27.2.06

The Weather Man


USA 2005 (The Weather Man) Regie: Gore Verbinski mit Nicolas Cage, Sir Michael Caine, Hope Davis 102 Min. FSK: ab 6
 
Mehr Zustand als Handlung oder Drama, ließe sich "The Weather Man" als banaler Plot verkürzen: Ein regional bekannter, amerikanischer Kachelmann bekommt ein Angebot, bei der bekanntesten amerikanischen Morning Show dem ganzen Land das Wetter zu präsentieren. Doch gerade bricht sein gesamtes Leben zusammen. Trennung von der Frau, das Verhältnis zu den Kindern wird immer schwieriger, sein Vater wird mit Krebs diagnostiziert. Der "Wettermann" David Spritz (Nicolas Cage) bewegt sich hart an der Grenze zum Wahnsinn, die eigentlich beruhigenden Übungen mit Pfeil und High-Tech-Bogen entwickeln sich immer bedrohlicher, bis David von allen ängstlich beäugt mit der Waffe auf dem Rücken durch die Straßen der Stadt marschiert. In Gewaltausbrüchen entlädt sich angespannte Frustration. Der Wettermann wettert nicht nur gegen die ganze Welt, er schlägt und schießt auch um sich.
 
Diese meteorologische Beobachtung eines Gemütstiefs ist in der Art eher verwandt mit Atom Egoyans Scharfschützen "Der Schätzer" als anderen Filmen von Regisseur Gore Verbinski wie etwa der "Fluch der Karibik". Doch in der Charakter-Studie einer Grenzsituation und der sehr eindrucksvollen Verkörperung durch Nicolas Cage liegt der Reiz vom "Weather Man". Die Hoffnung, jetzt würde sich alles ändern, gleitet ab in Wahn. Die trübe Wetterlage - man bereitet dem todkranken Vater Robert (Michael Caine) eine Gedenkfeier zu Lebzeiten! - ist aufgelockert durch abstruse Running Gags. So wird David dauernd mit Fast Food beworfen. Vor allem um die schwierige Vater-Sohn-Kommunikation in gleich drei Generationen dreht sich die persönliche Entwicklung. Mit der letztendlichen Erkenntnis von Robert/Caine, in diesem beschissenen Leben müsse man einige Dinge einfach laufen lassen.

The New World


USA 2005 (The New World) Regie: Terrence Malick mit Colin Farrell, Q'Orianka Kilcher, Christopher Plummer 135 Min. FSK: ab 12
 
Ein Mythos und ein schöner Traum: Die Begegnung des britischen Neuankömmlings John Smith und der Indianerprinzessin Pocahontas im Virginia des 17. Jahrhunderts. Die ersten Engländer an der Küste des späteren New England, schwer bewaffneten "Pilgrims", gehen im ersten Winter beinahe an Krankheiten und Hunger zugrunde. Nur der eigenwillige Captain John Smith (Colin Farrell) hat intensiveren Kontakt zu den Bewohnern, die diese nichtigen Parasiten gnädigerweise dulden und nicht direkt wieder ins Wasser treiben. Smith wird gefangen genommen, soll hingerichtet werden, doch im letzten Moment rettet ihn die Häuptlingstochter Pocahontas (Q'Orianka Kilcher). Der Engländer bleibt einen Winter bei den Indianern, verliebt sich in Pocahontas. Ein Traum vom gemeinsamen Leben, von einer anderen Zukunft, einer anderen Weltordnung gar schwillt in einer Rheingold-Erwartung an. Doch Smith macht fortan auf Karriere, sucht einsam die Nord-West-Passage. Pocahontas gibt sich unglücklich einem Tabakpflanzer hin und wird auf grausame Weise domestiziert, schließlich gar als Trophäe dem König in London vorgeführt.
 
Pocahontas inspirierte Neil Young zu einem seiner besten Songs, Klaus Theweleit zu tausend Seiten Demystifizierung und Disney zu einem lächerlichen Zeichentrickfilm. Nun gestaltete Terrence Malick ("Badlands", "Days of Heaven", "Thin Red Line") ein grandioses Leinwand-Gedicht, grausame Ernüchterung inklusive. Anfangs sind es Bild- und Tonkompositionen des Glücks mit den Off-Gedanken eines Poeten und Freigeistes. Wer die Dualität von wahrem und falschem Leben oder die Natursymbolik als naiv bemängelt, verpasst den Zauber des Gesamtwerkes. Nicht einzelne Worte, der größtenteils auf Originaldokumente basierenden Texte, sind relevant, sondern der Klang. So wie sich auch die atmosphärischen Bilder abseits der mechanischen Narration mit Horners Musik treiben lassen. Man sehnt sich geradezu nach mehr wogenden Wiesen, nach den 30 Minuten, die Malick aus der Originalfassung schnitt.

Capote


USA 2005 (Capote) Regie: Bennett Miller mit Philip Seymour Hoffman, Catherine Keener, Clifton Collins jr. 114 Min. FSK: ab 12
 
Philip Seymour Hoffman ist genial. Philip Seymour Hoffman ist "Capote". Dieser Schauspieler kann ein zum Pinocchio recyceltes Branchenverzeichnis zur spannenden Figur machen. Bei den anstehenden Oscar-Verleihungen könnte die Konkurrenz nur aus Mitleid eine Chance haben. Doch "Capote" ist nicht nur Philip Seymour Hoffman, es ist auch ein faszinierendes Porträt des Schriftstellers Truman Capote, eine mutig unkonventionelle Film-Biografie.
 
Regisseur Bennett Miller konzentriert sich in seinem Regiedebüt nur auf eine Phase im Leben des legendären und schillernden Truman Capote. Der berühmte Autor von "Frühstück bei Tiffany" ist gern gesehener Mittelpunkt der kulturellen Elite New Yorks. Aufgrund einer Zeitungsmeldung macht er sich auf in die Provinz von Kansas, wo in einer Kleinstadt eine ganze Familie umgebracht wurde. Mit seiner Jugend-Freundin Nelle Harper Lee (die "ganz nebenbei" den Erfolgsroman "To Kill a Mockingbird" schrieb), seinem langer dotterfarbener Mantel und dem Kashmere-Schal schockiert er das Dorf fast mehr als die Bluttat. Am nächsten Tag kleidet ihn bereits schon Schwarz und mit einer ganz eigenen, gleichermaßen fordernden wie einfühlsamen Neugierde fühlt er sich in Tat und Täter ein. Capote ist ein sehr sensibler, guter Beobachter, memoriert Gespräche Wort für Wort. So gewinnt er selbst die Herzen des stockkonservativen und verhärteten Sheriffs und der beiden Mörder.
 
Akribisch sammelt der Reporter über die Jahre von Verhaftung, Verurteilung und langwierigen Einspruchsverfahren alle Details für den ersten Tatsachenroman zu einem Mordfall: "Kaltblütig". Wobei der Titel auch einen Wesenzug Capotes beschreibt, denn immer schwankt das Gefühl für ihn zwischen faszinierter Zuneigung und Abscheu wegen der berechnenden Art, wie der Schreiber alle Beteiligten benutzt. Im Warten auf die Hinrichtungen und damit auf die Veröffentlichung von "Kaltblütig" zerbricht Capote, verfällt völlig dem Alkohol und wird bis zu seinem Tod kein weiteres Buch mehr schreiben.
 
Philip Seymour Hoffman irritiert und formt die Figur Capote vor allem mit einer fipsigen, quengelnden Stimme, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und dann doch in der so ambivalenten Persönlichkeit Capotes verschwindet. Seine Gesten sind offensichtlich, doch seine Homosexualität schwingt nur latent mit, so wie auch seine Beziehung zu einem Mann dezent mitfließt. Hier verfällt man doch wieder der Meisterschaft des Charakterdarstellers, der selbst zum Schwärmen zu viele glänzende Rollen hingelegt hat. Meistens neben den Hauptdarstellern und trotzdem immer die faszinierendsten Momente einheimsend: Als Transsexueller neben DeNiro in "Makellos", als Pfleger neben Tom Cruise in "Magnolia". Wer erinnert sich an seine Wut in "Punch Drunk Love", an "Almost Famous"? Und auch im ersten Hannibal Lecter "Roter Drache" war er dabei. Hauptrollen gab es erst als Spielsüchtiger in "Owning Mahowny" oder als faszinierender Sonderling in dem völlig vergessenen Meisterwerk "Love Liza".
 
Nun trägt er diese außerordentliche Biografie, die allerdings außerdem meisterlich Stimmungen, soziale Milieus, Zeitumstände und einen kreativen Prozess schildert.

Requiem


BRD 2005 (Requiem) Regie: Hans-Christian Schmid mit Sandra Hüller, Burghart Klaußner, Imogen Kogge, Jens Harzer 93 Min.
 
Die Perspektive ist wichtig. Wer den "Exorzismus der Emiliy Rose" gesehen hat, wird "Requiem" ganz anders erleben. Beide basieren auf der gleichen, tatsächlich in den Siebzigern in Süddeutschland erfolgten Tötung einer Studentin aus religiösen Motiven. Allerdings: Die wenigsten werden sich einen üblen amerikanischen Horrorfilm und auch einen engagierten deutschen Autorenfilm ansehen. Regisseur Hans-Christian Schmid ("Crazy") geht es bei "Requiem" nicht um den "Exorzismus (der Emiliy Rose)", sondern - wohl auch biografisch - um enges Leben im dörflichen Milieu.
 
Als Michaela (Sandra Hüller) die Zusage von Studentenwohnheim in Freiburg bekommt, geht der Familienkrach los: Die lieblose, konflikt-scheue Mutter, die jede Entwicklung der jungen Frau ersticken will, benutzt Michaelas Epilepsie als Vorwand, sie im Dorf zu behalten. Schließlich musste ja schon in der Oberstufe ein Jahr ausgesetzt werden. Doch der Vater hilft dem ängstlichen Kind heimlich und darf die Freude beim gelungenen Auf- und Ausbruch teilen. Nach ersten Anlaufschwierigkeiten der nicht sehr geselligen und auffällig religiösen Michaela genießt sie das freie Leben und geht sogar auf Partys. Dem ersten Rumknutschen mit einem Freund folgt ein epileptischer Anfall.
 
Schlechtes Gewissen aufgrund einer erstickenden religiösen Erziehung? Zufall? Oder teuflische Besessenheit? Letzteres schließt Schmid gänzlich aus. Der verzweifelte Kampf Michaelas um ein eigenes Leben, die Zunahme der epileptischen Anfälle und die Hilflosigkeit von Freunden und Familie bieten genug Spannung. Eine ganz schlichte, alltägliche Tragik und deshalb auch besonders wirkungsvoll. Bis zum Ende, das - besonders grausam - den letzten freien Moment Michaela zeigt und das Sterben vorenthält.
 
