Vorsicht: Wer statt des Zeichentricks "Cars" die Comedy-Raserei "Ricky Bobby" erwischt, bekommt zwar die gleiche Handlung, aber weitaus heftigere und deftigere Scherze. Will Ferrell kehrt wieder zu seinen komödiantischen Wurzeln zurück, unterliegt bei den Lachern nur knapp dem Konkurrenten Sacha Baron Cohen (Ali G., Borat) und lässt schwache Schauspielerei ("Verliebt in eine Hexe") im Rückspiegel verschwinden.
 
Ricky Bobby ist kein Denker, Ricky Bobby ist ein Fahrer. Schon als Kind wollte er nur schnell sein. Der Vater taucht kurz im Leben auf, um direkt von der Polizei rausgeschmissen zu werden. Dann nutzt der Mann mit den zwei Vornamen eine einmalige Gelegenheit, um alle abzuhängen. Ricky Bobby ist ab jetzt Champion und immer noch ein herrlicher Idiot. Mit dem blonden Boxenluder, das sich im an den Hals wirft, gründet er eine asoziale White Trash-Familie.
 
Die Siegesserie ist dabei längst nicht so wichtig wie die albernen Werbeaufnahmen zwischendurch. Wenn Ricky Bobby beim Interview nicht weiß, was er mit seinen Händen vor der Kamera machen soll, ist das Comedy pur. Will Ferrell war von 1995 bis 2002 Mitglied der berühmten Comedy-Show "Saturday Night Live" und hier kann man in vielen "Nummern" noch mal sehen, warum. Aber auch sein Gegner, der schwule, französische, jazz-hörende Formel 1-Champion Jean Girard, wird vom Comedy-Adel gespielt: Wenn Sacha Baron Cohen (Ali G.) während des Rennens Opern-Musik hört, "Der Fremde" von Camus liest und Espresso trinkt, wenn er die französischen Errungenschaften Demokratie, Existenzialismus und "Menage a trois" lobt (die Amerikaner halten Missionars-Stellung dagegen), dann braucht man nicht mehr so lange auf Cohens eigenen Film "Borat" zu warten.
 
Komplettiert wird die Proleten-Parodie von einem hinter Sonnenbrille und Schnurrbart fast unkenntlichen John C. Reilly als Rickys Männerfreund. Regisseur Adam McKay, mit dem Ferrell schon den "Anchorman" verlachte, kriegt Comedy und Rennen gut unter einen Hut. Trotzdem schade, dass in der zweiten Hälfte wieder einmal der stereotype Sportfilm-Ablauf das Steuer übernimmt. Diesmal in der rasanten Variante des amerikanischen Nascar-Racing, einem "Sport", den fast nur Amerikaner verstehen und schätzen. In der tiefen Lebenskrise von Ricky Bobby kann man noch schnell ein Bier holen. Aber die Auferstehung mit dem wieder gefundenen Papa ist genial: Bobby lernt mit seiner Angst im Auto zu fahren - und einem Puma. Auch die Sache mit der Augenbinde darf nicht fehlen: Du fährst nicht mit deinen Augen, du fährst mit dem Herzen...

9.10.06

Das kleine Arschloch und der alte Sack


BRD 2006 (Das kleine Arschloch und der alte Sack) Regie: Michael Schaack, Drehbuch: Walter Moers 79 Min.
 
Autsch, das ging daneben. Wie man mit dem ganz speziellen Humor vom "Kleinen Arschloch" tödlich langweilen kann, ist schon ein Kunststück. Dem extrem schlaffen Nachfolger des Erfolgsfilms gelang es! "Das kleine Arschloch und der alte Sack!" ist nicht komisch.
 
Der alte Sack (Stimme: Helge Schneider) landet per Förderband in der Hölle und findet dort alles klasse. Entgegen der christlichen Propaganda sind die Temperaturen angenehm, die 30.000 nymphomanischen Krankenschwestern willig und die Körperfunktionen des Alten wieder halbwegs fit. Satan, Arschlochs Alter Ego, präsentiert nicht ohne Stolz Lebens- und Laster-Qualitäten. Derweil versucht das kleine Arschloch mit schrägen Methoden Großvater wieder zu beleben, zumindest zu klonen. Als Versuchskarnickel muss Mischling Peppi herhalten, bei diesen Foltern können die Amerikaner in Guantanamo sich noch was abkucken!
 
Die Comics "Das kleine Arschloch" von Walter Moers haben was. Nicht für jeden Geschmack, ganz klar. Aber die Dreistigkeit mit dem der neunmalkluge Zwerg völlig respektlos jedes Tabu brach, ließ den Atem stocken und - in besten Momenten - dann laut loslachen. Von alledem blieb nix im zweiten Film: Platte Zoten, müde Provokationen, lahme Handlung. Mit Helge Schneiders freien Jazz-Improvisationen, für die sich die Handlung öfter ganz zurückzieht, vergrault das Filmchen die letzten aus dem Zielpublikum.

