29.8.06

Thumbsucker


USA 2005
Regie: Mike Mills
Buch: Mike Mills
Darsteller: Lou Taylor Pucci, Tilda Swinton, Vincent D'Onofrio, Keanu Reeves, Benjamin Bratt, Kelli Garner, Vince Vaughn
Länge: 96 Min.
Verleih: Stardust
Kinostart: 5. Oktober 2006
 
Genial. Sensibel. Originell. Stimmig. Klug. Man weiß bei "Thumbsucker" gar nicht, wo mit dem Schwärmen anfangen und wo aufhören. "Der neue Film mit Keanu Reeves" wäre eine schöne Mogelzeile, denn der Star gibt eine witzige Nebenrolle.
 
Justin Cobb (Lou Pucci) ist Daumenlutscher, was vor allem den Vater (Vincent D'Onofrio) des 17-Jährigen wütend macht. Nicht nur wegen der hohen Rechnungen vom Zahnarzt Perry (Keanu Reeves). Doch gerade dieser sorgt für eine Wende in Justins Leben - unfreiwillig: Als esoterisch angehauchter Hobby-Psychologe hypnotisiert er den Jungen und prägt ihm ein, dass sein Daumen ab jetzt nach Echinacea schmeckt. Dadurch seines Halts und seelischen Ausgleichs beraubt, gerät der "Geheilte" völlig aus der Bahn. Als der wütende Justin Perry bei einem Radrennen zum Sturz bringt, schlägt eine völlig ignorante Lehrerin die Allheildroge Retalin vor. Justin hätte ja all die vagen Anzeichen für einen Konzentrationsmangel. Verzweifelt von seiner Orientierungslosigkeit - im Volksmund auch Pubertät genannt - stimmt der Junge überraschend zu und durchlebt eine radikale Wende. Als Klassenbester und Krawattenträger gewinnt er reihenweise Debatier-Wettbewerbe seiner Schule. Die Eltern erfüllt eine Mischung aus Stolz und sehr skeptischer Verwunderung. Die kurzzeitige Freundin, meint, er sei ein Monster. Irgendwann geht Perry auf, dass er nur durch eine Droge gepuscht wird, und er macht den fliegenden Wechsel zum Kiffen.
 
Der Kino-Erstling von Mike Mills, der bisher Videoclips für Moby und Air realisierte, ist eine kleine Sensation des amerikanischen Independent-Kinos. Ihn als Nachfolger von "Donnie Darko" hochzujubeln, wäre übertrieben. Doch "Thumbsucker" gehört zu den wenigen intelligenten Filmen über Jugendliche aus den USA, reiht sich ein bei Wes Andersons "Rushmore" und Todd Solondz "Willkommen im Puppenhaus". Ab und zu weht ein Hauch von Sofia Coppolas "Virgin Suicide" durch die Bilder. Gute Songs nehmen die heiter-melancholische Stimmung auf. In Berlin erhielt der 19-jährige Lou Taylor Pucci für seine Rolle als orientierungsloser Jugendlicher den Silbernen Bär für den besten Darsteller.
 
Vor allem überzeugt Autor Mike Mills mit seinen Figuren und ihren stimmigen Beziehungen untereinander. Man entdeckt und versteht sie allmählich, und wenn man meint, sie zu kennen, überraschen sie einen doch noch einmal. Vor allem Perry Mutter (Tilda Swinton) hat so etwas wie eine zweite Hauptrolle. Die Pflegerin schwärmt einem Soap-Star hinterher, der ausgerechnet in ihrer Reha-Klinik landet. Zweifel und Eifersucht entzweien Mutter und Sohn, die eigentlich auf der gleichen sensiblen Wellenlänge sind. Aber auch hier gibt es Klärung, denn jeder hat in "Thumbsucker" irgendwann einmal den großen Durchblick, "die" Erkenntnis - nur leider meist nicht über das eigene Leben. Oder hat der alberne Zahnarzt Perry das letzte Wort? "Das Geheimnis ist, dass dein Leben ohne Antworten funktioniert - vielleicht."
 
So ist "Thumbsucker" vor allem ein Film von und mit Tilda Swinton, die mit dem Schwangerschafts-Drama "Stephanie Daley" (2006) erneut als Produzentin einem Independent-Film das Qualitätssiegel verleiht. Nicht nur wer sich an ihre grandiosen Auftritte in "Caravaggio", "Edward II" oder "Orlando" erinnert wird sich "Thumbsucker" begeistert ansehen. Auch die Kinder dieser Kinogeneration können bedenkenlos mitkommen.
 
Günter H. Jekubzik

28.8.06

Wie sehr liebst du mich?


Frankreich 2005 (Combien tu m'aimes?) Regie: Bertrand Blier mit Monica Bellucci, Bernard Campan, Gérard Depardieu 94 Min. FSK: ab 12
 
"Ich bin dazu geschaffen, geliebt zu werden!" Gibt sich da Monica Bellucci einer Dekonstruktion ihres Images hin? Nicht mit Bertrand Blier als Regisseur - der sorgt mit Sicherheit dafür, dass auch wirklich jedes angestaubte Frauenklischee schön ausgeleuchtet wird. Von der heiligen Hure bis zur puren Lust.
 
Der kahlköpfige, griesgrämige Francois (Bernard Campan) setzt sich im Puff neben die dralle Daniela (Monica Bellucci) und bietet ihr 100.000 im Monat an. Wofür, sagt er nicht. Nur, dass er im Lotto gewonnen hätte. Daniela geht mit ihm nach Hause und ist fortan mit naiv lieber Haltung seine Frau. Für ein paar Tage, dann sitzt sie wieder in der Auslage, denn: "Ich mach diesen Beruf aus Freude!" Und es gibt da noch ihren fiesen Zuhälter (Gérard Depardieu), auch irgendwie ihr Mann. Der gibt Daniela aber gerne ihre Freiheit zurück, im Austausch für den Lottogewinn...
 
Schon bei letztem Film "Côtelletes" wusste man nie, woran man war. Provokante Satire? Charmanter Humor? Anzüglicher Altherren-Witz? Bertrand Blier, der seit den Sechzigern regelmäßig alle paar Jahre einen Film abliefert, ist immerhin schon 67 Jahre alt. "Wie sehr liebst du mich?" wird nicht unbedingt erörtert. Dafür eine immer lustvolle Frau, die nicht treu sein kann, die von allen vergöttert wird, die einziger Sinn des kümmerlichen männlichen Lebens ist. Selbst Billy Wilders "Irma la Douce" ist dagegen ein feministischer Kampffilm. Aber vor allem ein Film mit Menschen, nicht mit lüsternen Klischees. Dieser Blier ist ein in Bild und Ton heftigst übertriebener, dreckiger Kneipenwitz, dessen Niedrigkeit nicht so auffällt, weil die Bilder und die Poster-Frau sehr edel gestylt sind. Der Franzose versuchte sich einst mit "Abendanzug" an der anzüglichen "menage a trois. Damals war Depardieu auch schon dabei.

Little Man

USA 2006 (Little Man) Regie: Keenen Ivory Wayans mit Marlon Wayans, Shawn Wayans, Kerry Washington FSK: ab 12
 
Ein kleiner Film. Klein im Sinne von kleingeistig, niedrigem Humor und (erb)ärmlichen Inhalten. Nach den "Scary Movie"-Filmen und "White Chicks" haben die Wayans-Brüder einen wirklich beängstigendes Filmchen hingelegt, ein scary movie ...
 
Der Liliputaner Calvin kommt aus dem Knast und raubt direkt mit seinem depperten Freund einen riesigen Diamanten. Bei der Flucht vor der eigenen Dämlichkeit und der Polizei (dümmer als die Polizei erlaubt - haha), versteckt Calvin den Klunker in der Handtasche einer Passantin. Diese Vanessa (Kerry Washington) und ihr Verlobter Daryll (Shawn Wayans) bekommen vom Drehbuch einen Kinderwunsch und Calvin als deformiertes Baby untergeschoben, ohne was zu merken. Was ist bloß aus dem guten, alten Handtaschenraub geworden?
 
Jetzt geht es richtig los mit dem Spaß und bei der Größe des Hauptdarstellers landet jeder Scherz sicher und schmerzlich unter der Gürtellinie. Unglaublich, was für krude Ideen die Wayans-Brüder öffentlich machen. Der kleine Lüstling interessiert sich vor allem für Brüste von Mamis Freundinnen, aus einem Buserl wird ein schmatzender Zungenkuss. Bad Taste, zu Deutsch: Schlechter Geschmack, ist Markenzeichen derartiger infantiler bis pubertärer Filme.
 