"Requiem" schildert den Fall einer Studentin, die in Süddeutschland von besessenen Priestern umgebracht wurde. Nicht die Teufelsaustreibung selbst, sondern körperliche Erschöpfung haben Michaela amtlicherweise umgebracht. Und Aberglaube sowie katholischer Extremismus. Eine gute ärztliche Behandlung und eine Psychotherapie wären der einzig vernünftige Weg gewesen, das legt "Requiem" nahe.
 
Hans-Christian Schmid ("23"), der Entdecker zukünftiger Jungstars (Franka Potente mit "Nach Fünf im Urwald", Robert Stadlober mit "Crazy"), arbeitete in seiner nüchternen Analyse eines religiösen Mordes durch katholische Exorzisten, wieder mit einer bemerkenswerte Schauspielerin. Sandra Hüller, die traumhaft unsicher die keineswegs vom Teufel besessene Epileptikerin spielt, erhielt gerade bei der Berlinale den Silbernen Bär als Beste Darstellerin 2006. Ebenso beeindruckt Jens Harzer als "Exorzist", der auch in einem anderen neuen deutschen Film in der Hauptrolle als zynischer "Lebensversicherer" eine ganz große Show abzieht.
 
Vor allem aber ist "Requiem" eine nüchterne und trotzdem erschreckende Analyse deutscher Lebensumstände, die (ohne irgendwelche Horrorelemente) mit distanzierter Handkamera aufgenommen wurde.

Underworld: Evolution


USA 2006 (Underworld: Evolution) Regie: Len Wiseman mit Kate Beckinsale, Scott Speedman, Tony Curran 108 Min. FSK:       ab 16
 
Schön, dass Vampire so haltbar sind. Gefriergetrocknet und platzsparend runzlig überleben sie problemlos einige Jahrhunderte. Da lassen sich endlos Fortsetzungen abdrehen und auch in der Vergangenheit hat der "Underworld"-Bruderzwist zwischen Werwölfen und Vampiren eine Blutspur hinterlassen: Im Jahre 1202 wurde William vom Wolf gebissen, sein Bruder Marcus von der Fledermaus. Mehr braucht man nicht zu wissen, denn von dort an prügeln, pfählen und enthaupten sich Vampire und Werwölfe, dass es nur so scheppert und an der Kinokasse klasse klingelt. "Underworld: Evolution" bringt der Lack- und Leder-Action allerdings nicht, wie es der Titel verspricht: Entwicklung, sondern als zweiter Teil nur Fortsetzung.
 
Nach einem historischen Prolog mit dem bekannten Schlachten in schimmernden Rüstungen finden wir das Liebespaar aus Vampirfrau Selene (Regisseursgattin Kate Beckinsale) und Wolfmensch-Hybrid Michael (Scott Speedman) auf der Flucht vor ihren Clans. Das kann in der besten Familie vorkommen, doch bei diesen bisswütigen Gesellen bekommen Bluterbe und Blutrache eine ganz andere Bedeutung. Die lieben Verwandten verwandeln sich bei Streit in schreckliche Monster - ganz wie das in einigen Beziehungen auch passiert. Besonders die übermächtigen alten Vampire, ganz ganz große Fledermäuse, machen mit dem spitzen Ende ihrer Flügel eklig fiese Sachen.
 
So entsteht rasend schnelle Aktion in knackigen Lederklamotten (für Selena) und ein nicht besonders originelles Verfolgungsrennen. Obwohl, je nachdem welcher bissigen Rasse die Jäger und Gejagten angehören, muss man ja auch vor der Sonne fliehen. Das gibt dann immer Gelegenheit zu Schäferstündchen in Kellern und Verließen. Wer wollte nicht immer schon mal sehen, wie sich Vampire küssen - ganz vorsichtig...
 
Um die arg blutleere Story der alten Familiengeschichte und Selenas Geheimnis häufen sich blutverschmierte Monstervisagen mit unappetitlichen Fängen. Man beschießt sich mit Blei, Silber und Licht, aber man kloppt sich auch gerne ganz primitiv mit den Fäusten. Und zwar ausdauernd, da man ja weitgehend unsterblich ist. Dabei nervt vor allem das ewige Morphing, die Transformation von Mensch zu Werwolf, die mittlerweile wirkt wie aus dem Sonderangebot. Auch ansonsten ist dies eine Produktion, die mit ihrem "düsteren Look" weitgehend kostengünstig im Studio stattfinden konnte, denn Vampire sind ja lichtscheu! Zumindest gönnt sich "Underworld" den Kampf bis zum Ende und bedient sich nicht der einfachsten Ausfahrt zum wahrscheinlichen dritten Teil.

20.2.06

Syriana


USA 2005 (Syriana) Regie: Steve Gaghan mit Matt Damon, George Clooney 128 Min.
 
George Clooney rennt einer "verloren gegangenen" Waffe hinterher. Das hatten wir als "Peacemaker" schon mal mit Nicole Kidman und es war furchtbar. "Syriana" ist anderes Kaliber. Diesmal spielt Clooney nach den Memoiren des CIA-Agenten Robert Baer einen solchen CIA-Agenten, der anfangs missliebige Politiker in aller Welt umbringt. Am Ende versucht er, sein Zielobjekt zu retten. Steve Gaghan, der das Drehbuch zum Drogengeflecht "Traffic - Macht der Kartelle" schrieb, inszenierte sein neuestes Werk zur Unübersichtlichkeit der Welt. Es geht ums Öl im Nahen Osten, amerikanische Konzerne und chinesische Konkurrenz, Emirate und Thronfolger. Und immer um Väter und Söhne.
 
Matt Damon spielt den Schweizer Wirtschaftsexperten Bryan Woodward, der nach dem tragischen Tod seines kleinen Sohns Berater des arabischen Prinzen Nasir (Alexander Siddig) wird. Dieser schockierte damit, die Ölrechte seines Landes an eine chinesische Firma zu verkaufen. Weswegen der pakistanische Ölfeldarbeiter Wasim (Mazhar Munir) entlassen und von einer militanten religiösen Organisation aufgefangen wird.
 
Ein seltsames Konglomerat aus amerikanischer Justiz, Konzernen und Geheimdiensten will mit den Puppen der Weltpolitik, mit den Stammhaltern spielen. Aber letztendlich können sie nichts kontrollieren, die Geister, die sie riefen, machen sich alle selbständig.
 
Ein guter Film, ein besonderer. Denn "Syriana" erfordert nicht nur hohe Konzentration während er abläuft. Es geht in Gesprächen auf verschiedenen Ebenen um globale Verflechtungen und Intrigen, bei denen auch die "Global Player" nicht mehr durchblicken. "Syriana" ist so komplex, dass es vom Hersteller eine Bastelanleitung zum Film gab (keine Schlüssel allerdings). Die sehr gut gespielten persönlichen Stränge halten einen beim verwirrenden Geschehen, sind allerdings nicht so stark wie in "Traffic". Auch die Musik von Alexandre Desplat ist auffällig zurückhaltend. Nachher muss man sich fragen, was jetzt eigentlich passiert ist. Nichts!? Alles wie gehabt? Eine Menge Blut geflossen für Öl. Genauso viel gegen das Öl.

Entgleist


GB 2005 (Derailed) Regie: Mikael Håfström mit Clive Owen, Jennifer Anniston, Vincent Cassell, Melissa George, Giancarlo Esposito ca. 100 Min.
 
Der liebevolle, aber leicht frustrierte Ehemann und Vater Charles Shine (Clive Owen) trifft im Zug zur Arbeit die witzige, selbstbewusste Lucinda Harris (Jennifer Aniston). Sie reizen sich mit Humor und Charme, gehen zusammen essen und dann ins Bett. Der gemeinsam doppelte Seitensprung mit Haltungsnote verkrampft wird im billigen Hotel plötzlich von einem Gangster (Vincent Cassel) unterbrochen. Die Romanze entgleist zum heftigen Krimi, denn der brutale Franzose vergewaltigt nicht nur Lucinda, er erpresst Charles auch und bedroht dessen Familie. So lange, bis Charles beginnt sich zu wehren. Dabei rutscht er immer tiefer in die Sache rein, bis er auch noch mit einem Mord zu tun hat.
 
Die Geschichte wird als Erinnerung aus dem Knast erzählt. Charles diktiert seiner Tochter für einen Aufsatz: "Der Autor fesselt den Leser, indem er die Geschichte immer wieder überraschend wendet." So aufmerksam gemacht, entdeckt man frühe Hinweise auf Täuschungen und Masken. Doch die häufigen Wendungen belasten die psychologische Integrität der Hauptfigur: Charles Shine wirkt zeitweise albern, wenn er immer genau das Falsche macht. Und völlig unglaubwürdig, wie er dann in Rambo-Manier aufräumt. Der Schein trügt hier zu oft. (Und als weitere Entgleisung propagiert der Thriller die Selbstjustiz des kleinen Mannes.)
 
Dabei sieht Clive Owen sehr gut aus in der Rolle. Ist aber auch nicht schwer, neben der Ex-"Friends"-Fernsehschauspielerin Jennifer Aniston zu glänzen. Sie versucht seit Jahren vergeblich, auf der großen Leinwand anzukommen.
 
Nachdem sich alles wunderbarer Weise auflöst, schlägt die Story noch einen letzten Hacken. Doch das ist längst nicht mehr originell, das ist der übliche Nachschlag, den meist billige Horrorfilme servieren. Nebenbei wirkt es auch ziemlich prüde und bigott, wenn ein Seitensprung so drastisch abgestraft wird.

Berlinale - Bangkok

Gilliamesch-Epos (dt: Eine Terry Gilliam-Verrücktheit)
 
Plötzlich, als so viele Asiaten im Kino saßen und den so sympathisch ehrlichen Geschichten des filmischen Fantasten Terry Gilliam zuhörten, wusste ich, dass etwas passiert sein musste. Das war nicht mehr die Berlinale! Da hatte ich doch irgendwo die falsche Bahn in Berlin genommen und bin in Frankfurt statt ins Kino in einen Flieger gestiegen. Deshalb liefen dort so schlechte Filme ("Sky High"), das war Flight Entertainment! Und Essen im Kino war mir auch neu. Das mit den Asiaten hatte ich mir mittlerweile erklärt: Mitternachtsschiene im Forum! Die Hitze und Feuchtigkeit beim Rausgehen ließ direkt die Brille beschlagen - na ja, hat wohl jemand die Heizung angelassen. Dann vorbei an all den langen Schlangen, rein ins Shuttle und direkt ins Kino, wo wie gesagt Terry Gilliam erzählte.
 