5.10.06

The Wind That Shakes The Barley


Großbritannien, Frankreich, Irland 2006
 
Regie: Ken Loach
Drehbuch: Paul Laverty
Darsteller: Cillian Murphy, Liam Cunningham, Padraic Delaney, Gerard Kearney, William Ruane, Fergus Burke, Máirtín de Cógáin, Niall McCarthy, Siobhan Mc Sweeney
Länge: 124 Min.
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 28.12.2006
 
 
Der siebzigjährige Ken Loach analysiert in dem diesjährigen Cannes-Sieger "The Wind That Shakes The Barley" den irischen Befreiungskampf auf erschütternde wie packende Weise und zeigt, dass es bei all diesen blutigen Auseinandersetzungen keine "Guten" geben kann. Mit „The wind that shakes the barley“ schaut der Brite Ken Loach nach nebenan, analysiert und dramatisiert drastisch den Kampf der Iren gegen brutale britische Kolonialisten. Aber auch den Niedergang der Utopie einer sozialistischen irischen Republik lässt der alte Kämpfer an der filmischen Rotfront nicht aus.
 
Im Irland des Jahres 1920 beginnt es harmlos mit einem Hockey-Spiel der Männer auf dem Feld. Weil dabei mehr als eine Handvoll Männer versammelt sind, eine verbotene Veranstaltung unter dem britischen Regime. Und so endet das Spiel mit dem brutalen Todknüppeln des jungen Ire, der sich die Schikane und die Erniedrigungen der englischen Soldaten nicht mehr gefallen ließ, der sich weigerte, seinen irischen Namen englisch auszusprechen. Nach nur zehn Minuten will man nie wieder einen britischen Pfund in London oder sonst wo im British Empire ausgeben. Nach einer halben Stunde ist man bereit, alle Queen Mum- und Princess Diana-Tassen dieser Welt zu zerschmettern, so wirkungsvoll lässt Loach sein Publikum, die Unterdruckung, die Folter und die Exekutionen erleben!
 
Doch „The wind that shakes the barley“ (der Titel entstammt einem Gedicht von Robert Dywer Jones) ist kein verlogenes Hollywood-Märchen von Unterdrückung und Befreiungskampf. Mit dem jungen, engelsgesichtigen Mediziner Damien (Cillian Murphy) fühlt man auch, was es heißt, Menschen für die eine oder andere politische Direktive umzubringen, wie sehr die Seele daran verkrüppelt, wenn das große Ziel den Mitmenschen zur eliminierbaren Spielfigur macht. Nicht nur die frühe IRA und die Briten bringen sich und die Menschen dazwischen um. Später – als die Briten Irland (nicht Nord-Irland!) schon verlassen haben - geht das Morden zwischen den Fraktionen der Befreiungskämpfer weiter, klassisch angelegt im Kampf zwischen Damien und seinem älteren Bruder Teddy (Pádraic Delaney).    
 
So wie man Ken Loach aus vielen anderen Filmen wie "Land and Freedom", "My Name is Joe" oder "Carla's Song" kennt, nehmen auch diesmal das Engagement für die Unterdrückten, der liebvolle und auch genaue Blick mit. (Erneut förderte die Filmstiftung NRW einen Ken Loach-Film.) Historische Genauigkeit zeichnet "The Wind That Shakes The Barley", diesen zeitweise konstruiert wirkenden Loach aus, etwa darin, nicht die jungen britischen Soldaten als Bösewichte zu zeichnen, sondern die herrschende Schicht der Ausbeuter verantwortlich zu machen. So wäre es fast putzig, wenn es nicht so grausam wäre, zu sehen, wie Amateure des Guerilla-Kampfes es mit einer Armee aufnehmen, die seit Jahrhunderten in Ausbeutung und Unterdrückung von Völkern weltweit spezialisiert ist.
 
Ein großer, packender historischer Film mit Herz und Leidenschaft, der als Cannes-Sieger ein großes Publikum erreichen sollte.
 
Günter H. Jekubzik
 

News from House / News from Home


Amos Gitai gehört zu den wichtigsten kritischen Chronisten Israels und seiner Region. In fast allen seinen Filmen bezieht er durchaus unterschiedliche Positionen. Mal legt er in "Kadosh" (1999) die menschenverachtende Behandlung von Frauen bei extrem orthodoxen Juden bloß. Dann macht er 2000 in "Kippur" fast den Einsatz junger Leute zur Landesverteidigung im Kippurkrieg, an dem er selbst teilnahm, nachvollziehbar. Dazwischen verfolgt er dokumentarisch seit einem Vierteljahrhundert, seit seinem ersten internationalen Erfolg mit "Bait" (Haus) im Jahre 1980 und dann später in "Bait be Yerushalayim" (Ein Haus in Jerusalem, 1998), die Geschichte eines Hauses in West-Jerusalem, an dem sich das problematische Spannungsfeld zwischen Israelis und wortwörtlich "aus ihren eigenen vier Wänden" vertriebenen Palästinensern kristallisiert.
 