Als bester Gag wird die holperige technische Umsetzung gefeiert: Digital wurden die dummen Grimassen vom Kopf des "Hauptdarstellers" Marlon Wayans auf den Körper eines Kindes gesetzt. Das sieht auch noch furchtbar aus und man wünscht sich die ganze digitale Revolution zurückgedreht. Schon bei den "White Chicks" mit furchtbar auf Paris Hilton geschminkten schwarzen (!) Wayans-Brüdern fragte man sich, ob die sich ihren Mist nie selber anschauen. In der sonstigen Ausführung erkennt man ein routiniertes Team und einen mäßigen Komiker. Jerry Lewis hat das Kleinkind tausend Mal besser gespielt. Zuletzt wird "Little Man" dann auch noch sentimental - das ist die größte Schweinerei in dieser filmischen Unverschämtheit.

Bandidas


USA, Frankreich 2006 (Bandidas) Regie: Espen Sandberg, Joachim Roenning mit Salma Hayek, Penélope Cruz, Steve Zahn 93 Min. FSK: ab 6
 
Fräulein Zorro und Robinchen Hood
 
Viva Mexico! Irgendwann ruft es Salma Hayeks Cowgirl Sara krampfhaft begeistert aus. Ein Scherz? Oder ein peinlicher Versuch des Hollywood-Stars, sich seiner Latina-Wurzeln zu versichern? Egal, ernst nehmen darf man diese formelhafte und komödiantische Reiter- und Räuberei nicht. Aber man muss auch ein paar Geschichten aus Gala und Co klauen, denn an sich geben die "Bandidas" nicht genug her.
 
Die Banken verdienen sich eine goldene Nase und schmeißen die kleinen Leute raus. Nicht aus ihren Job, das kommt später, im Wilden Spätkapitalismus. Im Wilden Westen wurden die armen Farmer brutal von ihrem kargen Land vertrieben, wenn man wieder eine Eisenbahntrasse quer durch Amerika trieb. Kennen wir aus "Spiel mir das Lied vom Tod" und der Hälfte der anderen Western. Diesmal trifft es auch die Väter von Sara (Salma Hayek) und Maria (Penélope Cruz), was sie im folgenden Kampf gegen das Kapital eint. Gemeinsam rauben sie Banken aus. Schön dämlich und ungeschickt, wie Frauen im Wilden Westen anscheinend sind. Bis sie Nachhilfe-Unterricht von einem Ausbilder in Sachen Bankraub (Sam Shepard) erhalten. Jetzt brauchen sie sich nur noch kussecht den Kriminologen Quentin (Steve Zahn) aus New York zu angeln, um ein As gegen den mörderischen Schurken Jackson (Dwight Yoakam) im Korsett zu haben.
 
Nett gegensätzlich werden die unterschiedliche Reit- und Lebensstile, die gegensätzlichen Attraktionen für diesen weiblichen Buddy-Film vorgestellt: Die raue, bodenständige Maria verliert beim TicTacToe gegen ihr Pferd und ist sonst nur ein wenig verrückt. Sehr süß verrückt soll sie im Sinne des Films wirken. Sara, die Gebildete aus besserem Hause, kriegt bei den Banküberfällen immer Schluckauf, kann dafür aber bis zehn zählen. Genug Material für einen Zicken-Streit zwischen Fräulein Zorro und Robinchen Hood.
 
Nach einem flotten Start vermisst man genau das, womit sich Erfolgsproduzent Luc Besson ("Taxi") gerade so hervorgetan hat: Die alten Genre völlig respektlos und in Hochgeschwindigkeit überdrehen. Bei den "Bandidas" ist nie was wirklich dramatisch, oft albern und lässt vor allem die beiden Hispano-Ladys gut aussehen. Kein Neo-Western, auf keinen Fall ein Remake von Louis Malles "Viva Maria!" mit Brigitte Bardot und Jeanne Moreau als singende, strippende und schießende Maria und Maria. Professionell aber ohne zündenden Funken pendeln die "Bandidas" zwischen mal sehr offensichtlich gemalten Kulissen und netten Postkarten-Landschaften umher. Nett auch der anhängliche Hund Marias, die Musik, die Kostüme ... Am besten kommt eigentlich die komische Nebenfigur weg: Steve Zahn wird gegen seinen hingebungsvollen Widerstand küssend in die Schenkelzange genommen. Als nicht ganz unfreiwillige Geisel begleitet er die Räuberinnen bei ihrem Kleinmädchen-Ausflug ins Land der Räuberfilme.

Das M ä dchen aus dem Wasser


USA 2006 (Lady in the Water) Regie: M. Night Shyamalan mit Paul Giamatti, Bryce Dallas Howard, Jeffrey Wright 109 Min. FSK: ab 12
 
Eine neue Überraschung von M. Night Shyamalan, dem Regisseur von "Sixth Sense", "Signs", "Unbreakable" und zuletzt "The Village": Diesmal geht es nicht um hoch spannende Erscheinungen, die in einem sehr überraschenden Finale fast aufgeklärt werden. Die jugendfreie Geschichte "Das Mädchen aus dem Wasser" dreht sich um eine Wassernymphe und ihren Versuch, den Menschen zu helfen.
 
Shyamalans Meerjungfrau ist wie "Der König der Fischer" von Terry Gilliam angesiedelt in dem Grenzbereich von Märchen und oft bitterer Realität. Sie taucht auf im Swimming Pool eines nicht gerade luxuriösen Appartementkomplexes. Der Prinz ist der fürsorgliche, bescheidene Hausmeister Cleveland Heep (Paul Giamatti) und hier sollte man auch aufhören, diese Parallele zu bemühen. Denn Shyamalans erzählt Andersen anders, mit ein paar bekannten Versatzstücken als eigene Geschichte, die er seinen Töchtern zum Einschlafen erfand. Das Wasserwesen - ohne Flosse! - mit dem vielsagenden Namen Story (engl. für Geschichte) wird von Cleveland gerettet. Aber der hilfsbereite, einsame Mann weiß nicht, was er mit der jungen, sehr blassen Frau (Bryce Dallas Howard) anfangen soll. Langsam erfährt er, dass sie wie viele ihrer Schwestern aus dem Wasser kam, um den Menschen zu helfen. Dabei trugen sie große Adler und ein dunkles, wolfartiges Wesen verfolgt sie mit grimmigem Knurren.
 
Wie in einem selbstreflexiven Kunstwerk, das dieses "Mädchen aus dem Wasser" sein möchte, bemühen sich die Bewohner des Hauses gemeinsam unter Anleitung von Cleveland, ihren Platz, ihren Sinn in der Fabel von Story zu finden. Es gibt da einen Wächter, es gibt eine Versammlung und einen letzten Flugtermin, damit die Nymphe sicher nach Hause ins Meer kommt. Ungeübt im Glauben stümpert die Gemeinschaft ganz schön herum, bis sich die Prophezeiung schließlich doch erfüllt. Grundlage ist, wie so oft seit Peter Pan, der Glaube an die Kraft der Fantasie, der Geschichte, der Story.
 
So könnte "Das Mädchen aus dem Wasser" ein Glaubensbekenntnis Shyamalans sein. Der sehr jung mit "The Sixth Sense" erfolgreiche Autor und Regisseur dehnt seine üblichen Kurzauftritte a la Hitchcock mächtig aus zur Rolle des jungen Autoren, der mit Hilfe von Story die Welt verändern wird. Für diesen Film soll der Amerikaner angeblich seinen alten Produzenten Disney im Streit verlassen haben. Im etwas bescheideneren Teil der Geschichte finden Menschen ihre Würde zurück, allen voran der seelisch gebrochene Hausmeister und Menschenfreund Cleveland Heep. Paul Giamatti hat mit ihm noch so eine ideale Rolle gefunden. Wie sein einsamer Comiczeichner in "American Splendor" und sein frustrierter Wein-Kritiker in "Sideways".
 
Shyamalan erzählt, dass der Animationsfilmer Hayao Miyazaki ihn mit "Chihiros Reise ins Zauberland" sehr für diesen Film beeinflusst hat. Im Vergleich zu dessen Fabulierkunst wirkt der Hollywood-Überflieger mit seiner Fabel allerdings bescheidener. Ohne die Masche mit dem großen Final-Clou wird Shyamalan nicht so viele begeistern. Aber vielleicht eine Balance zwischen Story und menschlich tieferen Figuren finden.