Ein Blick aufs Programm machte klar: Ich bin nicht mehr bei der Berlinale sondern beim Bangkok Filmfestival. Die 16 Stunden Transfer muss ich wohl irgendwie verpennt haben, kein Wunder beim Schlafmangel. Allerdings ist hier auch etwas komisch: Eines der riesigen Riesen-Plakate am Straßenrand, wo man das Gefühl hat, die ganze Metropole ist Straßenrand, verkündete "Rainy Day in Bangkok". Muss wohl eine Band sein, dachte ich. Aber nein - ES REGNET in Bangkok! Wenigstens ist der Regen circa 30 Grad warm ... Und man geht aus Klimagründen sowieso vom Hotel direkt in die asiatisch Billisch-Einkaufspassage, vorbei am MBK-Restaurant, durch das Tokyu-Kaufhaus (ne Art Woolworth), kurz nach draußen in die Schwüle, um auf einem Sky Walk überdacht (sonnengeschützt!) die Kreuzung zu überqueren, eine Etage hoch wieder ins Shopping-Center, diesmal edles Siam-Discovery, Rolltreppe hoch, quer durch zum Siam-Center, da eine Rolltreppe runter und wieder quer durch kurz über einen furchtbar künstlichen Platz mit Brunnen und so und rein ins gigantische, frisch eröffnete Siam Paragon. Das sind circa 2 vollklimatisierte Kilometer. Draußen wäre man schweißgebadet und käme auch nicht richtig über die Straßen.
 
Das neue Festivalcenter im Paragon Cineplex ist so unglaublich groß, dass man allein auf dem Verbindungsgang zwischen Info-Halle und Kinos locker ein kleines Festival von der Größe Mannheims unterbringen könnte. Fortsetzung folgt mit Christopher Lee, Oliver Stone, Catherine Deneuve und Patricia Kelly ... die sich alle auch nach Bangkok verirrt haben.
 
http:// bangkokfilm.org

Stay


USA 2006 (Stay) Regie: Marc Forster mit Ewan McGregor, Naomi Watts, Ryan Gosling, Janeane Garofalo, Bob Hoskins 99 Min.
 
Wahnsinn in seiner aufregendsten Form: Marc Forster ("Monster's Ball", "Wenn Träume fliegen lernen") schickt in "Stay" Ewan McGregor ("Star Wars") in ein auch optisch faszinierend verwirrendes Psycho-Labyrinth bis zur Überraschung im Stile von "The Sixth Sense". Der New Yorker Psychiater Sam Foster (Ewan McGregor) übernimmt den Fall des Kunststudenten Henry Letham (Ryan Gosling), der nach einem Unfall auf der Brooklyn Bridge sehr wirr wirkt. Dazu macht er seltsame Vorhersagen, die sich völlig unerklärlich bewahrheiten. Was die Ankündigung Henrys, er werde sich in drei Tagen, an seinem 21. Geburtstag, exakt um Mitternacht umbringen, noch erschreckender wirken lässt. Das klassische Verhältnis Doktor-Patient löst sich bald ebenso auf wie die Sicherheit Sams. Henry verschwindet und die Suche nach ihm wird zum Albtraum für Sam. Seine Freundin Lila (Naomi Watts), eine ehemalige Patientin und selbstmord-gefährdet, nennt ihn Henry. Sams blinder Freund und Schachpartner (Bob Hoskins) soll Henrys Vater sein. Begegnungen mit Henrys Bekannten wandeln sich zu Horror-Visionen. Wiederholungen häufen sich, Sam wandelt in Deja Vues und gescratchten Momente vor und zurück.
 
Dieses psychologische Verwirrspiel ist vor allem ästhetisch reizvoll, mit einer sorgfältigen Strukturierung des Raums, der Hintergründe bei Kunstausstellungen oder im Aquarium. Spiegel oder Arrangements mit Schachfiguren korrespondieren mit verwirrenden Konstruktionen aus Glas und Stahl im Stile von Escher (Kamera: Roberto Schaefer). Atemberaubend rasante Übergänge zwischen den Szenen treiben die Handlung voran, allein das Sounddesign kann einen schon wahnsinnig machen. Bis zur finalen Auflösung, bis zum schon zunehmend befürchteten Platzen einer inhaltlich recht leeren Blase (Drehbuch: David Benioff). "Stay" hat den Überraschungseffekt von "Sixth Sense", "Signs" und "The Village" von M. Night Shyamalan. Nur ist das leider nicht mehr wirklich überraschend.

Ich und Du und alle, die wir kennen


USA 2005 (Me And You And Everyone We Know) Regie und Buch: Miranda July mit John Hawkes, Miranda July, Brad William Henke 91 Min.
 
"Obschönitäten (sic!) und Wunder" hätte dieses kleine Meisterwerk auch heißen können. Oder einfach: "Unglaublich!" Der erstaunlich vielseitigen, 1974 geborenen amerikanischen Künstlerin Miranda July gelang mit ihrem ersten Spielfilm "Me And You ..." ein schillerndes Gebilde kreativer Ideen und anrührender Momente.
 
Wann hat man im Kino schon mal um das Leben eines Goldfischs gebangt? Christine fährt gerade wieder mit ihrem Senioren-Taxi durch die Stadt und beobachtet, wie ein nachlässiger Vater das Tierchen im Plastikbeutel auf dem Dach seines Wagens vergisst. Mitten im fließenden Verkehr versucht Christine nun, durch gleichmäßige Geschwindigkeit den Fisch zu retten. Nicht ohne ihm vorher in einem Gebet versichert zu haben, dass er in seinen letzten Minuten geliebt wurde.
 
Dies lächerlich kleine, wunderbare Drama ist nur einer der zahlreichen ganz eigenen, ganz besonderen Momente, dieses gleichzeitig verträumten und doch kristall-klaren Films. Protagonistin ist die Regisseurin selbst in der Rolle Christines, einer Künstlerin, die Urlaubsfotos mit unterschiedlichen Rollen und dem Rauschen des Fernsehers vertont. Diese Videokunst der unscheinbaren, stillen, in rosa Tönen gestreiften Frau kommt bei zynischen, in schwarz gewandten Galeristinnen selbstverständlich nicht an. Ihre Begegnung mit dem philosophischen Schuhverkäufer Richard (John Hawkes) inspiriert Christine zu einer wunderschön kreativen und verspielten Romantik.
 
Neben dieser Begegnung fesseln noch vier andere, ebenso ungewöhnliche Beziehungen, die auch - sicherlich in den USA - provokanten Aspekte des Sexuellen enthalten. "3D and Touch in the Digital" (3D und Berührung im Digitalen Zeitalter) lautet der Titel einer Ausstellung im Film und könnte auch helfen, dem unerhört freudigen und herzerwärmenden Geschehen einen abstrakteren Sinn abzugewinnen. Besonders eindrücklich der Internet-Chat der beiden Söhne von Richard: Peter, klärt den kleinen Robby auf, dass die Frage nach den Brüsten herausbringt, ob ein Mann oder eine Frau an der anderen Seite in die Tasten hackt. Dann kommt der circa 7-Jährige mit einem analen Vorschlag, der selbst jemanden überrascht, der Prüderie nur als Variante beim Rollenspiel kennt.
 
"Me And You ..." wurde mit angenehm geringem Budget einfach inszeniert. Wohltuend auch die weitgehende Abwesenheit von Zynismus in den Figuren und überbetonter Angst in der Dramatik. Die weitgehend unbekannten Darsteller dürfen dadurch ihr Können voll ausspielen, vor allem John Hawkes als allein erziehender Romantiker Richard beeindruckt nachhaltig. Neben faszinierend schrägen Erwachsenen- und Kinder-Figuren erlaubt sich Miranda July auch treffende Seitenhiebe auf den Kunstbetrieb. Sie macht klar, wo naturalistische Bilder von Vögeln hingehören: In Bäume!

Familia Rodante - Argentisch Reisen


Argentinien, Spanien, Frankreich, BRD, Brasilien, GB 2004 (Familia Rodante) Regie und Buch: Pablo Trapero mit Liliana Capurro, Graciana Chironi, Ruth Dobel, Federico Esquerro 103 Min.
 
Road Movie ist, wenn sich Menschen auf einer Reise näher kommen. Doch die "Familia Rodante", diese argentinische "Familie auf der Straße", ist besonders. Näher kann man sich kaum kommen als diese, in ein hoffnungslos überfordertes Wohnmobil gequetschten vier Generationen. Aber sie werden sich intensiv erleben, sich und ihr Argentinien.
 
Eine Hochzeit bei einer entfernten Nichte steht an. Entfernt durch 1500 km und durch die lange Zeit, in der die 84-jährige Emilia (Graciana Chironi, die Großmutter des Regisseurs) ihre Schwester nicht mehr gesehen hat. Emilia muss nur einen kleinen Aufstand veranstalten, um ihre Familie davon zu überzeugen, mit ihr die Reise von Buenos Aires bis nach Misiones an der Grenze zu Brasilien anzutreten. Die Zeiten sind hart, man muss sich irgendwie durchschlagen. Also quetschen sich Emilia, ihre beiden Kinder, die Angetrauten, vier Enkel, ein Freund und eine Ur-Enkelin in das historische Wohnmobil mit einem Motor aus dem Jahre 1958.
 
Wechselnde Landschaften ziehen zu treibender Musik vorüber. Einen Blick nach draußen und frische Luft gibt es für die Passagieren im Fond nur über ein Mini-Fenster im Klo. Probleme sind da vorprogrammiert, mechanische und emotionale Pannen auch durch einen nachreisenden Liebhaber und lang unterdrückte Eheprobleme. Nach Norden hin wird es immer heißer, ein streunender Hund muss auch noch mitgenommen werden. Man könnte ein fahrendes Kammerspiel befürchten, doch immer wieder atmet das argentinische Road Movie bei (Zwangs-) Unterbrechungen, Picknicks und andere Pausen spürbar Freiheit.
 
Es liegt nicht nur daran, dass man gemäß Klischee eigentlich weiß: In Lateinamerika kochen Blut und Leidenschaften schneller hoch. Die beneidenswerte Gelassenheit und der lange Atem der Geschichte sind vor allem der entspannten Erzählweise des bemerkenswerten Regisseurs und Autors Pablo Trapero ("El Bonaerense") zuzuschreiben. Schnell fühlt man sich wohl, blickt den kleinen Aufgeregtheiten des Lebens entspannter entgegen und genießt vor allem am Ende die ausgiebig, fast dokumentarisch zelebrierte Hochzeit. Ein Erlebnis, das ohne die vorherige Reise so nicht möglich gewesen wäre.
 