Webseite: www.mecfilm.de
 
Israel, Frankreich, Belgien 2006
Regie: Amos Gitai
Kamera: Haim Assias, Nurith Aviv, Vladimir Truchovski (1997), Emanuel Aldema (1980)
Länge: 96 Min. 35mm,
Arabisch, Hebräisch, Englisch, Französisch mit dt. Untertiteln
Verleih: Mec Film
Kinostart: 7.9.2006
 
 
FILMKRITIK:
 
1980 begann es mit einem Steinbruch. Damals drehte Gitai "Bait" (Haus) in Schwarzweiß auf 16mm-Film und erhielt prompt ein TV-Verbot des israelischen Fernsehens. Er wurde als "pro-palästinensisch" angefeindet und zog 1982 nach Paris. (Zusammen mit dem ein Jahr später entstandenen "Wadi" gehörte "Bait" zum Standard der Programmkinos.) Nun kann der exilierte Israeli in seinem eigenen filmischen Steinbruch Archäologie betreiben: Immer wieder und sehr passend montiert er Szenen aus den Vorgängerfilmen, konfrontiert heute die Beteiligten von damals damit, sucht sie auf sowie deren Kinder und Verwandte.
 
Einst gehörte das Haus Mitgliedern der großen Jerusalemer Dajani-Familie, bis es 1948 von ihnen auf der Flucht verlassen wurde. 1980 ließen es die israelischen Besitzer umbauen. Ein besonderer Hohn damals wie heute: Die Vertriebenen müssen als billige Arbeitskräfte für die Besatzer ihre enteigneten Häuser herrichten oder renovieren. Mohammad, der Steinmetz von der West Bank lebt noch, erzählt von der Situation in den palästinensischen Gebieten. Von den aus Wassermangel sterbenden Bäumen, vom Verfall des Bodens und des Landes. Dem alten Mann kommen die Tränen angesichts der Arbeitslosigkeit und seiner zig Enkel. Ein Verwandter von ihm baut jetzt an der Erweiterung. Im Spektrum der Geschichten rund um das "Haus" gibt es auch den zionistischen Bauleiter aus Süd-Afrika oder den Nachbarn, der die Shoah überlebte. In dieser überraschend ergiebigen Archäologie trifft Gitai weiter auf Claire, einer Jüdin aus der Türkei, mit ihrer faszinierenden Geschichte. Ihr Vater war im erstaunlich säkularen Istanbul einst der deutsche Uhrmacher für die Moscheen der Stadt. Noch so ein verschütteter Traum von Freiheit. Aber es gibt auch die progressive Familie Dajani. Sie haben sich mit den Verhältnissen ausgesöhnt, leben kosmopolitisch und sehen eine Zukunft im gleichberechtigten Zusammenleben zwischen Palästinensern und Israelis.
 
Die exzellente Struktur des Films lässt Persönliches und Politisches nahtlos ineinander fließen. Bemerkenswert ist dabei der Aspekt der Architektur - Gitai studierte selbst einst dieses Fach, sein Vater, Munio Weinraub Gitai, war Mitglied des Bauhaus. Amos Gitai ist derart "Chronist der menschlichen und ideologischen Architekturen des Israel-Palästina-Konfliktes". Im Film vergleicht er den Spielfilm mit der Architektur, die beide einem Bauplan, dem Drehbuch, folgen. Der Dokumentarfilm hingegen ist wie die Archäologie, die verschiedene Schichten sedimentierter Bedeutung zugänglich macht. Sein Spielfilm zu diesem Thema war "Free Zone" (2005), auf den in der letzten Szene mit den Tränen von Nathalie Portman in Jerusalem stimmungsvoll verwiesen wird.
 
Im Vergleich zum israelisch-italienischen Spielfilm "Private", bei der das von Israelis besetzte palästinensische Haus als Mikrokosmos und Metapher nur eine Momentaufnahme liefert, ist "News from House" vielschichtiger. Man könnte diese Langzeitaufnahme mit den „Kindern von Golzow“ vergleichen, doch Gitais Projekt war nie so geplant. Es ist gerade die Tragik dieser Region, dass sie wie das Haus noch immer im Umbruch, im Umbau begriffen ist.
 
Günter H. Jekubzik
 
(Im Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln, erschien die Publikation "Amos Gitai: News from Home" anlässlich eines Projektes der Internationalen Filmfestspiele Berlin, Forum expanded und KW Institute for Contemporary Arts.)