Venedig 2006 - Wenn die Gondeln Stars tragen

Venedig. Wenn die Gondeln Stars tragen ... dann ist Filmzeit bei der Biennale von Venedig. Das 63. Filmfestival in Venedig, das vom 30. August bis zum 9. September 2006 stattfindet, braucht sich um den Glamour keine Sorgen zu machen. Sharon Stone, Anthony Hopkins, Meryl Streep, Scarlett Johansson, Adrien Brody und Ben Affleck werden am Lido erwartet. David Lynch, Oliver Stone, Brian De Palma und viele andere Star-Regisseur zeigen ihre neuesten Filme.
 
Im Wettbewerb um den Goldenen Löwen sind 21 Filme zu sehen. Ob man in zehn Tagen sagen kann "Gut gebrüllt, Löwe", entscheiden in der Internationalen Jury unter anderem Catherine Deneuve, der Regisseur Cameron Crowe und der italienische TV-Star Michele Placido. Dazu gibt es in der spannenden Nebensektion "Orizzonti" (Horizonte) 19 weitere Beiträge, hier ist der deutsche Regisseur Philip Gröning Jury-Präsident, der im letzten Jahr in Venedig "Die große Stille" über das Kloster La Grande Chartreuse präsentierte. Brian De Palma eröffnet Mittwochabend den Reigen mit dem amerikanischen Thriller "The Black Dahlia". Die Verfilmung des James Ellroy-Romans ist von einem Verbrechen aus den 40er Jahren in Los Angeles inspiriert. Bei der Aufklärung eines grausamen Mordes an einem als "Black Dahlia" bekannten Mädchen, beginnt ein Polizist ein Verhältnis mit einer anderen Frau, die in das Verbrechen verwickelt ist. Unter dem Altmeister De Palma spielen Josh Hartnett, Scarlett Johansson, Aaron Eckhart, Hilary Swank und Mia Kirshner.
 
Zu den bekanntesten Startern gehören Stephen Frears mit "The Queen", Altmeister Alain Resnais mit "Private Fears in Public Places" und der Action-Champion Johnnie To aus Hong Kong mit "Fangzhu" (Exiled). Besonders neugierig ist man auf das "Black Book" von "Basic Instinct"-Regisseur Paul Verhoeven, dem Hollywood-Regisseur aus den Niederlanden. Für die Weltkriegs-Geschichte um ein jüdisches Mädchen aus Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg in Holland überlebt, kehrte er nach Europa und in die niederländische Heimat zurück.
 
Reizvoll ist auch die Frage, ob die Österreicherin Barbara Albert einen Grand Slam des Films hinlegt: Sowohl beim Berlinale-Gewinner "Grbaviza - Esmas Geheimnis" als auch beim Locarno-Sieger "Das Fräulein" arbeitete sie am Drehbuch mit. Jetzt ist sie mit "Fallen" als Regisseurin im Wettbewerb.
 
Der deutsche Film ist vor allem mit internationalen Koproduktionen vertreten. Und mit Edgar Reitz als Aushängeschild der älteren deutschen Autorenfilmer bei den "Orrizonti". Er setzt sein monumentales Heimat-Werk mit den "Heimat-Fragmenten" fort. Bedauerlich, dass Tom Tykwers "Das Parfum" nicht für das renommierte Festival freigegeben wurde. Festivalchef Marco Müller, der schon "Winterschläfer", "Lola rennt" und "Der Krieger und die Kaiserin" in seine Festivals holte, hatte schon ein Auge auf diesen möglichen Eröffnungsfilm geworfen - der Verleiher Constantin stellte sich quer.
 
Marco Müller hätte es gerne noch etwas prominenter gehabt und schielt schon neidisch auf das neue Filmfestival in Rom, das Anfang Oktober auf jeden Fall Nicole Kidman präsentieren will. Der übliche Festivalneid liefert in Italien selbst Stoff für einen Film. Denn während Müllers zwischenzeitliche Nachfolgerin in Locarno, Irene Bignardi, eigentlich Venedig übernehmen wollte, zieht beider Assistentin Teresa Cavina jetzt in Rom die Fäden!
 
Die Filmstiftung NRW hat auch auf diesem großen Festival einige geförderte Produktionen im Rennen: In der Nebenreihe "Venice Days" läuft "WWW - What a Wonderful World" von Regisseur Faouzi Bensaïdi. Er erzählt eine Liebesgeschichte zwischen einem Profikiller und einer Verkehrspolizistin in Casablanca, wo die internationale Koproduktion der Kölner Heimatfilm im Herbst 2005 auch gedreht wurde. Der 1967 in Marokko geborene Regisseur, Autor und Schauspieler gewann bereits 2003 mit seinem ersten Langfilm „Mille Mois" in Cannes in der Reihe „Un Certain Regard" den Prix de la Jeunesse und den Prix Premier Regard.

22.8.06

Der freie Wille **


BRD 2006 (Der freie Wille) Regie: Matthias Glasner mit Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, Manfred Zapatka 171 Min. FSK: ab 16
 
Mutig? Unerträglich? Ehrlich? Quälend? Vor allem die ersten Szenen, die detaillierte Vergewaltigung eines jungen Mädchens durch den pummeligen, brutal jähzornigen Theo (Jürgen Vogel) sind schwer zu ertragen. Wie ein zielgerichtetes Tier stürzt er sich auf das bettelnde, jammernde Opfer, prügelt auch noch auf die Entkleidete ein. Die Kamera verfolgt das genau. Muss man das detailliert zeigen? Der Regisseur Matthias Glasner meint: Ja. Nur so könne man das Folgende richtig verstehen. Nach Theos Haftstrafe sollen oder können wir an seinem Leidensweg in der Freiheit teilnehmen. Im Maßregelvollzug findet er eine betreute WG und einen Job in der Druckerei. Bald steigt angesichts einer Kellnerin wieder Gewalt in ihm auf. Verzweifelt aber hoffnungslos kämpft Theo dagegen an. Da trifft er auf Nettie Engelbrecht (Sabine Timoteo), die Tochter seines Chefs. Sie ist sein verkehrtes Spiegelbild, gebrochenes Opfer. Und doch versuchen es die beiden miteinander...
 
Regisseur Glasner ("Fandango", 2000; "Sexy Sadie", 1996; "Die Mediocren", 1995) macht das nicht verdichtete fast drei sehr lange Stunden zum Konzept - als wenn Schauspiel alles wäre. Das Drama entwickelt sich minimal im Zustand leichter Veränderungen. Angesichts eines thematisch ähnlichen, ebenso genau hinsehenden aber wesentlich weniger drastischen Films "The Woodsman" (mit Kevin Bacon und dem roten Ball) fragt man sich, ob die radikale Tour de Force hier nicht eitler Selbstzweck ist. Immerhin gab es für Jürgen Vogel bei der letzten Berlinale den Silbernen Bären für künstlerische Gesamt-Leistung als Schauspieler, Koproduzent und Koautor des Films.

21.8.06

Miami Vice


USA 2006 (Miami Vice) Regie: Michael Mann mit Colin Farrell, Jamie Foxx, Gong Li 132 Min.
 
Endlich mal eine Mogelpackung die mehr bietet: Remakes von alten TV-Serien benutzen meist nur stinklangweilige, auf 90 Minuten gestreckte Formeln, um schwammige Erwartungen zu verkaufen. Mit Michael Manns "Miami Vice" versteckt sich ein packender, atmosphärisch enorm dichter und keineswegs oberflächlicher Film in dem vorgeblichen Remake einer der hohlsten Serien der Achtziger Jahre.
 
Die legendären Figuren Sonny Crockett (Colin Farrell) und Tubbs (Jamie Foxx) erhalten im Nachtleben von Miami kaum fünf Minuten zur Einführung bevor die packende Handlung anrollt und nicht mehr stoppt: Zwei Agenten wurden beim inszenierten Drogendeal durchlöchert, weil es eine undichte Stelle beim FBI gibt. Die beiden Miami-Kollegen Sonny und Tubbs sollen sich als Kuriere im großen Stil in ein Gangsterkartell einschleichen, um die Verräter zu enttarnen. Mutig geht es nach Lateinamerika in die Höhle der wahnsinnigen rechten Hand des Bosses Jesus. Dort liefert sich Sonny direkt ein Droh-Duell mit dem tollwütigen Mittelsmann Yosé. Überhaupt zeichnet sich "Miami Vice" durch die Abwesenheit von üblicher Action aus. Die Machtspiele laufen hier anders ab, mit Worten und Blicken erzeugen sie umso mehr Spannung.
 