Kontrollen korrupter Polizisten geben ein paar der Hinweise auf den Stand der Dinge in Argentinien. Wie beim großartigen argentinischen Fahrrad-Road Movie "El Sur" von Solanas wird das eigene Land, dieser halbe Kontinent, "erfahren", der Schwerpunkt liegt hier allerdings nicht auf dem Politischen. Die bewegten Bilder zeigen Menschen im Leben, Menschen in der Zeit. "Familia Rodante" wächst einem ans Herz durch sein ruhiges Tempo, dass umso mehr "mitnimmt". Faszinierend diese ungeheure Lässigkeit des Lebens, selbst nach heftigsten Streits. Ein mal aufgeregter, mal ruhiger Fluss ohne bemühte Wertungen oder Urteile. Eine Perle für das anspruchsvolle Kino und Menschen, die mit dem Kino Welt erfahren wollen.

Im Dutzend billiger 2


USA 2005 (Cheaper by the Dozen 2) Regie: Adam Shankman mit Steve Martin, Bonnie Hunt, Eugene Levy, Piper Perabo 93 Min. FSK o.A.
 
Ist der Titel eine Drohung? Wollen die uns tatsächlich den gleichen Film mit kaum erkennbaren Varianten zwölffach vorsetzen, weil das für die Produzenten billiger ist? Die völlig unoriginelle Komödie mit einem nervigen Steve Martin als zweiter Aufguss ist jetzt zu erleiden.
 
Kaum jemand wird sich erinnern, "Im Dutzend billiger" ist Dutzendware, ein Filmchen, das man ganz schnell vergisst. Da war die Karnickel-Familie der Bakers, der das Dauerchaos von zwölf Kindern nicht reichte. Papa Tom Baker (Steve Martin) machte auch noch auf berufstätigen Alleinerzieher, weil Mama (Bonnie Hunt) mit ihrem Bestseller auf Leserreise ging. So trainierte Tom schon mal sein Football-Team im Wohnzimmer, um gleichzeitig seine wilde Horde zu bewachen.
 
Jetzt verlagert Teil 2 den gleichen "Spaß" in den Wochenend-Urlaub draußen am See. Papa Tom will mit Camping und Hausen in einer erinnerungs-beladenen Bruchbude krampfhaft das bisherige Leben der Riesenfamilie aufrechterhalten. Denn zwei Töchter ziehen in andere Städte, da gerät der Familienvorstand in Panik. Allerdings gestaltet er den Familienausflug nach seinem Gusto und verdirbt jeden trotzdem aufkeimenden Spaß durch einen dummen Hahnenkampf mit dem Nachbarn, einem ekelhaft protzenden Angeber (Eugene Levy), der viel Geld, aber "nur" acht Musterkinder hat.
 
Viel Slapstick und sonstige Albernheiten geben Steve Martin Gelegenheit, schon mal für den "Rosaroten Panther" zu üben. "Im Dutzend 2" ist einer dieser Filme, bei denen jede wahllos ausgewählten fünf Minuten auf die Nerven gehen - Steve Martin ist für so was die beste Besetzung. Zur Begleitung dieser Welt ohne Drogen, ohne Irak-Krieg, ohne Coca-Cola zerfließt das Orchester in Süßlichkeit. Mal sehen, ob die Drehbuchautoren für den dritten Teil mal ins richtige Leben raus dürfen.

Elementarteilchen


BRD 2005 (Elementarteilchen) Regie: Oskar Roehler mit Moritz Bleibtreu, Christian Ulmen, Martina Gedeck, Franka Potente, Nino Hoss, Uwe Ochsenknecht 105 Min.
 
Aus hässlichem Entchen wird romantischer Schwan
 
Roehler spült Houellebecqs „Elementarteilchen" weich
 
Es war einmal ein unerträglicher Roman, voller Ekel, Weltverdruss und Selbsthass. Da kam ein bekannter Regisseur daher, dessen Filme bislang durchaus Ähnlichkeiten zu Houellebecqs Ergüssen hatten, der diesem Gollum der Bestseller-Liste irgendwie seelenverwandt schien und deshalb wollte niemand die Frucht beider jammervoller Gedankenwelten sehen. Außer den seltsamen Menschen, die immer noch Houellebecq-Romane kaufen, es sollen nicht wenige sein. Nun geschah aber das Wunder, dass aus dem ganzen rausgerotzten Lebensüberdruss ein ganz netter, sogar witziger und vor allem richtig romantischer Film wurde.
 
Dem in einigen Kreisen durchaus überschätzten Regisseur Oskar Roehler war Humor bislang nicht ganz unbekannt: Von „DIE UNBERÜHRBARE" bis „AGNES UND SEINE BRÜDER" wurden seine Filme immer weniger larmoyant und viel erträglicher. Nun lässt er sogar Bruno (Moritz Bleibtreu) und Michael (Christian Ulmen) lachen. Die beiden Halbbrüder sind die Anti-Helden von Houellebecq. Bruno quält sich mit sexuellen Frustrationen durchs Leben, kompensiert das mit heftigen Obszönitäten, Rassismus und an allem haben die 68er Schuld. Der geniale Biologe Michael hat seit früher Jugend auf Gefühle verzichtet und forscht an künstlicher Reproduktion der Menschheit ohne solche lästigen Randerscheinungen wie Sex oder Gefühle.
 
Nun hat Christian Ulmen schon viel zu viel Gefühl im Blick, sieht viel zu gut für die Houellebecq-Figur aus. Und obwohl der Stoff für Roehler sehr biographisch war, er wuchs wie die beiden Jungs bei seiner Oma auf, zeigt dieser das Beste, was man aus Houellebecq machen kann: Ein Liebesfilm mit frustriertem Clown (Bleibtreu) am Rand. Der Deutsche zeigt den Lebensverdruss des Franzosen viel weniger radikal in Wort und Gedanken. Die Verlierer, die sich aus persönlichem Unvermögen beim Umgang mit Frauen in sex- und gefühlslosen Theorien für gesamte Menschheit suhlen, bekommen ihre romantische Chance. (Ein Hohn übrigens, dass der sich so radikal gebende Houellebecq selbst noch an anderen alten Zöpfen wie Religiosität in Form von Anti-Islamismus hängt.)
 
Moritz Bleibtreu kann die desillusionierte Verzweiflung erschreckend gut spielen und bekam dafür auf der Berlinale einen Silbernen Bären als Bester Darsteller. Die ansonsten meist langweilige Martina Gedeck zeigt als tragisch sex-süchtige Christiane mit schwarzen Haaren eine ihrer besten Rollen. Überhaupt gibt es öfters ein lustiges Wiedersehen mit quer besetzten deutschen Stars. Als Michels Liebe Annabell eine leicht verhärmte Franka Potente. Uwe Ochsenknecht als versoffener Ex-Chirurg und Papa Brunos. Zum Nachdenken bleibt allerdings vor allem eine als Satire gemeinte Bemerkung am Rande eines libertinären Zeltlagers: Die Freiheit des anderen dehnt die meine bis ins Unendliche aus.
 
Und so wird aus dem Zusammentreffen zweier Giganten des Trübsalblasens erstaunlicherweise der am wenigsten radikale Roehler. Man ist vor allem erleichtert, weil der befürchtete Larmoyanz-Tiefpunkt so einfach und leicht humorig ausfiel.

Dem "Kakadu" Töne beibringen

Der mehrfach ausgezeichnete Komponist Dieter Schleip zu seinem neuen Film
 
Berlin/München. In den zwanzig Jahren seit er anfing, Filmmusiken zu komponieren, verdiente sich Dieter Schleip zweimal den Deutschen Filmpreis für die Beste Musik und auch noch den Preis der Deutschen Filmkritik 2001 für "Die Einsamkeit der Krokodile" sowie 2002 für "Der Felsen". Am letzten Donnerstag startete bundesweit "Der Rote Kakadu" von Top-Regisseur Regisseur Dominik Graf, der regelmäßig mit Schleip zusammen arbeitet. Günter H. Jekubzik sprach mit dem in München lebenden Musiker.
 
Schleips musikalische Karriere begann Mitte der Achtziger als Gitarrist in einer Punkband, bevor er beim Filmhaus Aachen mit Filmmachern zusammen kam und für ihre Werke komponierte. Nach der Beziehungskomödie "2 Männer, 2 Frauen - 4 Probleme!?", dem hoch gelobten Drama "Roula", "Die Einsamkeit der Krokodile" und "Der Felsen" ist "Der Rote Kakadu" ein weiterer Kinofilm auf Schleips Erfolgsliste. Er arbeitete in München mit renommierten Regisseuren wie Dominik Graf, Martin Enlen, Vivian Naefe und auch mit der ebenfalls aus Aachen stammenden Dagmar Hirtz zusammen. "Neben der häufigen Arbeit für das Fernsehen ist es mein Ziel, wenigstens einen Kinofilm im Jahr machen zu können."
 
"Der Rote Kakadu" ist die fünfte gemeinsame Arbeit mit Dominik Graf. Die FAZ porträtierte letzte Woche Dieter Schleip und befragte dabei Graf, weshalb er immer auf seinen Hauskomponisten zurückgreift. "Der findet die richtigen Töne", war die Antwort. Die Begeisterung ist beidseitig: "Er schubst mich in musikalische Ecken, wo ich vorher noch nicht war. Das macht mir erstmal Angst, ist aber auch eine Herausforderung. Ich freue mich auf jedes neue Projekt, wenn ich ihn nicht hätte, würde mir was fehlen. Er macht 'richtige' Filme, das gefällt mir."
 
Beim "Einfühlen" in die Zeit des "Kakadu", die DDR kurz vor dem Bau der Mauer 1961, half ihm das Buch "Nation ohne Haus - Deutschland 1945-1961" von Adolf M. Birke. "Ich liebe solche Recherche für Filmthemen, wenn du jeden Tag mit Film und Musik zu tun hast, sind Bücher eine echte Wohltat."
 
Schleip war im Vorfeld der Dreharbeiten sehr mit anderen Projekten beschäftigt und konnte deshalb keinen Einfluss auf die Originalsongs der Zeit nehmen. "Ich habe mich nur um die dramaturgische Filmmusik gekümmert. Zum ersten Mal konnte ich die Musik zuhause in München aufnehmen. Ich hatte fast die ganze Streichersektion der Münchner Philharmoniker im Studio und dazu noch viele erstklassige Solisten."
 