4.10.06

Wie Luft zum Atmen


BRD 2005
Regie und Buch: Ruth Olshan
Darsteller: Tutarchela Frauenchor, Patara Georgika Kinder Tanz- und Gesangsensemble, Lashari Männerchor, The Shin, Zaza Koriuteli, Pilpani Chor, Pirzhelani Chor, Familie Lejava, Sergo Kamalov, Mukuj Kazarian, Didi Georgika Männerchor, Aleko Khizanishvili, Khvicha Khvtisiashvili, Aleksandre Matreveli, Gogite Maglakelidze
Länge: 90 Min. OmU
Verleih: Salzgeber
Website: http://www.salzgeber.de/
Kinostart: 19.10.2006
 
Die Weltnachrichten vermelden Georgien als Krisenzone mit korrupten Politikern, Bürgerkrieg und russischen Territorial-Tricksereien. Die schöne Dokumentation "Wie Luft zum Atmen" kehrt diesen Klischees einer oberflächlichen Medienwelt den Rücken zu und lässt Menschen aus Georgien zu Wort kommen. Genauer gesagt: Er lässt sie singen, denn trotz oder wegen aller Fährnisse brauchen Georgier Musik "wie Luft zum Atmen".
 
Es ist ein kleines Land zwischen Asien und Europa, im Kaukasus, am Schwarzen Meer. Von hier kam der "große Georgier" Stalin und der ehemalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnaze. Schätzungsweise leben über 50% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Und sonst? Sonst gibt es hier schon in der Schule 5-6 Stunden Musik pro Woche, unzählige Chöre und Orchester.
 
Am Anfang stöhnt es im Off verkatert von der letzten durchgefeierten Nacht. Dann bricht der Männerchor auf, um überall im Land Spuren einer Jahrhunderte alten, oralen überlieferten Sangestradition zu erlauschen und in die eigene Musik einzubinden. Um neue Lieder zu erfinden, sei das Wesen der Musik viel zu kompliziert. Dazwischen erleben wir, wie Kinder, die eigentlich für Popmusik schwärmen, in einer Tanzschule ein eigenes kulturell-nationales Selbstwertgefühl entdecken. Und am Rande verlassener Industrietrümmer treffen sich junge Frauen zu einer Chorgruppe, die mit schillernden Klängen und packenden Rhythmen begeistern.
 
Die Georgische Volksmusik wurde von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Sie zeichnet sich durch eine polyphone Stimmführung des Chorgesangs und die rhythmische Komplexität der Lieder aus. Die Harmonik basiert auf einem seit dem Mittelalter mündlich überlieferten, eigenen Tonlagensystem, das anders und mehr als 300 Jahre früher als in Europa notiert wurde. Die Lieder enthalten Texte, die vermutlich aus altsumerischen Sprachen entwickelt wurden. Verschiedene Regionen Georgiens haben jeweils besondere Spielweisen und Tanztraditionen herausgebildet.
 
Die Reise der Musiker, die kleinen Porträts alter und junger Menschen gibt eine Ahnung von der landesweiten Sangesbegeisterung. Ein besonderes Augenmerk gibt Ruth Olshan ihren Frauen: "Ohne Musik", so erzählt eine junge Frau, "würde ich durchdrehen". Nur am Rande taucht die wirtschaftlich dramatische Situation auf. Wenn etwa diese Frau erzählt, nur bei ihren Sängerinnen kann sie sich von den Jobs, dem Mann, dem Leben erholen. Straßenszenen im Hintergrund lassen einen dramatischen Verfall selbst in der Hauptstadt Tiflis erahnen. Doch hauptsächlich geht es um die Lieder der Georgier. Das kann man doch nicht machen, man kann doch die sozioökonomischen Fakten nicht ausblenden. Doch, man kann und gibt der Filmlandschaft so ein Gegengewicht zu den arg simplen Tagesschau-Klischees der Welt. Mit Anklängen an "Rhythm is it" und andere populäre Musikdokus könnte "Wie Luft zum Atmen" ein "Hit" für musikbegeisterte Weltreisende im Arthaus-Kino werden.

Absolut Wilson

Absolut Wilson
 
USA, Deutschland2006
Regie: Katharina Otto-Bernstein
Darsteller: Robert Wilson, David Byrne, Susan Sontag, Philipp Glass, Tom Waits, Jessye Norman, Charles Fabius, Suzanne Wilson
Länge: 109 Min.
Verleih: Kinowelt
Kinostart: 12.10.2006
 
Seine Bühnenstücke gehören zu den faszinierendsten Kunstwerken unserer Zeit. Dass Robert Wilson ein besonderer Mensch sein muss, konnte man daher vermuten. Das wunderbare Porträt von Katharina Otto-Bernstein ist in seiner Mischung aus intimen Momenten und großer Werkschau trotzdem ein Glücksfall.
 