Wenn es dann doch mal knallt, wirken gerade diese Szenen, auf die der Großteil der männlichen Zuschauer wartet, seltsam schal. Hier wird kaum noch überhöht: Es ist ohrenbetäubend laut, unübersichtlich und unangenehm. Wie viel stärker dagegen all die Szenen in den Gangster-Milieus. Und die verrückte Beziehung Sonnys zu Jesus' Geliebte und Finanzmanagerin Isabella (Gong Li)! Für einen Mojito geht es im Rennboot nach Havanna, einen Millionen-Deal verhandeln sie zwischen leidenschaftlichen Küssen. Bei diesen Jobs schafft Liebe immer Leiden, denn die Gegner schrecken nie davor zurück, sie - die Liebe - als Geisel zu nehmen.
 
Der exzellente Michael Mann ("Der rote Drache") übernahm die Regie von "Miami Vice" und machte aus dem 80er Pop der offenen Cabrios und Hemden unter Floridas Palmen eine düstere Drogengeschichte mit Colin Farrell und Jamie Foxx in den Hauptrollen. Es ist weniger die Fortsetzung der mäßigen TV-Serie "Miami Vice" als die der exzellenten Mann-Filme "Der Einzelgänger" und "Heat". Sie zeigt keine Supermänner, aber in grandiosen Bilder packend exakt das Verbrecher-Milieu. Dessen Mittel sind erstaunlich - Schnellboote, Flugzeuge, Hightech, Waffenhandel im großen Stil. Man solle nicht glauben, die professionellen Maschinerien solcher Verbrechenskartelle könnten nur annähernd so stümperhaft funktionieren, wie die meisten der Drehbücher über sie!
 
Dabei droht "Miami Vice" nur ganz selten in Jet Set-Umgebung der Oberflächlichkeit von 3-Wetter-Taft-Bildern zu verfallen. Denn oberflächlich darf "Miami Vice" nur schimpfen, wer sich von der Verpackung täuschen lässt. Mittendrin wandelt sich dieser Große-Jungen-Gangsterfilm zu einem bewegenden und raffiniert konstruierten Film zweier Lieben. Während Sonny mit seiner eigenständigen Gangsterbrau Isabella abhebt, wirkt die Beziehung seiner Kollegen Tubbs und Trudy (Naomie Harris) routiniert unerotisch. Tubbs wird aus der Dusche geschmissen, während bei Sonny am genau gleichen Ort einiges passiert. Die eine Liebe lebt auf während die andere am Tropf hängt und erst wieder aufwacht als die erste am Ende ist. Das gefährliche Spiel mit der Enttarnung schließt auch das Risiko der Enttäuschung ein.

Monster House


USA 2006 (Monster House) Regie: Gil Kenan mit Steve Buscemi, Nick Cannon, Maggie Gyllenhaal 90 Min. FSK: ab 6
 
Ein neuer Animationsfilm mit jugendlichen Helden - aber keineswegs Kinderkram! "Monster House" verbindet neueste Tricktechnik mit einem fast altmodischen Gruselabenteuer. Kein Wunder, denn mit Steven Spielberg und Robert Zemeckis stehen zwei Schreck-erfahrene Senioren hinter der Produktion!
 
Das bedrohlich düstere Haus in der Straße, der garstige Nachbar, erschreckend und gleichzeitig auch häufig selbst von Kinderscherz erschreckt. Das gibt es nicht nur in den USA und nicht nur zu Halloween. In solch universalen Kindheitsschauder schlüpfen der zwölfjährige DJ und sein Kumpel Chowder. Doch stopp - bevor wir ihnen ins Geisterhaus folgen, sollte man erklären, wer hinter ihnen steckt. Denn DJ, Chowder, die Eltern und alle anderen sind in diesem Trickfilm nicht gezeichnet, jedenfalls nicht völlig. In ihre gemalten Hüllen schlüpfen echte Schauspieler, deren Bewegungen im Motion-Capture-Verfahren aufgezeichnet wurden. Den garstigen Nachbarn Nebbercracker spielte und grimassierte etwa der bekannt kantige Charakterdarsteller Steve Buscemi ("Pulp Fiction"). So verzieht nun Nebbercracker sein comic-artige übertriebenes Gesicht mit der seltsam vertrauten und doch gar nicht vorhandenen Mimik des oft gesehenen Schauspielers. Nach diesem Prinzip bewegen sich die Figuren im Film sehr realistisch und doch so anders fantastisch...
 
Nebbercracker ist schon eine Weile im Visier von DJ, der fotografiert, wie er andere Kinder vom Haus gegenüber verjagt und alles einkassiert, was auf seinem Rasen landet. Als der alte Mann mit Herzanfall weggefahren wird, beobachtet DJ unheimliche Ereignisse um dessen Haus. Wie ein riesiges Monster verschlingt es nicht nur mehr Spielzeug. Grimmige Fensteraugen verfolgen die Kinder. Die lange Teppichzunge schnappt sich alles, was ihr zu nahe kommt. Weil aber Halloween vor der Tür steht, beschließen DJ, Chowder und ihre neue Freundin Jenny, dem Haus den Garaus zu machen.
 
Im Gegensatz zum öden "Polar Express, der ebenfalls mit dieser Technik realisiert wurde, spürt man beim "Monster House" den Spaß, eigene Wesen und Welten zu schaffen. Der lustige wie schaurige Film zeigt sich sehr detailreich, wenn sich der kleine, knochige Nebbercracker in der Fenster-Pupille seines großen Hauses namens Constance spiegelt. (In der Auflösung erhält der Begriff Haus-Frau einen neuen Sinn!) Zum Finale hin überschlagen sich die grandiosen Szenen, wenn der Baum vom Monster-Haus gleich ein ganzes Polizeiauto verschlingt. Vorher herrschte frischer Witz, originelle Ideen machen Kinder und Erwachsenen Spaß. Allerdings könnte schon der erste Traum DJs kleinere Kinder erschrecken. Im Monster-Haus selbst wird es richtig spannend, wenn sich der Parkettboden bissig öffnet und schließt. Als sich das Haus dann von einer Immobilie zur wütenden Wohn-Mobilie wandelt, bekommt es fast die eindrucksvolle Größe wie "Das wandelnde Schloss" des japanischen Altmeisters Hayao Miyazaki. Im Kern der oft typisch amerikanischen Halloween-Geschichte steckt eine anrührend düstere Liebes-Tragik, die auch einem Tim Burton-Film gut gestanden hätte.

17.8.06

The Saddest Music in the World


Kanada 2003
 
Regie: Guy Maddin
Buch: Guy Maddin, George Toles
Musik: Christopher Dedrick
Kamera: Luc Montpellier
Produzent: Atom Egoyan, Niv Fichman, Daniel Iron
Darsteller: Maria de Medeiros, Isabella Rossellini, Mark McKinney, Ross McMillan, David Fox
Länge: 99 Minuten
Verleih: Weltecho
Kinostart: 9.11.2006
 
Ein Wettbewerb um die traurigste Musik der Welt bringt noch mehr skurrile Gestalten ins trübe Winniepeg. Einzigartige Ideen und eine Ästhetik, die Stummfilmen der 20er- und 30er-Jahre nacheifert, machen "The Saddest Music in the World" zur reizvollen Gelegenheit, das Universum von Guy Maddin zu entdecken.
 
 
Oh Kanada! Cronenberg, Egoyan, Maddin .... Die (Welt-) Meister der skurrilen Filme finden hier seit Jahrzehnten Nährboden und (Film-) Förderung. Nur hier kann Guy Maddin überwintern in einer Zeit der Drehbuchautomaten und der endlosen Fortsetzung von Remakes von Fortsetzungen...
 
Guy Maddin macht Filme, die wirken als hätte man sie gerade auf einem verstaubten Speicher aus einem Jahrzehnte langen Schlaf in alten Filmdosen erweckt. Schwarzweiße Stummfilme, mit wunderbaren Farbakzenten wie das Blut in dem verfilmten Tanztheater "Dracula: Pages From a Virgin's Diary" (2002). Mit sparsamen, aber umso effektvolleren Toneinsätzen wie in "Carefull" (1992), der rekonstruierten Alpensaga des wegen Lawinengefahr sehr, sehr stillen und emotionslosen Dorfes Tolzbad. Doch Maddin lebt und dreht seine surrealen Geschichten in der Epoche von "Star Wars" und "American Pie". Seinen sorgfältig konstruierten Retrostil erzeugt er mit Super8-Film und Video, die er für die große Leinwand aufbläst.
 