Obwohl der Komponist selbst lieber "einen roten Faden in der musikalischen Dramaturgie hat", musste er sich auf Grafs Wünsche einlassen: "Musiken kommen einmal und dann nie wieder. Es geht dann nur um die Szene, da muss die Musik passen, ob sie dann in die Gesamtdramaturgie passt ist egal." So ist die Musik für den "Kakadu" erst bei der Filmmischung entstanden: "Dominik hatte bis zum Schluss die Möglichkeit, selbst aus der großen, komplexen Orchesterpartitur einzelne Instrumente noch rein oder raus zu nehmen. Als Komponist
braucht man also ab und zu eiserne Nerven um mit dem Endergebnis klarzukommen."
 
"Der Kakadu war verhältnismäßig schnell fertig", die Arbeit an der Filmmusik erforderte nur etwas mehr als zwei Monate und ist jetzt auch auf CD zu hören, ein seltenes Vergnügen bei deutschen Filmen. Bald kann man Schleips Töne wieder häufig im Fernsehen hören. Im Moment arbeitet er an drei Fernsehfilmen für das ZDF.
 
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Die Website www.dieter-schleip.de zeigt den ganzen Umfang seiner Arbeiten.
Der Soundtrack erschien bei Normal Records.

19.2.06

Berlinale: Junge Filmkunst erntet Preise

Ein bewegender Spielfilmerstling um die emotionalen und tragischen Nachbeben des Jugoslawien-Krieges erhielt Samstagabend in einer großen Gala den Goldenen Bären der 56. Internationalen Filmfestspiele Berlins. "Grbavica" von Jasmila Zbanic steht für viele junge und unkonventionelle Filme, die von der Internationalen Jury ausgezeichnet wurden.
 
Die Koproduktion von Österreich, Bosnien/Herzegowina und Deutschland spielt in Sarajevo. Die 12-jährige Sara lebt allein mit ihrer Mutter Esma. Als das Geld nicht für den Schulausflug reicht, mehren sich Saras Fragen nach dem angeblich im Krieg verstorbenen Vater. Denn Kinder von Kriegshelden brauchen nicht zahlen. Doch in einer dramatischen Entwicklung muss Esma gestehen, dass sie in einem Kriegslager vergewaltigt wurde und gezwungen, zu gebären. Sara ist das Kind eines Chetnik!
 
Jasmila Zbanic wurde 1974 in Sarajevo geboren. Dort gründete sie eine Künstlervereinigung und Filmproduktion, mit der sie zehn Kurz- und Dokumentarfilme sowie Kunstvideos realisierte. "Grbavica" ist ihr erster Spielfilm.
 
Den Silbernen Bär für die Beste Regie 2006 erhielten Michael Winterbottom und Mat Whitecross für den politisch relevantesten Film "The Road To Guantanamo", der die völlig rechtlose Gefangennahme und Inhaftierung von vier Engländern durch die US-Armee dokumentiert.
 
Die vier deutschen Starter im Wettbewerb wurden mit Darstellerpreisen bedacht, wobei ausgerechnet der beste Film, "Sehnsucht" leer ausging. Hans-Christian Schmid entdeckte in "Requiem", der nüchternen Analyse eines religiösen Mordes durch katholische Exorzisten, wieder eine bemerkenswerte Schauspielerin. Sandra Hüller, die traumhaft unsicher die keineswegs vom Teufel besessene Epileptikerin spielt, erhielt den Silbernen Bär als Beste Darstellerin 2006. Für die beste männliche Hauptrolle wurde Moritz Bleibtreu als frustrierter Verlierer in Oskar Roehlers "Elementarteilchen" ausgezeichnet.
 
Ein weiterer Silberner Bär ging an Jürgen Vogel für seine künstlerische Gesamtleistung als Schauspieler, Ko-Autor und Ko-Produzent des Films "Der freie Wille" von Matthias Glasner, in dem Vogel als Vergewaltiger gegen seine Triebe kämpft. Dabei bewegt er sich abseits vom klassischen Schauspiel im Bereich des zurzeit so beliebten Improvisierens. Relativ moderne Tendenzen wurden bei fast allen Preisen gewürdigt, so ging der Alfred-Bauer-Preis für einen Film, der „neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet" an den Geheimfavoriten "El custodio" (Der Schatten) von Rodrigo Morenom, der nüchtern konzentriert einen argentinischen Bodyguard porträtiert.
 
Die Berlinale 2006 mit 1.115 Vorführungen von 360 Filmen erlebten mehr als 19.000 Akkreditierte aus 120 Ländern und über 150.000 Zuschauer. Wichtiger als die Zahlen mag die überaus positive Außenwirkung sein, dass man ein hochwertiges Festival auch ohne lauten Starauftrieb inszenieren kann.

Berlinale: Der Tiger und der Schnee


Italien 2005 (La tigre e la neve) Regie: Roberto Benigni, mit Roberto Benigni, Nicoletta Braschi, Jean Reno, Tom Waits 113 Min.
 
Das Leben ist schön für den zerstreuten, fahrigen, vergesslichen Poeten Atillio (Benigni). Wie es seine Mitmenschen empfinden, weiß man nicht, denn die Quasselstrippe betätigt sich auch als Perpetuum Mobile des simplen Scherzes. Allen anderen bleiben nur staunende Blicke. Seine Traumfrau Vittoria (Benigni reale Frau Nicoletta Braschi) antwortet den albernen Nachstellungen allerdings deutlich mit "Nein". Nur in seinem immer wiederkehrenden, schönen Traum steht der nervige Scherzkeks mit ihr in idyllischer Umgebung und in Unterhosen vor dem Traualter. Tom Waits musiziert dazu wunderbar. Von dieser fellinesken, poetischen Szene (Benigni wurde einst vom Meister als Mondmann engagiert und geadelt) geht es bald wieder zum makabren Klamauk, als Übersetzerin Nicoletta beim Besuch eines persischen Dichters (Jean Reno) durch einen Bombenangriff das Bewusstsein verliert. Mit aberwitziger Geschwindigkeit folgt Stalker Atillio ihr nach Bagdad - als vorgeblicher Arzt beim Hilfstransport. Im schematischen Wettlauf gegen immer neue medizinische Probleme schafft er trotz Kriegszustandes und einmarschierender Amerikaner die Heilmittel heran. Dabei muss auch mal eine geplünderte Taucherausrüstung als Beatmungsgerät herhalten.
 
Das Leben mag schön sein, diese Komödie ist nur schön blöd. Benigni gibt wieder das "Monster" schlechten Humors, kehrte zurück zu seinen dümmlichen bis zotigen Scherzen, die er auch vor seinem erstaunlichen KZ-Film "Das Leben ist schön" verbrach. Der italienische K.O.-Komiker hätte einen Regisseur gebraucht, der seine Albernheiten bei diesem unerträglichen Märchen aus 1001-Kriegsnacht, einem unverschämt unblutige Studio-Irak dosiert. Der Flachwitz-Flummi macht bei seinem "Das Leben ist schön 2" vor nichts halt. Mal sehen, über welches Massenmorden er demnächst seine Scherze macht. Ruanda? Armenien?

17.2.06

Berlinale: Blicke lenken


"Unspektakulär Spektakulär" so fasste Festival-Chef Dieter Kosslick seine 5.Berlinale zusammen. Da passt es, dass gerade die stillen Filme Eindruck machten. Und ein Politikum. Heute Abend endet die 56.Berlinale mit der Preisverleihung. Die Entscheidungen der internationalen Jury um Präsidentin Charlotte Rampling werden erstmals nicht vorher bekannt gegeben. Aus Rücksicht auf den Medienpartner ZDF, der großes Interesse zeigte und mit einem Studioungetüm den Blick auf das abendliche Defilee versperrte.
 
Neben den üblichen Stars - in diesem Jahr von Meryl Streep über George Clooney bis zu Vin Diesel - konnte Kosslick drei ehemalige Guantanamo-Häftlinge zur Premiere von "The Road to Guantanamo" auf dem roten Teppich begrüßen. Überhaupt wurde weltweit und vom Autoren- bis zu einem Mainstream-Film wie "V for Vendetta" deutlich Kritik an demokratischen Regierungen. Da fliegt im großen, triumphierenden Finale das Westminster-Parlament minutenlang in die Luft - und es ist das Happy End für den maskierten Rächer in "Vendetta"! Da wird in  "The Road to Guantanamo" des ehemaligen Berlinale-Siegers Michael Winterbottom ("In this Country") gefoltert und erniedrigt - von amerikanischen und englischen Soldaten. Ein argentinischer Leibwächter erschießt in dem konzentrierten Protokoll "El Custodio" (Der Schatten) seinen Chef, den Minister.
 
Ebenso still intensiv wie "El Custodio", der in Cannes Siegerfilm sein könnte, erzählt "Sehnsucht", die große Überraschung unter den vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen: Valeska Grisebach ("Mein Stern") inszenierte ihr Romeo und Julia auf einem brandenburgischen Dorfe mit Laien. Der verschlossene Schlosser Manfred wird Zeuge eines Selbstmords und kann sich danach nicht zwischen zwei Frauen entscheiden. Auf den ersten Blick macht die dörfliche Umgebung nicht viel her, doch das Drama wurde mit Raffinesse, viel mehr Magie und Kunst als der triste Hintergrund vermuten lässt und dem überraschendsten Ende des Festivals zum Geheimfavorit.
 
Als letzter Starter der deutschen, die sich gegen internationale Produktionsmillionen schwer taten, ging Hans-Christian Schmid ("Crazy") mit "Requiem" gestern an den Start. Es geht ihm bei der Studentin, die in Süddeutschland tatsächlich von besessenen Priestern umgebracht wurde, nicht um den "Exorzismus der Emiliy Rose", sondern - wohl auch biografisch - um enges Leben im dörflichen Milieu. Schmid, der Entdecker zukünftiger Jungstars (Franka Potente, Robert Stadlober) beeindruckt mit der Hauptdarstellerin Sandra Müller. Und mit Jens Harzer als "Exorzisten", der in der jungen Reihe "Perspektive deutsches Kino" als zynischer "Lebensversicherer" eine ganz große Show abzieht. Bester Darsteller war eindeutig
Philip Seymour Hoffman als "Capote". Dieser Mann kann ein zum Pinocchio recyceltes Branchenverzeichnis zur spannenden Figur machen. Wenn es einen echten Wettbewerb um den besten Schauspieler geben sollte, müsste Hoffman außer Konkurrenz bleiben.