Bei Theaterinszenierungen von denen "Black Rider", "Einstein on the Beach" oder "The Civil Wars" vielleicht die bekanntesten sind, arbeitete Robert Wilson mit Luis Aragon, Susan Sonntag, Heiner Müller, Tom Waits, William S. Boroughs, David Byrne, Isabelle Hubert und Philip Glass zusammen. Doch zu zitieren, dass Wilson ein Großer, ein Genialer, ein Visionär und mutiger Träumer ist, reicht dem Film "Absolut Wilson" nicht aus. Er geht zurück in die Kindheiten. Die von Robert Wilson, der am 4. Oktober 1941 in Waco, Texas geboren wurde. Der als schwuler Künstler immer um Anerkennung seines wohlhabenden konservativen Vaters rang. Dessen kreative Anfänge in den USA verkannt wurden. "Absolut Wilson" erzählt aber auch von zwei Kindern, die Wilsons Kunst nachhaltig geprägt haben: Da ist der schwarze, taubstumme Raymond, den er auf der Strasse fand und zur Hauptfigur machte. Und der geistig behinderte Christian, mit dem die Arbeit zu neuen Einsichten in die Inszenierungskunst führte. Katharina Otto-Bernstein zeigt ebenso alte Aufnahmen früher Tanzexperimente und von ersten Theaterstücken wie die Vorwürfe, Wilson hätte die Kinder ausgebeutet.
 
"Genius is childhood recovered at will" heißt es einmal, "Genie ist das bewusste Entdecken der Kindheit". Und die frühen Bezüge helfen immer wieder beim Verständnis des späteren Werkes. Nachdem "Einstein on the Beach" 1976 beim Festival von Avignon ein riesiger Erfolg wurde, war Wilson anerkannt. In Europa wohlgemerkt, nicht in den USA, selbst heute noch nicht. An der Herkulesaufgabe "The Civil Wars", einem gigantischen Theaterprojekt mit Produktionen aus 5 Nationen, geplant für die "Cultural Olympics" Los Angeles 1984, scheiterte er organisatorisch. Der tiefen Verletzung darüber stehen allerdings die traumhaften Fragmente - unter anderem in Köln aufgeführt - entgegen. Große, farbige Szenen mit simultanen Handlungen, Projektionen, Rhythmen sind typisch für Wilsons Aufführungen. Dazu Projektionen. Bewegungen wirken mechanisiert, zum gewaltigen Sog dieser Sinneseindrücke passt die serielle Musik von Philip Glass. Auch "The Black Rider" mit einem Libretto von William S. Burroughs und der Musik von Wilson regelmäßigem Kollaborateur Tom Waits erlebte nach der Uraufführung 1990 große Erfolge in Deutschland.
 
Die freundschaftliche Beziehung, das vertraute Gespräch von Regisseurin und "Objekt" des Films heben "Absolut Wilson" aus der Masse ähnlicher Künstler-Biographien hervor. Die Dokumentation verdankt ihre Existenz einer zufälligen Begegnung von Wilson und Otto-Bernstein bei einer Party. Während der langen Dreharbeiten bekam die Regisseurin zwei Kinder, bei der ersten Geburt war Wilson dabei. Das zeigt, wie vertraut die beiden sind. So dürfen wir nicht nur kleine Ausschnitte seiner Kunst, sondern auch intime Momente, Verletzungen und Träume dieses faszinierenden Menschen miterleben. Ein Kunst-Genuß auch für Kinogänger, die noch nie von Robert Wilson gehört haben.

Wer fr ü her stirbt, ist l ä nger tot


BRD 2006 (Wer früher stirbt, ist länger tot) Regie: Marcus H. Rosenmüller mit Markus Krojer, Fritz Karl, Jule Ronstedt, Jürgen Tonkel, Saskia Vester 104 Min.
 
Als Hit aus Bayern werden uns diese Schelmenstreiche vor einem leicht ernsten Hintergrund verkauft. Dabei bestätigt "Wer früher stirbt, ist länger tot" nur Klischees von einfältigen Bergbewohnern und ist simpel komisch.
 
Der elfjährige Sebastian (Markus Krojer) ist ein Schlingel, wie er in altmodischen Kinderbüchern steht. Als ihm sein Bruder erzählt, die Mutter sei bei Sebastians Geburt gestorben, befürchtet der Junge das Fegefeuer. Bestärkt wird die Angst durch surreale Albträume mit der Laientheatertruppe, die in Vaters Kneipe unüberhörbar probt. Von nun an versucht der Lausbub, mit guten Taten die Sünden abzuarbeiten und den Vater unter die Haube zu bringen. Doch alles geht komödiantisch schief und auch der Hinweis eines Radiosprechers, durch die Musik würde man unsterblich, hilft nicht sofort.
 
Derart simpel läuft der Film tatsächlich ab, die Streiche könnten alle aus Filmen der Sechziger stammen. Selten peppen ungewöhnliche Aufnahmen den langweiligen TV-Stil auf. Der Dialekt ohne Untertitel schreckt zusätzlich ab.