Nun der eindeutig eingängigste Guy Maddin. Ein Film mit Isabella Rossellini. Aber was für eine Rolle! Sie ist Lady Port-Huntly, die unterschenkel-amputierte Besitzerin einer Bierbrauerei im kanadischen Winniepeg mitten in der Depression des Jahres 1933. Lady Port-Huntly ruft einen Wettbewerb um die traurigste Musik der Welt aus - The saddest music in the world. Der Hauptpreis von 25.000 Dollar ruft Musiker aus aller Welt in die grau vereiste Stadt, die zum vierten Mal in Folge zur Hauptstadt der Trauer gewählt wurde, und führt auch eine äußerst melodramatische Familie zusammen, damit sich die Wahrsagung eines Eisblocks erfüllt.
 
Da tritt der Vater Fyodor (David Fox) mit "Red Maple Leaves" für Kanada an, sein Sohn Chester (Mark McKinney), ein seelenloser Broadway-Producer für die USA. Und der andere Sohn Roderick, ein übersensibler Hypochonder, geht unter einem schwarzen Schleier für Serbien an den Start. Weil sein Land ja den Weltkrieg verursachte! Aber auch eine tragische Liebesgeschichte macht ihn zum Favoriten für die "Saddest music of the world"...
 
Die Welten Maddins sind faszinierend: Da gibt es in Winniepeg (Geburts- und Heimatort des Regisseurs) bei minus 40 Grad eine Straßenbahn unter Eis. Der Anblick von Isabella Rossellini mit schäumenden Biergläsern als Ersatz für ihre Unterschenkel ist schauerlich unvergesslich. Die Vorstellung der Konkurrenten aus Siam oder Mexiko erfolgt mit einem naiven Exotismus der Zeiten vor Political Correctness. Die Faszination einer reizvoll ungewöhnlichen Ästhetik und haarsträubender Ideen voll hochdramatischen Kitsches, die jede Soap verblassen lassen, machen das unnachahmliche Maddin-Feeling aus. Da will man gar nicht glauben, dass vom Autor des Originalstoffes Kazuo Ishiguro auch die Vorlage zum so ganz anderen "Was vom Tage übrig blieb" stammt.
 
Erstmals drehte Maddin mit einer bekannten Schauspielerin, aber auch "The saddest music" bleibt ein einzigartiger, eigenwilliger Guy Maddin-Film. Da wundert es nicht, dass es etwas länger dauerte, bis er in deutsche Kinos kommt. Doch für ein offenes Publikum, welche das Immergleiche des Mainstreams satt ist, ist es ein guter Zeitpunkt Guy Maddin zu entdecken!

16.8.06

Zum Gl ü ck gek ü sst

USA 2006 (Just My Luck) Regie: Donald Petrie mit Lindsay Lohan, Chris Pine, Missi Pyle ca. 100 Min.
 
Ashley ist ein Glückskind. Das Glück klebt ihr am Schuh und dazu noch ein Dollar-Schein.
Jake ist der Pechvogel: Wenn er einen Geldschein findet, klebt genau das daran, was andere höchstens mal vom Schuh kratzen müssen. Noch während die Titel ablaufen, erleben wir, wie unglaublich viel bei so einem armen Kerl schief laufen kann und wie unglaublich viel Glück im Sekundentakt Ashley mit einem unbedarften Lächeln verkraftet. Doch nur ein Kuss reicht, um die Sache umzukehren: Innerhalb von Minuten knickt der Absatz um, ist das Kleid zerrissen, bekleckert, völlig derangiert und der Job ist auch weg, als sie endlich im Knast landet.
 
Jake hingegen kriegt seine Band McFly endlich raus aus der lärmenden Bowling-Halle und an die Spitze der Charts. Doch Ashley hat rausgefunden, dass es nur an dem Kuss lag und sucht Jake, um sich ihr Glück zurückzuholen. Das wurde vom Unterhaltungs-Regisseur Donald Petrie ("Mystic Pizza", "Miss Undercover") alles völlig übertrieben, mit Charme ganz dick aufgetragen. aber wenn man diesen Mädchenfilm und diese Typenkomödie mit ihren ziemlich albernen Scherzen es nicht ernst nimmt, macht er erstaunlich viel Spaß. Das liegt wohl auch an den einnehmenden Darstellern. Lindsay Lohan zeigt sich nach "Freaky Friday" und "Confessions of a Teenage Drama Queen" noch einmal als Jungstar der leichten Komödie, bevor sie bald in Altmans "A Prairie Home Companion" als Tochter von Meryl Streep mehr zeigen darf.
 
Und am Ende geht die schöne Lösung, was die beiden mittlerweile verliebten mit dem hin und her geküssten Glück machen, richtig ans Herz.

The Piano Tuner Of Earthquakes

GB, BRD, Frankreich 2005 (The Piano Tuner Of Earthquakes) Regie: Stephen Quay, Timothy Quay mit Amira Casar, Gottfried John, César Saracho, Assumpta Serna 99 Min.
 
"The Piano Tuner of The Earthquakes" war lang erwartet, weil die Brüder Quay immer lang für ihre Werke brauchen. Sie kommen von der Malerei und dies ist nicht der einzige Berührungspunkt mit dem frühen Greenaway, dem anderen Maler, der Einschränkung und Herausforderung der Kamera überwindet. Allein der unglaublich bildgewaltige Titel machte lange neugierig: "The Piano Tuner of The Earthquakes" - Jemand, der Erdbeben stimmt! Dann die Aufregung um die Dreharbeiten in Leipzig mit Gottfried John der zwischen Cäsar und Bond-Schurke vielleicht wieder zum Kunstkino aus Fassbinders Zeiten zurück wollte. Nun werden die Fans der auf vielen Festivals ausgezeichneten Quay-Kurzfilme (gesammelt auf DVD erhältlich) direkt ins Kino rennen. Alle anderen sollten sich einige Hinweise zu Herzen nehmen, bevor sie das traumhafte Kunstuniversum der Brüder betreten.
 
Der Traum beginnt mit dem Tod oder der Entführung der Oper-Sängerin Malvina (Amira Casar) direkt von der Bühne weg kurz vor ihrer Hochzeit mit dem Dirigenten Adolfo (César Saracho). Malvina erwacht in einem Traum, einem Gemälde auf der Insel des mysteriösen Dr. Droz (Gottfried John). Dieser verhinderte Komponist plant ein großes Werk, das die Welt in ihren Grundfesten erschüttern soll. Die Welt, die seine Kompositionen vorher ablehnte. Um die sieben Musik-Automaten mit ihren Ruderbooten und Fischköpfen zu stimmen, die sich in einem geheimnisvollen Wald verteilen, wird der Piano-Stimmer Felisberto (César Saracho) engagiert. Der Kontrakt des Piano-Stimmers beinhaltet strenge Regeln, wie mit den kleinen kunstvollen Theaterbühnen und (Alp-) Traumwelten umzugehen ist. Während die Haushälterin Assumpta (Assumpta Serna) ihm eindeutige Avancen macht, fühlt sich Felisberto stark zu der stillen Malvina hingezogen, die im Zentrum des Werkes von Droz stehen soll.
 
"The Piano Tuner of The Earthquakes" basiert sehr frei auf dem Text "The Invention Of Moral" des Argentinier Adolfo Bioy Casares, Verweise auf "Die Insel des Dr. Moreau" lassen sich ebenfalls hineinlesen. Anfangs entsteht das Schwere, Geheimnisvolle, Traumhafte im "Piano Tuner" durch neblig weich gezeichnete Bilder, durch eine Fabel von Ameisen und vom Pilz im Off. Zunehmend geht der Sog dieses poetischen Science Fiction immer mehr von den Automaten und ihren düsteren, blutigen Vorausdeutungen aus. Man könnte einige Vergleiche heran ziehen - Jan Svankmajer, David Lynch, Tim Burton - doch die Quay-Brüder bleiben einzigartig.
 
Noch stärker als bei ihrem Langfilm-Erstling "Institute Benjamenta, or This Dream People Call Human Life" werden die innovativen und imaginativen Künstler kritisiert, dass sie erzählerisch nicht den Sprung vom Kurzfilm zur Langhandlung geschafft haben. Aber man sollte sich vielleicht von solchen Kategorien lösen, sich ganz und gar auf die Bilderwelten einlassen.

15.8.06

Neil Young - Heart of Gold

USA 2006 (Neil Young: Heart of Gold) Regie: Jonathan Demme mit Neil Young, Emmylou Harris 103 Min.
 