Bei der durchaus reizvoll unübersichtlichen Berlinale konnte sich jeder Teilnehmer seine "Tendenz" selbst suchen. Aber es scheint ganz hilfreich, ein paar Themen auf die Plakate zu schreiben, wie das friedenssinnige "Shoot Movies, not People" in der Vergangenheit. Zum Glück biederte sich nicht die ganze Berlinale dem jetzt schon unerträglichen WM-Balla-Balla an, nur eine Handvoll Filme zu dem Thema ließen sich entdecken. Auch die Star-Frequenz kann ganz subjektiv beantwortet werden: Die einen kreischten bei George Clooney, die anderen vergingen in Verehrung vor japanischen Meistern wie Sabu in die Knie, andere wurden wiederum völlig übersehen. Als weitere Tendenz böte sich der schmutzige Witz an, nach dem Motto, wenn wir nicht mehr karikieren dürfen, dann lassen wir wenigstens richtig die Sau raus. Sexismus inklusive, aber Karneval steht ja sowieso vor der Tür.
 
Zum Abschluss versteckte man "Der Tiger und der Schnee", das unerträgliche Märchen aus 1001-Kriegsnacht von Roberto Benigni im Programm. Die Unverschämtheit läuft am Publikumstag, wenn das Fachpublikum längst beim nächsten Festival ist. Der nervige italienische Komiker Benigni hätte einen Regisseur gebraucht, der seine Albernheiten in einem unblutigen Studio-Irakkrieg (ohne einen Toten!) bremst. Doch die nicht zu bremsende Quasselstrippe macht bei seinem "Das Leben ist schön 2" vor nichts halt. Mal sehen, über welches Massenmorden er demnächst seine Scherze macht. Hoffentlich nicht auf der nächsten Berlinale.

15.2.06

Berlinale: Film-Aufstände


Da fliegt im
großen, triumphierenden Finale das Westminster-Parlament minutenlang in die Luft - und es ist ein Happy End! Da wird gefoltert und erniedrigt - von amerikanischen und englischen Soldaten. Ein argentinischer Leibwächter erschießt seinen Chef, den Minister. Ein Aufstand gegen die eigenen Regierungen durchzieht diese Berlinale.
 
Wie weit muss es mit der Demokratie gekommen sein, dass man die Abschaffung eines Parlaments als Erleichterung empfindet? In "V wie Vendetta" der millionenschweren Verfilmung eines beliebten Comics mit Natalie Portman kann man es verstehen: Die Regierung führt Krieg gegen ihre eigene Bevölkerung, das Militär agiert im eigenen Lande, die Medien verbreiten hauptsächlich Angst. Um die zu schüren und die "Sicherheits-Politiker" wählbar zu machen, lässt man sogar Viren auf die Landleute los - Zehntausende müssen sterben. Das reicht allerdings immer noch nicht, um die naive Evey (Portman) gegen das demokratisch gewählte Terrorregime zu stellen, wie es der Mann mit der grinsenden Guy Fawkes-Maske möchte. Fawkes versuchte vor Jahrhunderten vergeblich, das Parlament in die Luft zu jagen. Erst als Evey im Folterkeller landet, findet sie den Mut zu kämpfen.
 
Um Folter dreht sich auch "The Road to Guantanamo" des ehemaligen Berlinale-Siegers Michael Winterbottom ("In this Country", "Welcome to Sarajewo"). Er ließ sich von drei Britten den Leidensweg erzählen, wie sie in Afghanistan in amerikanische Gefangenschaft gerieten und wie sie in der berüchtigten us-amerikanischen Folter-Farm auf Guantanamo in Kuba behandelt wurden. Die Aussagen hat der immer engagierte Meister-Regisseur spannend nachgedreht und bruchlos mit dokumentarischem Material verknüpft. So wundert man sich, wie ein Junggesellenabschied unter die Bombardierung Afghanistans gerät, aber noch mehr, wie dumm-dreist Vorwürfe konstruiert, Fotos und Videos manipuliert werden. Immer mit der albernen Frage: Wo ist Bin Laden? Und "unterstützt" von Isolierzelle, Psychoterror, Schlägen, Hunger. Da wird der Koran mit Füssen getreten und Bush sagt im Fernsehen, die Gefangenen in Guantanamo werden gut behandelt. Selbst als die US-Marines ihr blödsinnige Anklage fallen lassen, bleiben die Briten trotzdem noch 5 Monate in Haft. Insgesamt dauerte der Horrortrip zwei Jahre und zwei Monate. Von 750 "Kriegsgefangenen" sind 500 noch immer dort unter Verschluss. Es gab bislang 10 Anklagen, aber niemals ein Urteil. Unfassbar eigentlich. Auch dies verantwortet eine demokratisch gewählte Regierung, aber "The Road to Guantanamo" ist keine Fiktion.
 
Ein ganz anderer Stoff wurde auch mit Entwicklungs-Hilfe der Berlinale selbst in den Wettbewerb gebracht: Der argentinische "El Custodio" (Der Schatten) zeigt minutiös die Arbeit eines Leibwächters auf. Dieser Alltag besteht vor allem aus Warten vor geschlossenen Türen. Ein Job den "der Schatten" des Ministers ebenso verschlossen erledigt. In diesem auf reduzierte Weise faszinierenden Protokoll wird nebenbei allerdings die Politikerkaste als immer froh gelaunter und selten ernsthafter Haufen bloßgestellt, die sich über alles lustig macht und sich mit Affären vergnügt. Erschreckend aber konsequent erschießt der Leibwächter letztendlich seinen Minister aus nächster Nähe. So ein Film wäre in Cannes ein Top-Favorit auf Gold. In Berlin wird es hoffentlich einen Nebenpreis geben.

Berlinale: Der rote Kakadu


BRD 2006 (Der rote Kakadu) Regie: Dominik Graf, mit Max Riemelt, Jessica Schwarz, Ronald Zehrfeld 100 Min.
 
Direkt von der Berlinale kommt der neue Dominik Graf in die Kinos. Der Münchener wurde bekannt durch gute deutsche Krimis. Angefangen bei "Die Katze" mit Götz George bis zum Münchener "Tatort", deren beste Folgen er inszenierte. Aber Graf macht auch innovative Projekte wie das auf Digitalvideo gedrehten Urlaubsdrama "Der Felsen" oder ein filmisches München-Essay.
 
Nun ging er nach Dresden für eine der in diesem Jahr auf der Berlinale selten gewordenen Ost-West-Vergangenheitsbewältigungen. Im Jahr 1961 feiert man den Sputnik und Gagarin. Der Bau der Mauer lässt noch vier Monate auf sich warten. Siggi (Max Riemelt) lebt bei seiner Tante und zeichnet. Allerdings immer die andere Sichtweise, er will den Sachen auf Grund gehen. Dabei trifft er auf DDR-Rocker, die sich in der Kakadu-Bar bei West-Rhythmen vergnügen. Siggi verfällt sofort der jungen Dichterin Luise (Jessica Schwarz), die allerdings mit dem Don Juan Wolle verheiratet ist. Doch für die Angebetete schmuggelt der Theater-Azubi Meissener-Figuren in den Westen und Devisen wieder zurück. Der sozialistische Alltag mit brutalen Vopos und hinterhältigen Stasis wirkt als Rahmen dabei ebenso thesenhaft wie viele Sätze.
 
"Rübermachen" oder nicht, ist die Frage. Siggi will. Luise meint, da bleiben und für eine bessere Gesellschaft kämpfen. Zuerst muss nur Bill Haleys "Let's rock" gegen DDR-Tänze aus der Retorte wie den Vostolochka mit der Patentnummer 4036 antreten. Dann dreht die Stasi aus den Taten jugendlicher Begeisterung einen Strick von Verrat und Misstrauen, wie einst die Gestapo und nur wenige Jahre vorher in den USA McCarthy. Am besten kommt die Atmosphäre noch durch die zeitgenössischen Originalsongs und die Filmmusik rüber, die der Ex-Aachener Dieter Schleip komponierte. Einer aus der vertrauten Graf-Familie, die hier wieder zusammen wirkte.
 
Dieser Graf ist ansonsten brav. Der Countdown bis die Mauer endlich kommt, erweist sich bei diesem sehr konventionellen und unter anderem von Sat 1 produzierten Graf-Film als ziemlich zäh. Gefühl für die Zeit kommt wenig auf, die einmontierten Erinnerungen an Dresdener Bombennächte sind arg grob. Was trotz der wenig einfühlsamen DDR-Verurteilung bleibt, ist Erschrecken über eine besonders rigide Phase der Unterdrückung in der DDR. Für Wolle gab es drei Jahre Haft und Arbeitlager, was zu dieser Zeit oft Tod bedeutete. Der Film vollstreckt sofort. Auch wenn Luises kreativer Geist hinter der Mauer verkümmerte, behielt sie letztendlich recht, wenn man diesen Film sieht: Im Westen kann man auch nicht frei und vernünftig künstlerisch arbeiten.

Every junkie's like a setting sun ...


"Candy" can do miracles, just wait and see ... oder auch nicht. Wunder verbringt dieser australische Kinder-nehmt-keine-Drogen-Film "Candy" von Neil Armfield bestimmt nicht. Er zeigt noch mal, wie schlimm es ist, sich Heroin in die Adern zu spritzen, die Freundin für den Stoff auf den Strich zu schicken und dann vom Dealer irgendeinen verschnittenen Stoff angedreht zu bekommen. Das hat jeder schon mal mitgemacht - im Film, meine ich. Es ist ganz schlimm, wie "Casanova" Heath Ledger und Abbie Cornish (als Candy) später so Augenränder haben und gar nicht mehr blond-schön sind. Mit der Liebe mag es nicht weit her sein, wenn die nur unter Drogen happy sind. Also ich brauch da keine Drogen, Wodka-RedBull und vielleicht ein paar Paracetamol reichen völlig aus.
 
Und auf dem Weg von der Berlinale nach Hause fühlt man über die Ohren, dass in Neil Youngs "The needle and the damage done" mehr Mitgefühl steckt als in den 108 Minuten Film (mit zwei guten Songs). Der ewig junge Suffi-Rocker Young hat ja auch einige seiner Crazy Horse-Band an die Drogen verloren ("I watch the needle take another man").
 
Erst am Ende, wenn Heather sich entscheidet, besser alleine sauber zu bleiben, wird es spannend und anders als in den anderen Filmen. Aber wichtig ist, dass noch mal gesagt wird: KINDER NICHT NACHMACHEN. Solche Filme gibt es schon genug, also: NICHT NACHMACHEN, denkt euch was anderes, besseres aus!
 
I sing this song because I love the man ... genau deshalb schreibt man ja auch Filmkritiken.