Lapislazuli


Österreich, Luxemburg, BRD 2006 (Lapislazuli) Regie: Wolfgang Murnberger mit Clarence John Ryan, Julia Krombach, Paula Nocker, Lena Stolze, Hans-Werner Meyer, Christoph Waltz, Gregor Bloéb, Vadim Glowna 106 Min. FSK: o.A.
 
Der glühende Meteorit bringt einen im Gletscher überwinternden Neandertaler-Jungen wieder ins Leben. Soweit die haarsträubende Einleitung zur im Weiteren dann durchaus gelungenen Jugendgeschichte "Lapislazuli". Im Gebirge trifft ausgerechnet die von ihrer Patchwork-Familie fliehende, 13-jährige Sophie auf den Jungen. Sie haben keine gemeinsame Sprache, trotzdem ereignet sich holterdipolter eine Art Verständigung. Während sie den Bahnhof sucht, meint er mit ähnlichen Klängen die Höhle, in der seine Ahnen ins Jenseits übergingen. Die Universalität des Halb-Waise-Sein eint die Kinder trotz einer um einige zehntausend Jahre verrückten Herkunft. Sophia lernt bei diesem Abenteuer mit viel frischer Bergluft, den Tod nicht als Ende, sondern als Teil einer Reise zu begreifen.
 
Das Familien-Abenteuer wurde vom Routinier Murnberger angenehm rasch erzählt, die Erzählstränge sind flüssig verbunden. Die didaktisch wertvolle Lerneinheit "Neandertaler" drängt sich nicht auf. Trotz einiger holpernder Momente bleibt die psychologisch stimmige Geschichte packend. Vadim Glowna bringt als Naturkauz etwas Magie hinein, ein depperter Wissenschaftler sorgt für Klamauk.

Der tierisch verr ü ckte Bauernhof


USA 2006 (The Barnyard) Regie: Steve Oedekerk 90 Min. FSK: o.A
 
Da hat endlich mal jemand den Tier-Zeichentrick bei den Hörnern gepackt, hat dem frechen Humor die Sporen gegeben und ist im Schweingalopp über die üblichen Lieblichkeiten hinweg gerast: "Der tierisch verrückte Bauernhof" ist nicht der nette Film für die ganze Familie sondern ein herrlicher Spaß für den erwachseneren Humor.
 
"Party Animals" nennen die Anglophonen eigentlich Leute, die viel und ausgiebig feiern. Diese Party Animals sind die üblichen Farmtiere, die nächtens im Stall die Sau raus lassen. Während Stier Ben mit seiner morgendlichen Ansprache und der nächtlichen Wache halbwegs für Ordnung sorgt, beweist sich sein Sohn Otis beim Eissurfen, Golf spielen und Baden als echte Spaßkanone. Zwar ist das Kaufen von menschlichen Konsumartikeln verboten, doch Otis hat trotzdem ein Handy mit nervigen Klingeltönen. Als Ben im Kampf gegen hungrige Hyänen stirbt, wird Otis zum neuen Vorarbeiter gewählt, aber er kann nur vortanzen. Und jetzt tanzen die Viecher erst richtig auf den Tischen.
 
So weit die halbwegs konventionelle Story. Der Knaller dabei ist die Ausführung: Die Farm-Besetzung ist zwar vermenschlicht, aber keineswegs verniedlicht. Eine Kritik erwähnte "Beavis & Butt-Head" und die Richtung des frechen Humors wird damit vorgeben. Vor allem die Zeichnungen sind angenehm unverklemmt, so richtig lebenslustig wie es sich für Party Animals gehört. Da wird bei Tanzen kräftig mit dem Kuhhintern gewackelt und auch die Stiere tragen seltsamerweise Euter vor sich her. Ja, richtig: Vor sich her, da sie auf ihren Hinterbeinen laufen. Als dann der Bauer - als Vegan-Vegetarier Freund der Tiere - mitten in eine Versammlung sprechender Tiere auf zwei Beinen platzt, ist die schlagkräftige Zwischenlösung ein Brüller.
 
Ein weiterer Höhepunkt folgt direkt, als sich die Kühe unter Anführung Otis' Milch saufend mit einem Auto davonstehlen. Sie werden sich an den Jungs zu rächen, die nächtens immer schlafende Kühe umkippen. Während die Verfolgungsjagd durch Maisfelder noch ein überdrehtes Spaßelement darstellt, wird es im Finale dramatisch, als die Hyänen wiederkehren und Otis ihnen scheinbar nicht gewachsen ist.
 