Forever Young - Neil Young, der Rocker mit Seele und gesundem Menschenverstand zeigt nicht nur extremes Durchhaltevermögen (während einige Bandmitglieder um ihn herum an der Nadel zugrunde gingen). Er spielt auch äußerst vielseitig in verschiedenen Ecken der Rock-Welt: "Buffalo Springfield", "Crazy Horse", "Crosby, Stills, Nash & Young" und dann die sensationelle "Year of the Horse"-Tour mit Pearl Jam, die Young zum Godfather des Grunge machte. Jim Jarmusch nahm "Year of the Horse" kongenial dreckig auf Super 8 auf.
 
Und nun ein mitreißender Konzertfilm mit dem sanftesten Young den man lange sah. Ein harmloser Country-Star, der seine neue CD "Prairie Wind" als Vollendung der Trilogie mit "Harvest" und "Harvest Moon" live präsentiert? Nicht ganz, denn Neil Young schrieb die Lieder kurz vor einer Gehirn-Operation, bei allem schwingt eine Hauch des nahen Todes mit. So kann man dieses Konzert und die CD ganz ernsthaft in einer Reihe mit Werken des Hinübergehens, etwa mit Gernhardts K-Gedichten, hören. Oder sich der grandiosen Inszenierung von Jonathan Demme hingeben.
 
Das Konzert fand in Nashvilles legendärem Rymans Auditorium, im Herzen der Country Musik statt. Obwohl der Musikstill reichlich anders ist, fühlt es sich an wie "Stop Making Sence", den Konzertfilm mit den Talking Heads, den Demme 1984 inszenierte. Das mag am Sounddesign liegen. Konsequent wird das Publikum ausgeblendet, der Blick bleibt auf den Musikern, geht nicht zurück in den Saal. Akustisch ist man allerdings in der jubelnden Menge eingebettet, geht in der lauten Begeisterung auf.
 
Dabei berührt Young nur mit stillen Klängen und den Texten. Es gibt einen Abschied vom kürzlich verstorbenen Vater, die Öko-Gedanken, denen er den ganzen Musik-Spielfilm "Greendale" widmete und finales Sinieren in "It's only a dream". Das Konzert, das Young mit einer ganzen Reihe hochkarätiger Musiker (darunter auch seine Frau) gestaltet, endet mit einem Solo, dass gut gepasst hätte, wenn Young den Gitarrenkasten endgültig zugemacht hätte. Aber zum Glück rockt er weiter und wird sicher bald mit einem neuerlichen Stilwechsel überraschen.

Superman Returns


USA 2006 (Superman Returns) Regie: Bryan Singer mit Brandon Routh, Kevin Spacey, Kate Bosworth, James Marsden 154 Min. FSK: ab 12
 
Selten war es einfacher, ein Kino-Ikon zu reaktivieren. Superman schwebte einfach mal für ein paar Jahre im Weltall rum und dachte über seine Vergangenheit nach. Jetzt düst er wieder durch New York und alles ist wie vorher. Nicht ganz alles: Christopher Reeve, der Superman von vor 20 Jahren, verstarb vor zwei Jahren. Doch man fand für die Hauptrolle in Brandon Routh ein ähnlich nichts sagendes Gesicht eines bislang unbekannten Schauspielers, der gut in diese Helden-Hülle passt.
 
Ausgerechnet der Erz-Schurke Lex Luthor (Kevin Spacey), der immer richtig stinkig ist, weil Superman ihm die Show stiehlt, macht die ersten Punkte im Film: Der wunderbar wahnsinnige Schurke besorgt sich wieder mal ein paar Kryptonite-Kristalle und löst konzentrische Chaos-Wellen aus. Sehr schön, wie die Katastrophe inmitten einer Modeleisenbahn-Landschaft startet und danach erst New York erschüttert. (Das in solchen Filmen selbstverständlich auch nur ein Model ist!) Irgendwie - genauer nachfragen nicht erlaubt - löst sich bei einem Shuttle-Huckepackstart das Raumschiff nicht vom Flieger. Vor allem weil Dauerschwarm Lois Lane (Kate Bosworth) an Bord ist, muss heftig gerettet werden. Mit Vollgas ins All wird ein erster dramatischer Höhepunkt erreicht, wobei wieder die Tricktechniker mit den Menschen und Maschinen so spielen, wie Luthor mit seiner Modell-Eisenbahn!
 
Der schüchterne Bürobote Clark Kent flirtet und fliegt dann unter dem roten Deckmantel des Superhelden mit seiner geretteten Kollegin Lois, dass es ihr die Schuhe auszieht. Das sorgt für Eifersucht beim lieben, harmlosen Gatten, der absolut keine Chance gegen so einen super Mann hat. Selbst Lois' kleiner Sohn himmelt direkt den anderen Papi an.
 
"Superman returns" ist völlig frei vom Zynismus vieler Action-Filme. Man muss auch sehr gutherzig und -gläubig sein, um sich so ein altmodisches Heldenmärchen anzutun. Ein paar versteckte Verweise zu 9/11, näher wagt sich der Film nicht an unsere Realitäten. Dafür gibt es im Bereich Action eine Punktlandung mit Superjet mitten in einem Baseball-Studio und ab und zu ein paar grandiose Treffer mit dreisten Lachern.
 
Diese äußerst schwierige Produktion zu stemmen, hätte es fast einen Superman bedurft. Mit Bryan Singer fand man vor allem einen exzellenten Profi, der nicht viele Filme, aber mit "Die üblichen Verdächtigen" (1995), "Apt Pupil" (1998), "X-Men" (2000) und "X-2" (2003) nur anständige Arbeiten hingelegt hat. Für "Superman Returns" verzichtete er auf "X-Men 3", eine gute Entscheidung. Singer arbeitete mit seinen üblichen Verdächtigen, mit langjährigen Kollaborateuren wie Spacey vor und hinter der Kamera.
 
Das Bemerkenswerte an Singers Interpretation sind die Momente, in der die Ikone Superman in göttliche Dimensionen aufsteigt, im Orbit schwebend, allhörend über die (amerikanische) Menschheit (New Yorks) wacht. Folgerichtig erleidet er später sein eigenes Martyrium, samt Kreuzigung und Wiedergeburt. Und in der Verlängerung der Vater-Sohn-Geschichten liegt der Samen für unendliche viele Fortsetzungen. Hier ist die Harmlosigkeit des Super-Märchens aber längst in die Kitsch-Regionen der Nachmittags-Soaps abgeglitten.

13.8.06

Deutsche Filme erneut in Locarno erfolgreich

Zusammenbruch des Direktors Maire auf Piazza-Bühne
 
Locarno. Dramatisch endete das 59. Internationale Filmfestival von Locarno am Samstag nach zehn Tagen mit 170 Filmen: Am vorletzten Abend brach der Künstlerische Direktor Frédéric Maire auf der Bühne der Piazza Grande zusammen und sein Kreislauf erholte sich auch bis zur Preisverleihung nicht. Den Goldenen Leoparden erhielt ausgerechnet "Das Fräulein" von Andrea Slaka, eine ausgezeichnete Koproduktion (Schweiz/Deutschland), die zum aufsehenerregenden Rücktritt des Jurymitglieds Barbara Albert und zu viel Kritik an Maire führte.
 
Das renommierte Festival von Locarno erwies sich erneut als Sommerfrische für den deutschen Film. Während des Kino-Sommerloches konnten fünf Filme mit deutscher Beteiligung Hauptpreise absahnen. Fern von jedem Patriotismus ist dieser fast alljährlich wiederkehrende Goldregen bemerkenswert.
 
Der Siegerfilm "Das Fräulein" bringt drei Frauen jugoslawischer Herkunft in einer Züricher Kantine zusammen. Die junge Ana kommt gerade aus Sarajewo und stürzt sich exzessiv ins Leben, während die 50-jährige Kantinenbesitzerin Ruza jeden Rappen wie auch jede Regung fest verschließt. Wie diese stimmigen Figuren mit ihren eigenen Schmerzen aufeinander reagieren, hat die 33-jährige Andrea Staka in einer psychologisch dichten und ästhetisch fesselnden Weise inszeniert. Staka wurde in der Schweiz geboren, ihre Familie stammt aus Jugoslawien. Der Hauptpreis ist mit 90.000 Schweizer Franken (60.000 €) dotiert. Auch bei mehreren Nebenjuries erhielt "Das Fräulein" den ersten Preis.
 