13.2.06

Berlinale: Traumstars und das reale Leben

Knallhartes aus deutschen Landen
 
Von Günter H. Jekubzik
 
Man hat es schon schwer mit den Stars: Da schafft man es tatsächlich, bei der Gala-Vorführung von "Syriana" George Clooney nicht nur zu sehen, sondern auch zu berühren, nachdem man über mehrere Sitzreihen geklettert ist und ein paar Leuten in den Nacken sprang. Und dann setzt dieser Clooney einem als Hauptdarsteller und Produzent so einen schwierigen Politfilm vor und ist außerdem richtig fett und unattraktiv! Und überhaupt sind die tollen Frauen von der Leinwand alle in Wirklichkeit viel kleiner.
 
Wie Q'Orianka Kilcher, die erst 15-jährige Hauptdarstellerin aus der Utopie eines anderen Amerika "The New World". Sie spielt die legendäre Häuptlingstochter Pocahontas (deren Name allerdings nie genannt wird). Als die ersten Engländer an der Küste des späteren New England ankommen, gehen sie beinahe an Krankheiten und Hunger zugrunde. Nur der eigenwillige Captain John Smith (Colin Farrell) hat intensiveren Kontakt zu den Bewohnern, verliebt sich in Pocahontas. Ein Traum von gemeinsamen Leben, den Terrence Malick als Leinwand-Gedicht gestaltete, grausame Ernüchterung inklusive.
 
Gegen solche Kinoträume setzt Deutschland das brutale Leben. Wie bei Detlev Buck, der auf einmal gar nicht mehr komisch ist, sondern "Knallhart". Sein junger Held Michael (David Kross, engels-gesichtig wie der Junge in "Elefant") erlebt den Abstieg ins Berliner Viertel
Neukoelln. In der Schule gibt es gleich Prügel. Handy und Sportschuhe ist er bei der Abzocke sofort los. Keiner kann helfen, nur ein türkischer Drogendealer zeigt Anstand und Kultur - mit tödlichen Folgen. Unvermittelte Gewalt auf offener Straße, das ganze fürs Handy gefilmt, so ein Berlin hat man selten gesehen. Buck gelingt eine Reihe guter Szenen, doch im internationalen Vergleich bleibt "Knallhart" blass - nicht nur wegen der entsättigten Farben.
 
Noch härter trifft "Der Kick", die Kinoversion des vielbesprochenen Theaterstücks von Andreas Veiel ("Black Box BRD", "Die Spielwütigen"). Drei Skinheads brachten in Potzlow auf bestialische Weise einen Jungen um. Dem medialen Ausschlachten der Tat und des ganzen Dorfes setzt Veiel nach intensiver Recherche Reduktion entgegen: Nur zwei
Schauspieler lesen alle Rollen. Anstrengend, aber trotzdem stark und erschütternd.

Ebenso der neueste Part von Jürgen Vogel, er spielt einen Vergewaltiger, der nach neun Jahren Haft mit einer missbrauchten Frau zusammenkommt. Chronologisch mit der Tat beginnend, bezweifelte selbst Regisseur Matthias Glasner, ob er diesen Trip bis zum Ende durchhält. Es ging ihm und den Ko-Autoren, u.a. auch Vogel, nicht darum, etwas "Abartiges" wegzuschieben, zu verdrängen, sondern sich ihm auszusetzen. 163 Minuten lang! Da versteht man, die spürbare Erleichterung, wenn in Robert Altmans Hommage an die Country-Radioshow "A Prairie Home Companion" minutenlang einfach über dreckige Witze gelacht werden kann ...

Aeon Flux


USA 2005 (Aeon Flux) Regie: Karyn Kusama mit Charlize Theron, Marton Csokas, Jonny Lee Miller 93 Min. FSK ab 12
 
Sie kann keiner Fliege etwas zuleide tun, aber einer ganzen Reihe von Wachmännern ruckzuck das Genick brechen. Hallo Aeon Flux, bitte reih' dich ein bei den anderen Kino-Amazonen, Lara Croft, "Elektra" ... Mit futuristischen Stretchanzügen und viel Flicflac a la "Blade Runner" huscht Aeon (Charlize Theron) flugs durch eine Zukunftswelt.
 
Zum Glück ist sie so flink, sonst würde man bemerken, dass die Zukunft recht oberflächlich daherkommt: Im Jahr 2415 überlebt nur noch ein kleiner Rest der Menschheit in der abgeschirmten Stadt Bregna. Alle anderen wurden von einem Virus dahingerafft. Jetzt sollte es allen gut gehen, doch immer wieder verschwinden welche und eine unerklärte Traurigkeit beseelt die älteren Menschen. Gegen die Regierung und ein sehr brüchiges Glücksgefühl kämpfen die Rebellen, unter ihnen Super-Agentin Aeon Flux.
 
Ihre Aufträge erhält sie aufgelöst in einem Schluck Wasser, dann spricht die Rebellenführerin (wie in "North Country" ist Frances McDormand wieder Therons Partnerin) direkt im Gehirn. Dann geht es hüpfend und springend in den raffiniert bewachten Regierungspalast. Infizierte werden hier schon im Kino nach dem Joystick fingern. Im Moment des Tyrannenmords nennt der Vorsitzende Trevor Aeon überraschend beim Namen "Catherine". Aeon hält irritiert inne und macht sich im Zentrum der Macht auf der Suche nach einem Geheimnis.
 
Hochspannend sind bei "Aeon Flux" - nach einer in den 90er Jahren mal kurz gesendeten MTV-Zeichentrickserie - nur die Stretchklamotten, der Rest ist dünn und durchsichtig. Guter Science Fiction dekoriert sich nicht nur mit Zukunft, er transportiert auch immer Ideen. Als Reflektion oder als reizvolle Erweiterung des Bekannten. Der uninteressante Zukunfts- und Actionfilm der "Girlfight"-Regisseurin Karyn Kusama spielt mit Körpererweiterungen. Aeon hat neben dem immer tiefen Ausschnitt ein ganzes Chemielabor im hochhackigen Absatz und ein drittes, wegklappbares Auge zur Spektralanalyse. Aber es dreht sich nicht um die Erweiterungen menschlicher Fähigkeiten, die Unfruchtbarkeit der Menschheit ist zentrales Problem. Alle sind nur noch Kopien in der 7.Generation. Das hat allerdings gar nichts mit irgendwelchen Diskussionen um Genmanipulation oder Klonethik zu tun. Das ist nur Handlungsmechanik ohne weitere Denktiefe.
 
Und so oberflächlich attraktiv wirkt auch das ganze Action-Kunststückchen um Spione und Verräter. Es bleiben wenige skurrile Momente in der Erinnerung, etwa ein kahler Pete Postlethwaite als mysteriöses Wesen in einem qualligen Luftschiff und seiner witzigsten Rolle seit dem Priester in "Romeo und Julia". Und das Suchen nach bekannten Berliner Dreh-Orten oder deutschen Darstellern in Nebenrollen.

Lord of War - Händler des Todes


USA 2005 (Lord of War) Regie: Andrew Niccol mit Nicolas Cage, Ethan Hawke, Jared Leto 122 Min.
 
Das ist ja genial! Das geht doch nicht! Wenn nach wenigen Minuten diese Aufschreie im Kopf miteinander ringen, hat der Film schon gewonnen. In einer überraschenden Reihe von Kriegs-kritischen Filmen ("Syriana", "Jarhead") schießt der bitterböse "Lord of War" den Vogel ab. Und noch viel mehr.
 
Schon der Vorspann ist sensationell: Er verfolgt den Lebens- oder besser: den Todesweg einer Kugel. Vom Pressen der Hülse, über das Füllen, das Verschließen, das Verpacken und verschiedene Händler. Bis das todbringende Metall irgendwo in Afrika in ein Gewehr geladen wird, seine subjektive Perspektive ein Opfer sucht und findet ...
 
Irgendwann wird im Film gesagt, dass nicht die Atombomben unsere Welt bedrohen, es sind die Abertausend einfachen, "billigen" Waffen die irgendwelchen rasenden Horden verkauft werden. (Und falls jemand sich hier nicht mehr unterhalten fühlt, noch eines: Die fünf Regierungen, welche die Ständigen Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat bilden, sind die größten Waffenhändler der Welt!)
 
Nun bringen wir etwas Spaß in den internationalen Waffenhandel. Yuri Orlov ("Weather Man" Nicolas Cage) ist Waffenhändler aus Leidenschaft. Seine ukrainische Familie gab sich opportunistisch als jüdisch aus, um in die USA zu kommen. In Little Odessa fand sein Vater eine wahre Begeisterung für das Judentum und Yuri für die Waffen. Mit seinem kleinen, eigentlich friedliebenden Bruder Vitali Orlov (Jared Leto) verhökert er im Libanon in den 80gern die Abfälle der US-Armee während um die Ecke Kinder hingerichtet werden. Yuri verkauft Waffen nach Gewicht, tonnenweise. Er verkauft an alle, nur nicht an Bin Laden, der hatte eine schlechte Zahlungsmoral!
 
Dieser Young American Waffenhändler erledigt das Geschäft begleitet von flotten Songs, rutscht knapp am Kokain vorbei und genießt La Vie on Rose nur, um Ava Fontaine (Bridget Moynahan) zu verführen, sein zum Supermodel gewordener Jugendschwarm. Sie im Luxusheim zu verwöhnen, ist sehr teuer, so ist der Mauerfall und das Ende des Kalten Krieges Yuris Rettung: Massen von Waffen liegen in den Satellitenstaaten herum, er braucht sie nur noch abzuholen und ist jetzt ganz groß im Geschäft.
 
Es unglaublich, wie man mit dem zynischsten und mörderischsten Job unserer Zeit Spaß haben kann. Mit der Dreistigkeit eines Tarantino führt Andrew Niccol ("Die Truman Show") gnadenlos den Idealtypen unserer Zeit vor: "Wenn ich es nicht mache, macht es ein anderer ..." Oder philosophischer: "Ist Schwein sein nicht Teil des menschlichen Wesens?"
 
Bei dem Spaß über die billige Raffinesse, mit der sich Yuri immer wieder aus prekären Lagen heraus schwindelt, vergisst man glatt, dass er seinen sensibleren Bruder an das Kokain verloren hat. Seinem Gegner, dem FBI-Agenten (Ethan Hawke) entkommt Yuri mit fliegendem Names- und Nationalitätswechsel auf einem Schmuggel-Schiff. In einer anderen unfassbaren Szene verteilt er nach einer Notlandung in Sierra Leone auf offenem Feldweg Waffen wie Karnevals-Prinzen Kamelle. Wie danach im Zeitraffer das Flugzeug komplett auseinander genommen wird, ist einer von vielen Höhepunkten der Filmkunst Niccols.
 