Während Otis erstaunlich einfach gezeichnet ist, gibt es ansonsten viel zu kucken. Vor allen die keifende Nachbarin ist eine Karikatur-Perle. Statt des üblichen Gesülzes von Phil Collins oder Elton John hört man richtig gute Musikstücke, einen Johnny Cash bei der einsamen Wache des Vaters Ben oder bei seinem Begräbnis Peter Gabriels "Father, Son" über dessen eigenen Vater. Da ist "Der tierisch verrückte Bauernhof" auch mal richtig rührend. Dazu gibt es ziemlich erwachsene Show-Einlagen, wie überhaupt der Film ein rechter Anti-Disney ist: Nicht für jedes Alter, ausgefallen, zügellos, wild in Zeichnung und Humor. Allerdings auch nicht ganz Anti-Disney, denn die Lerneinheit vom jungen Stier, der sich erst die Hörner abstoßen muss und dann lernt, Verantwortung zu übernehmen, kommt uns doch bekannt vor. Aber selbst das kitschige Familien-Finale ist in dieser unzahmen Form bestens erträglich.
 

2.10.06

The Black Dahlia


USA 2006 (The Black Dahlia) Regie: Brian De Palma mit Josh Hartnett, Scarlett Johansson, Aaron Eckhart 121 Min. FSK: ab 16
 
James Ellroy schrieb einige der besten Krimis. Brian De Palma ist ein Thriller-Spezialist, der sich längst von seinem Vorbild Hitchcock gelöst hat. Da hätte eigentlich mehr rauskommen können als eine nicht ganz typische, aber auch nicht sensationell andere Detektiv-Geschichte.
 
Die Verfilmung des 1987 als Teil eines Krimi-Quartetts erschienenen James Ellroy-Romans wurde von einem Verbrechen aus den 40er Jahren inspiriert. Ein Starlet vom Lande namens Black Dahlia wird in Los Angeles grausam verstümmelt aufgefunden. Mit der Aufklärung sind zwei Polizisten beauftragt, die immer tiefer in einen Sumpf aus Prostitution, Pornographie und Korruption geraten. Dabei ist ihre eigene Geschichte kompliziert genug: Bucky Bleichert (Josh Hartnett) und Lee Blanchard (Aaron Eckhart) standen sich einst bei einem Boxkampf gegenüber, in dem Bleichert für die Wettkasse verliert. Als Dank des ganzen Polizei-Dezernats, das dabei gut verdient hat, werden die beiden zu medienträchtigen Sunny-Boys des Morddezernats. Während Lee Ausstrahlung, Geld, Beziehungen und eine attraktive Freundin herumzeigt, kümmert sich der arme Bucky um seinen altersdementen Vater. Und wirft Lees Freundin Kay Lake (Scarlett Johansson) heimlich sehnsüchtige Blicke zu. Aber Bucky bleibt in jeder Hinsicht anständig, während Lee bei der Jagd auf einen Mörder langsam den Verstand verliert...
 
Es ist eine verdorbene Welt, die James Ellroy schildert. Hier und auch in dem Film-Erfolg "L.A. Confidential". Verdorben und undurchsichtig. Lee jagt einen Mörder und irgendwie hat die Vergangenheit von Kay damit zu tun. Bucky will nur die Straßen sicherer machen, geht aber mit der mysteriösen Madeleine Linscott (Hilary Swank) ins Bett, die viel mehr weiß als sie verrät. "Gut" und "Böse" sind hier nur Nuancen im Grau. Faszinierend werden diese Schattierungen des Abgründigen im gleißenden Sonnenschein Kaliforniens, im glänzenden Reichtum, der in Hollywood auf dem Schein von Immobilienbetrug und Filmillusionen gründet.
 
Brian De Palma, der in "The Black Dahlia" seine Inszenierlust eher zurückhaltend zeigt, stellt die Kunststückchen im Dienst einer verwickelten Detektiv-Geschichte. So machen auch die harten Fakten mehr Eindruck als die Umsetzung. Klar wenn die makaberste Variante von Körperkunst, seit in "Miami Vice" aus einem Gangster ein Pollock-Bild wurde, gezeigt werden muss. Dabei sind die Bilder von Vilmos Zsigmond ("Fegefeuer der Eitelkeiten") exzellent, das hinterhältige Spiel ist mit Josh Hartnett, Aaron Eckhart, Scarlett Johansson, Hilary Swank und Mia Kirshner gut besetzt. Trotzdem reißt der Film nicht mit. Nicht über seine Figuren, nicht durch die Schauwerte. Er bleibt ein kühler, dunkler Kristall mit schwer ergründbaren Tiefen.

1.10.06

Deutschland - Ein Sommerm ä rchen


Die große Luftblase namens "Weltmeisterschaft der Herzen" (in der Disziplin Fußball) gibt ihren letzten Pupser ab: Ganz eilig nach dem Fußball-Großereignis "Weltmeisterschaft der Herzen" kommen die Innenansichten von Sönke Wortmann ins Kino. Der Ex-Fußballer und Erfolgsregisseur ("Das Wunder von Bern") begleitete die Balltreter des Deutschen Fußballbundes auf Schritt und Schienbeintritt. Herausgekommen ist das unbedarfte Sommervideo des Klassenausflugs großer Jungs.
 