Zuvor sorgte der Film bereit für große Aufregung, denn das österreichische Jurymitglied Barbara Albert ("Nordrand") musste die Jury ungeschickt spät verlassen, weil sie für alle bis auf Festivalleitung offensichtlich am Drehbuch mitgearbeitet hatte. Ob die Kritik daran zusammen mit kleinlichen Zänkereien der Schweizer Sprachgruppen zum Zusammenbruch des debütierenden Direktors Maire führte, bleibt vorerst Spekulation. Er wollte einiges ändern, etwa den Film der Politik vorziehen. Doch ironischerweise erwies sich erneut, dass Politisches bis in Private hinein reicht und so reichlich Stoff für bewegende, engagierte Filme liefert. So lief "Carlas List", die hautnahe Dokumentation über die schillernde Jugoslawien-Chefanklägerin Carla del Ponto, auf der Piazza und zum Abschluss musizierte "Das Orchester der Piazza Vittorio", ein römisches Multikulti-Projekt zur Integration von Emigranten. Filme, die Maire Vorgängerin Irene Bignardi sicher auch gezeigt hätte.
 
Das Publikum der Piazza Grande, des magischen Open Air-Kinos für allabendlich 7000 Zuschauer, wählte "Das Leben der Anderen" zu ihrem Favoriten. Die exzellente Demaskierung von Stasi-Mentalität erlebte mit reichlich Verspätung ihre internationale Premiere. "Der Mann von der Botschaft" von Dito Tsintsadze erhielt den Darstellerpreis. Genauer: Burghart Klaussner ("Die fetten Jahre sind vorbei", "Requiem") ist der einsame, verschlossene Mann von der (deutschen) Botschaft im georgischen Tiflis, der sich mit seltsamer Naivität eines Straßenkindes annimmt. Die ruhige Psychostudie wurde von Tatfilm in Köln produziert und von der Filmstiftung NRW gefördert. Ebenfalls aus Köln, ebenfalls NRW-gefördert, Stefan Westerwelles Abschlussfilm der KfM "Solange du hier bist", eine noch intimere, intensivere Studie eines alten Schwulen, der einem jungen Callboy hinterher träumt. Dafür gab es in der Kategorie des Besten Erstlingsfilms eine Besondere Erwähnung.
 
Den Goldenen Leoparden im neuen Wettbewerb der Sektion "Cineastes de Present" eroberte das SM-Drama "Verfolgt" von Angelina Maccarone, in dem Maren Kroymann eine resolute Bewährungshelferin spielt, die sich von einem Schützling zu sadomasochistischen Seitensprüngen verführen lässt. Knapp daneben ging der Preis für die Beste Darstellerin, denn Amber Tamblyn spielte eine 16-jährige Schwangere recht ausdruckslos, während ihre Filmpartnerin Tilda Swinton gleichzeitig die Konflikte einer Gerichts-Psychologin, einer psychisch labilen Schwangeren und einer eifersüchtigen Ehefrau eindrucksvoll verkörperte.
 
Die übertriebene Suche nach Weltpremieren bescherte Locarno 2006 einen merklich schwächeren Wettbewerb. Kleine Kurskorrekturen in den Programmsektionen im ersten Jahr des neuen Direktors Frédéric Maire ließen den ebenso politisch wie ästhetisch interessierten Charakter des Schweizer A-Festivals unberührt. Qualitäten eines neuen Leiters können sich erst nach mehr als einem Jahr zeigen. 2007 wird dann auch noch die 60. Auflage von Locarno gefeiert.

Der Lakomiker - Kaurism ä ki-Retrospektive Locarno


Locarno. Er ist der Meister der Reduktion, adelt die Arbeiterklasse mit dem Stil klassischer Melodrame und macht immer seinen letzten Film: Aki Kaurismäki wurde vom 59. Internationale Filmfestival Locarnos (2.-12.8.2006) mit einer kompletten filmhistorischen Retrospektive geehrt. Dank überraschender Mitarbeit des sonst so spröden Finnen wurde die Programmschiene zum sensationellen Publikumserfolg.
 
Wer meint, in weniger als 60 Minuten ist bei einem Film alles gesagt, muss sich vielleicht auch eine Retrospektive im zarten Alter von 50 Jahren und 16 Spielfilmen gefallen lassen. Kaurismäki ist im Reigen der ausgezeichneten Retrospektiven von Locarno ein Junger und gleichzeitig ein Relikt. Der Verächter von Fernsehen und amerikanischer Unkultur dreht nur auf 35mm-Film, niemals auf Video. Seine Filme stecken voller Zitate alter Meister und kaum ein Mensch hat noch das filmhistorische Wissen, diese Ebene zu verstehen. Selbst seinen Biographen Peter von Bagh erwischt er mit Fragen wie "Wer hat das eigentlich gesagt und in welchem Zusammenhang?" auf dem falschen Fuß.
 
Bei der Vorstellung eines von "Cahier de Cinemas" zur Retrospektive nur in Französisch herausgebrachten Bandes lieferte Kaurismäki trockene aber auch bissiger One-Liner am laufenden Band. Die übliche Weigerung auf - oft tatsächlich erschreckend dumme - Fragen zu antworten, hat er zuhause gelassen. Dabei ist, wie in seinen Filmen der Humor so trocken, dass man direkt glaubt, Laokoon war ein Finne. Mitgebracht hatte Kaurismäki außer seinen Langspielfilmen, auch seine Musikvideos von den "Leningrad Cowboys" und anderen finnischen Bands sowie seine Schauspielerinnen Kati Outinen und Margi Clark, die ausführlich erzählten. Zur Premieren-Party am Lido Locarnos unter passend kitschigem Vollmond spielte stilecht eine finnische Tango-Band.
 
Mit der sehr freien Dostojewski-Verfilmung "Crime and Punishment" legte Aki Kaurismäki 1983 direkt ein erstaunliches Debüt vor. Er wird auch noch Hamlet und "Das Leben der Boheme" seinen Stempel aufdrücken. Doch erst in späteren Werken, die er alle auch selbst produzierte, schrieb und schnitt, tauchten seine charakteristischen Eigenschaften auf der Leinwand auf: Extrem wortkarge Figuren, Verlierer der Arbeiterklasse meist, deren Niedergang manchmal auch von einem Happy End aufgefangen wird, aber deren Tragik nie ohne solidarischen Humor bleibt. Kaurismäki ist ein Meister der Ökonomie. Meist nimmt er seine Schauspieler schon während der Probe auf. Das Meisterwerk "Das Mädchen aus der Streichholzfabrik" war 69 Minuten kurz, für das deutsche Fernsehen schummelte er ein paar Minuten hinzu. Hier zeigt sich auch der Produzent Kaurismäki, der mit seinem Bruder Mika - ein mediokrer Filmemacher - nicht nur eigene Filme finanziert.
 
Wieder das Gleiche - war in Cannes oft zu hören, als im Mai nach vier Jahren ein neuer Kaurismäki im Wettbewerb lief. "Lights in the Dusk" ist nach "Wolken ziehen vorüber" (1996) und "Der Mann ohne Vergangenheit" (2002) der abschließende Film seiner Verlierer-Trilogie. Wie sehr sich der Finne in Motiven und Stilideen treu blieb und wie verschieden er doch in seinen 23 Jahren Filmschaffen war, zeigte die komplette Kaurismäki-Retrospektive Locarnos auf. Ihr größter Gewinn liegt allerdings in einer "Carte Blanche" für den Regisseur, der sich Filme aussuchen durfte, die ihn beeinflusst haben.
 
Zum Kinostart von "Lights in the Dusk" im Herbst erscheint am 30.August auch ein deutscher Band, der unter dem Titel "Aki Kaurismäki" Essays, Interviews und Filmtexte versammelt (Beltz + Fischer, 220 Seiten, 19,90 Euro).

8.8.06

Trennung mit Hindernissen


USA 2006 (The Break-Up) Regie: Peyton Reed mit Vince Vaughn, Jennifer Aniston, Joey Lauren Adams 106 Min. FSK: ab 6
 
Einmal muss man auch mal Boulevard machen dürfen: Da werden zwei Ehekriege gedreht und während sich bei "Mr. & Mrs. Smith" Angelina Jolie und Brad Pitt verliebten, küssten und neun Monate später Nigeria zur Fotografen-freien Zone machten, ließ sich die damalige Frau Pitt, auch bekannt als Jennifer Aniston, von ihrem Partner bei "Trennung mit Hindernissen", Vince Vaughn, trösten. Ist das nicht ein richtig guter Filmstoff? Der "Trennung" hilft es trotzdem nicht über ihre Probleme hinweg...
 
Nach einer zielgerichtete, un(aus)schlagbaren Anmache von Gary (Vince Vaughn) verrinnt das gemeinsame Glück mit Brooke (Jennifer Aniston) als Fotoalbum noch während des Vorspanns. Genauso schnell fällt ein Streit über die Verteilung der Haushaltsaufgaben vom Himmel. Oder genauer: Zwischen Couch, auf der er nach getaner Fremdenführer-Arbeit ein Football-Spiel sehen will, und Küche, in der sie alleine ein Menü für zwölf Personen kreiert. Es zeigen sich in der gemeinsamen Wohnung unterschiedliche Stilvorstellungen, die Auffassungen von Lebensinhalten und äußerer Darstellung fallen auseinander, als hätten sie sich nie zuvor über diese Themen ausgetauscht. Ein dummer Kleinkrieg eskaliert, doch keiner will freiwillig aus der gemeinsamen Wohnung. Ein Rosen-Krieg, bei dem die guten Freunde eifrig sekundieren, wie man den Ex am besten mental fertig macht..
 
Aus Gary wird ein Playstation-Junkie, der das Wohnzimmer mit Couch zur Single-Absteige und zum Strip-Lokal macht. Brooke setzt auf Eifersucht als nächsten gemeinen Schachzug, einer der Dates sieht allerdings lieber mit Gary fern. Als brutalste, von der Genfer Konvention höchst geächtete Waffe wird der unerträgliche Bruder Brookes mit seinem A-cappella-Chor einquartiert! Dann folgt noch der Streit um die Freunde bei der Pictionary-Runde - das macht wirklich keinen Spaß mehr.
 
Da die guten Zeiten nur als Fotoalbum vorliegen, fragt man sich im eskalierenden Dauerstreit: Erstens, weshalb da nicht mal einer sagt: Stopp ich liebe dich, lass uns mit dem Blödsinn aufhören! Und zweitens: Wenn da doch nix Positives ist, weshalb sie sich dann so lange und leidenschaftlich streiten. Allerdings schrumpft der Rosenkrieg hier dramatisch und ästhetisch zum Heckenrosen-Streitchen. Wobei vor allem die häufig bespielten Innenräume gefährlich sind, denn die "Friends" von Aniston kucken mit ihrem TV-Stil immer wieder um die Ecke.
 
Doch drei gute Dinge hat dieses "Mr. & Mrs. Smith" im Kleinformat. Als Wiederentdeckung am Rande, in der Rolle von Brookes Freundin Addie: Joey Lauren Adams, die Amy aus Kevin Smiths "Chasing Amy". Zweitens gibt es KEIN Happy End und dafür müsste jede Hollywood-Romanze eigentlich automatisch einen Oscar bekommen. Sowie drittens folgenden Spruch: Beziehung ist nicht Kubismus oder Surrealismus, es ist Malen nach Zahlen!

1.8.06

Locarno 2006: Pop und Kultur von K ö ln bis Miami

Pop und Kultur von Köln bis Miami
 
Locarno. Wenn ein ambitioniertes und engagiertes Festival wie das von Locarno seine 59.Ausgabe (2.-12.8.2006) mit "Miami Vice" eröffnet, muss etwas passiert sein. Tatsächlich gab es einen Führungswechsel in der künstlerischen Leitung des Festivals. Nach der Römerin Irene Bignardi, die in fünf Jahren das europäische Festivalereignis in der Südschweiz enorm belebte, übernimmt nun ihr Schweizer Kritikerkollege Frederic Maire aus der französischen Schweiz die Programmverantwortung.
 
Doch wenn heute Abend die legendären Crockett und Tubbs in Miami auf Gangster-Jagd gehen, wird im Cultur-Clash von Lago Maggiore und Floridas verruchter Küste nicht Locarnos Festivalkultur untergehen. Der exzellente Michael Mann ("Der Einzelgänger", "Heat", "Der rote Drache") übernahm die Regie von "Miami Vice" und machte aus dem 80er Pop der offenen Cabrios und Hemden unter Floridas Palmen eine düstere Drogengeschichte mit Colin Farrell und Jamie Foxx in den Hauptrollen.
 
Ein weiteres Highlight wird der Auftritt Carla Del Ponte in Locarno sein. Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshof begleitet die Premiere von "Carla's List", einer Dokumentation über die enorme Arbeit von des gesamten Internationalen Strafgerichtshofs, den Kriegsverbrechern den Prozess zu machen.
 
Gleich sieben von der Filmstiftung NRW geförderte Produktionen werden auf den Leinwänden des traditionsreichen Festivals von Locarno in der Schweiz gezeigt, allein drei davon im Wettbewerb. Auf dem Open Air-Kino der Piazza Grande waren NRW-Filme mit "Das Wunder von Bern" (2003) und "Die syrische Braut" (2004) sehr erfolgreich. Das nicht mehr ganz frische Stasi-Drama "Das Leben der anderen" kommt aufgrund seiner Qualitäten dieses Jahr zu Piazza-Ehren.
 
Im Wettbewerb läuft Dito Tsintsadzes "Der Mann von der Botschaft", die Geschichte eines deutschen Botschaftsmitarbeiters in Tiflis (Burghart Klaußner, "Die fetten Jahre sind vorbei"), der das Straßenmädchen Saschka (Lika Martinova) kennen lernt und sich ihrer annimmt. Produziert wurde der Film von der Kölner Tatfilm in Zusammenarbeit mit ZDF und Arte.
 
Mit seinem Film "Gefangene" kehrt Regisseur Iain Dilthey zurück nach Locarno, wo er 2002 den Goldenen Leoparden für "Das Verlangen" erhalten hatte. "Gefangene" erzählt die Geschichte einer Annäherung zwischen einer zurückgezogen lebenden Biologin (Jule Böwe) und einem entflohenen Häftling (Andreas Schmidt, "Sommer vorm Balkon"), der sich in ihre Wohnung flüchtet.
 
"Solange Du hier bist" ist Stefan Westerwelles Diplomfilm an der Kunsthochschule für Medien Köln. Die Geschichte eines vereinsamten Mannes (Michael Gempart), dessen einziger Bezugspunkt die Liebe zu einem jungen Stricher (Leander Lichti) ist, wird im Wettbewerb der Reihe "Cinéastes du Présent" ("Filmmakers of the Present") gezeigt.
 
Freuen kann man sich auch auf eine komplette Retrospektive des finnischen Lakonikers Aki Kaurismäki, dessen neuer Film "Lights in the dusk" im Dezember in deutsche Kinos kommt.

Phat Girlz


USA 2006 (Phat Girlz) Regie: Nnegest Likké mit Nnegest Likké mit Mo'Nique Imes-Jackson, Jimmy Jean-Louis, Godfrey 98 Min. FSK: ab 6
       
"Dicke" von Marius Müller-Westernhagen war ein philosophisches Traktat - verglichen mit diesem Film! Die amerikanische Sitcom-Schauspielerin Mo'Nique Imes-Jackson braucht die volle Länge, um wachsendes Selbstbewusstsein und Zufriedenheit mit sich selbst darzustellen: "Du bist schön - so wie du bist!". Andere Schauspielerinnen wie etwa Whoopi Goldberg verkörpern das nebenbei, einfach so. Dazu gibt es bei Goldberg dann noch einen Film, hier ist der Film alles ... und nicht viel.
 
Jazmin (Mo'Nique Imes-Jackson) ist mollig und schwarz. Sie leidet in einer Welt, in der schwarze Männer nur mit blonden, bulemischen Modelchen rumlaufen. Erst die Nigerianer im Hauptpreis-Wellnesshotel in Palm Springs verachten die dürren Knochengestelle und himmeln Jazmin an. Drei Freundinnen landen nach einem Leben voller Beleidigungen und Verachtung in einer "verkehrten Welt", die gar nicht so besonders ist. Denn dort sind nicht alle Schönheitsideale von der Gehirnwäsche der Light-Werbung einplaniert.
 
"Phat Girlz" ist nicht mehr als eine zum Spielfilmchen aufgeblasene "Dove"-Werbung, voll mit äußerst dünner Handlung und völlig überdehntem Happy End. Nur mäßig kann die Hauptdarstellerin Sympathien sammeln: Knallhart wie ihr Fausthieb sind ihre Sprüche. Das freche Mundwerk schließt sich nur, wenn wir ihre heimlichsten Gedanken zwischendurch hören. Doch der Film ist nur selten so böse wie Jazmin sein will, etwa im Burger-Laden mit Hüftfett-Burger und anderen Gemeinheiten. Wenn der harmlose "Phat Girlz" gar nach dramatischen Mittel sucht, sieht er aus wie ein Übungsfilm von der Filmhochschule.