Lange Gesichter. Trauerstimmung. Sönke zeigt das Ende zuerst. Soviel sei verraten, die Aktiven des Deutschen Fußballbundes wurden trotz hunderter andersartiger Versprechen nicht Weltmeister. Doch bald wechselt das "Sommermärchen" zur leichten Tonart, die es trotz Niederlage nicht mehr verlassen wird. Ungelenke Verrenkungen bei ungewohnter Gymnastik, das macht Spaß und kann unbeschwert heiter werden. Das Trainingslager im Süden, der Einzug ins Berliner Hotel. Zwischendurch dürfen die Klassenclowns Poldi und Schweini selber mal die Kamera halten.
 
Und dann diese eigenartige Perspektive! Einige mögen mit diesen Medien-Menschen namens Ballack, Klinsmann, Kahn den ganzen Sommer verbracht haben. Ihrer Omnipräsenz konnte man nur schwer entkommen. Doch der Blickwinkel Wortmanns überrascht, irritiert gar. Man ist den WM-Dritten unverstellt nah, sitzt mit in der Kabine, auf den Betten im Hotelzimmer und auf der Ersatzbank. So nahe dran war seit Leni Riefenstahl niemand mehr an einem sportlichen Großereignis. Dabei erfreut das wache Auge für kleine, originelle Momente. Kein Wunder, denn auch Frank Griebe ("Das Parfum", "Herr Lehmann", "Lola rennt"), einer der besten Kameraleute Deutschlands, drehte mit.
 
Sönke Wortmann hatte schon zuvor Großes geleistet im Genre Fußballfilm. Neben einem Werbefilm für die Aachen-Münchener Versicherung mit Mario Adorf gelang ihm auch "Das Wunder von Bern", ein Sportfilm mit Historie, Leidenschaft und fast amerikanischem Finale. Damals, 1954, waren die DFB-Kicker übrigens so gut, dass sie tatsächlich Weltmeister wurden.
 
Wortmanns Film ist selbstverständlich nett zu seinen Jungs. Nur zwei Figuren bekommen etwas ab: Poldi - klar. Irgendwann macht das kölsche IQ-Wunder den Mund auf und schon ist die Ballherrlichkeit vorbei. Besonders die Bemerkung, dass man bei der langen Warterei vor dem Spiel so viel nachdenken müsse, sorgt für Lacher. Und Klinsi. Ja, der schwäbische Oberguru steht mit seinen immergleichen Aufpeitsch-Phrasen für die Hohlheit einer vor allem behaupteten Qualität. Erstaunlich, wie schal die ganze Motivations-Schiene, an die so viele glaubten, schon nach kurzer Zeit wirkt. Wie wohltuend kompetent im Gegensatz zum Guru Klinsi wirkt da "Yogi" Löw: Hier redet jemand Fußball mit purem (Sach-) Verstand. Der Film zeigt übrigens erfreulich wenig Fußball. Hauptsächlich Chancen und Tore werden schnell abgehandelt, dann gibt es wieder die wichtigeren Reaktionen von Spieler und Team.
 
Das früh und ungesehen schon hochgejubelte "Sommermärchen" ist nicht analytisch, beobachtet allein die Oberfläche. Nur kurz bleibt der Blick nach einer dieser gebrüllten Kampfreden auf dem Gesicht Klinsmanns. Die Mundwinkel zucken zwischen Lächeln und Zweifel. Glaubt er selbst an den Endspiel-Sieg? Doch so Hintergründiges, Doppelbödiges bleibt Ausnahme. "Deutschland - Ein Sommermärchen" ist keine großartige Dokumentation. Während Wortmann mit kleinen Handkameras beweglich mit dabei war, drehte etwa Pepe Danquart seine großartige Tour de France-Dokumentation "Höllentour" mit Kino-Aufwand und -Qualität. Großes Kino im Vergleich zum Familien-Video "Sommermärchen".
 
Doch das Ergebnis ist trotzdem eindrucksvoll - auch ohne den pathetisch triumphalen Aufbau bei anderer Sportfilmen: Nur langsam wächst die Begeisterung der patriotisierten Bevölkerungsteile, dann machen aber Polizisten, das Technische Hilfswerk, Soldaten und ganze Volksaufmarschplätze die große Welle mit. Hier, im freundlichen Blick auf die Massen, erweist sich die Innenperspektive Wortmanns noch einmal als äußerst reizvoll.
 
Die große Entdeckung des Films ist nicht der Einkaufszettel, den man Jens Lehmann im unpassendsten Moment, kurz vor dem Elfmeterschießen, zusteckte. Es ist die schockierende Erkenntnis, dass die wahre Weltmeisterschaft - also nicht die der Herzen - vergeigt wurde, weil in der deutschen Kabine dauernd Xavier Naidoo lief. Das Gejammere spült auch die härtesten Jungs weich. Haben die Italiener vielleicht Eros Ramazotti laufen lassen?