Dazu gehört dramaturgisch der Niedergang des Erzählers Yuri: Nach seinem ersten eigenhändigen Mord, schnupft er Brown-Brown, eine Mischung aus Koks und Schießpulver, und erlebt eine Bruchlandung in dem Horror, den er verursacht. Die Tragik im letzten Akt: Der Händler des Todes aus Leidenschaft wird ehrlich - doch das Happy End ist so bitter, dass man gar nicht aus dem Kino will. Dass man irgendein Hollywood-Märchen will, statt der Scheiß-Welt da draußen.

11.2.06

Berlinale: Elementarteilchen

 

Aus häßlichem Entchen wird romantischer Schwan

 

Roehler spült Houellebecqs „Elementarteilchen“ weich

 

Von Günter H. Jekubzik

 

Es war einmal ein unerträglicher Roman, voller Ekel, Weltverdruß und Selbsthaß. Da kam ein bekannter Regisseur daher, dessen Filme bislang durchaus Ähnlichkeiten zu Houellebecqs Ergüßen hatten, der diesem Gollum der Bestseller-Liste irgendwie seelenverwandt schien und deshalb wollte niemand die Frucht beider jammervoller Gedankenwelten sehen. Außer der Wettbewerbsauswahl der Berlinale – und vielleicht den seltsamen Menschen, die immer noch Houellebecq-Romane kaufen, es sollen nicht wenige sein. Nun geschah aber das Wunder, dass aus dem ganzen rausgerotzten Lebensüberdruß ein ganz netter, sogar witziger und vor allem richtig romantischer Film wurde. Erleichterung machte sich breit auf der Berlinale ...

 

Dem in einigen Kreisen durchaus überschätzten Regisseur Oskar Roehler war Humor bislang nicht ganz unbekannt: Von „DIE UNBERÜHRBARE“ bis „AGNES UND SEINE BRÜDER“ wurden seine Filme weniger larmoyant und viel erträglicher. Nun läßt er sogar Bruno (Moritz Bleibtreu) und Michael (Christian Ulmen) lachen. Die beiden Halbbrüder sind die Anti-Helden von Houellebeccq. Bruno quält sich mit sexuellen Frustrationen durchs Leben, kompensiert das mit heftigen Obszönitäten, Rassismus und an allem haben die 68er Schuld. Der geniale Biologe Michael hat seit früher Jugend auf Gefühle verzichtet und forscht an künstlicher Repoduktion der Menschheit ohne solche lästigen Randerscheinungen wie Sex oder Gefühle.

 

Nun hat Christian Ulmen schon viel zu viel Gefühl im Blick, sieht viel zu gut aus. Und obwohl der Stoff für ihn sehr biographisch war, er wuchs wie die beiden Jungs bei seiner Oma auf, zeigt Roehler das Beste, was man aus Houellebecq machen kann: Ein Liebesfilm mit frustriertem Clown (Bleibtreu) am Rand. Der Deutsche zeigt den Lebensverdruß des Franzosen viel weniger radikal in Wort und Gedanken. Die Verlierer, die sich aus persönlichem Unvermögen beim Umgang mit Frauen in sex- und gefühlslosen Theorien für gesamte Menschheit suhlen, bekommen ihre romantische Chance. (Ein Hohn übrigens, dass der sich so radikal gebende Houellebecq selbst noch an anderen alten Zöpfen wie Religiösität in Form von Anti-Islamismus hängt.)

 

Moritz Bleibtreu kann die desillusionierte Verzweiflung erschreckend gut spielen. Die ansonsten meist langweilige Martina Gedeck zeigt als tragisch sex-süchtige Christiane mit schwarzen Haaren eine ihrer besten Rollen. Überhaupt gibt es öfters ein lustiges Wiedersehen mit quer besetzten deutschen Stars. Als Michels Liebe Annabell eine leicht verhärmte Franka Potente, die noch einen Auftritt als Regisseurin bei dieser Berlinale haben wird. Uwe Ochsenknecht als versoffener Ex-Chirurg und Papa Brunos. Zum Nachdenken bleibt allerdings vor allem eine als Satire gemeinte Bemerkung am Rande eines libertinären Zeltlagers: Die Freiheit des anderen dehnt die meine bis ins Unendliche aus.

 

Und so wird aus dem Zusammentreffen zweier Giganten des Trübsalblasens erstaunlicherweise der am wenigsten radikale Roehler. Man ist auch erleichtert, weil der befürchtete Larmoyant-Tiefpunkt so einfach und leicht humorig ausfiel.



10.2.06

Berlinale: Slumming

Fremder Blick auf Vertrautes
 
"Slumming" im Wettbewerb
 
Von Günter H. Jekubzik
 
Berlin. Fremde Länder sehen - andere Menschen treffen. Dieses Motto gilt zynisch für viele reisefreudige Armeen dieser Welt. Aber auch einige Filmemacher betrifft es. Den Österreicher Michael Glawogger etwa, der mit "Slumming" gestern den deutschsprachigen Festivalreigen eröffnete.
 
Bei seinen Dokumentationen "Megacities" und "Working Mans Death" sah man betörende Bilder, mitreißende Montagen und berauschende Musikhintergründe zum Elend der Welt. Passt nicht so ganz, fanden einige. Und jetzt zeigt Glawogger im Berlinale-Wettbewerb so einen, der die fremdesten Plätze und Menschen sehen will, dem aber ein Herz fehlt. Jungstar August Diehl spielt diesen Sebastian, einen deutschen Piefke in Wien, der sich kaltherzig und arrogant damit vergnügt, mit Menschen zu spielen.
Sieben bis acht schmutzige Blind Dates am Tag, dann abends mit dem Freund Alex - besonders herunter gekommene Kneipen und Orte der Stadt besuchen. "Slumming" nennen sie das, oder Slum-Tourismus.
 
Irgendwann laden sie den Penner Franz (Paulus Manker) im Delierium in den Kofferraum und verfrachten ihn in eine tschechische Ortschaft, was ihm beim Aufwachen einen heftigen Schreck verursachen soll. Doch der verrückte Verrückte wird verblüffend gut mit Situation fertig, kehrt nach märchenhaften Begegnungen mit Gartenzwergen und einem Bambi geläutert zurück. Derweil verschlägt Sebastian eine (wahre?) unerfüllte Liebe zu einer gutherzigen Lehrerin nach Südost-Asien, in seinem weltweite Slumming trifft er auf das Elend, das Glawogger schon in seinen Doku-Filmen vorführte.
 
Doch mit "Slumming" gelang dem Grenzgänger zwischen Doku und Fiktion ein ausbalanciertes, durch interne Referenzen und Beziehungen höchst spannendes Kunststück mit starken Schauspielern. Das österreicher Multitalent Manker spielt das Wrack Franz frontal und wahnsinnig präsent direkt in die Kamera. Diehl steht der überhebliche, zynische Schnösel sehr gut. Ein Favorit, zumindest für Darsteller- und Nebenpreise.
 
In der Berlinale-Nebensektion Panorama sieht Ewan McGregor ("Star Wars") gut aus, aber das tut er selbst, wenn er mit dem Motorrad ganz real um die halbe Welt fährt. In Marc Forsters "Stay" übernimmt er als Psychiater Sam Foster den Kunststudenten Henry Letham (Ryan Gosling), der nach einem Unfall auf der Brooklyn Bridge sehr wirr wirkt. Das klassische Verhältnis Doktor-Patient löst sich bald ebenso auf wie die Sicherheit Sams. Dieses psychologische Verwirrspiel ist vor allem ästhetisch reizvoll, mit einer sorgfältigen Strukturierung des Raums, der Hintergründe bei Kunstausstellungen oder im Aquarium. Bis zur finalen Auflösung, bis zum schon zunehmend befürchteten Platzen einer inhaltlich recht leeren Blase. "Stay" hat den Überraschungseffekt a la "Sixth Sense", "Signs" oder "The Village" von M. Night Shyamalan. Das ist nicht mehr wirklich überraschend, aber immerhin ein schöner Augenkitzel zwischen schweren Festivalstoffen.

Berlinale: Schöne Frauen, kleine Autos


Werbekampagne präsentiert Filmstars der Fünfziger Jahre als "Auto-Kino"
 
Berlin. Dass Stars von Auto-Sponsoren in angeberischen, benzinschluckenden Limousinen vorgefahren werden, ist Alltag bei Filmfestivals. Die Berlinale packt jedoch zusätzlich Traumfrauen in kleine Autos. Und das gleich reihenweise über mehrere hundert Meter. Seitdem strahlt die Stresemannstraße, gleich beim Festivalzentrum Potsdamer Platz um die Ecke, in einem ganz besonderen Licht.
 
Doch ganz langsa, damit keiner über Star-Quälerei redet: Der Titel der diesjährigen historischen Film-Retrospektive im Rahmen der Berlinale lautet "Traumfrauen. Stars im Film der Fünfziger Jahre." Dazu gibt es viele bekannte und auch in Retrospektiven oft gespielte Meisterwerke mit Audrey Hepburn, Ava Gardner, Judy Garland, Grace Kelly, Doris Day und vielen anderen mehr. Der norddeutsche Auto-Sponsor der Berlinale - es soll nicht weiter beworben werden, wer beim Filmvolk den Wagen vorfährt - steckte als begleitende Kunst-, Werbe- oder Sonstwie-Aktion jede dieser Traumfrauen in einen roten Kleinwagen und stellte letztere hintereinander aufgereiht in der Stresemannstraße ab. Dort bibbern die Damen jetzt nicht die zehn Festivaltage im dünnen Blech, es sind nämlich nur ihre schönsten Ausschnitte durch ein Guckloch im Seitenfenster zu sehen, während der Namenszug mit einer Huldigung eine andere Scheibe ziert. Von innen leuchtet es durch die mattierten Scheiben violett in die eisige Berliner Nacht und diese reizvoll andere "Auto-Kino" macht sich ebenso gut als Revolution des Guckkasten-Kino wie als originelle Stadt-Illumination. (ghj)

9.2.06

Strahlende Eröffnung


Die 56.Berlinale mit gelungenem Auftakt
 
Von Günter H. Jekubzik
 
Berlin. Die Berlinale strahlt merklich heller 2006. Ein beeindruckender Auflauf von Prominenz und die erstmalige Live-Übertragung der Eröffnungsveranstaltung machen den Image-Gewinn der 56.Internationalen Filmfestspiele Berlins (9.-19.2.) für alle sichtbar. Passend dazu gelang auch der filmische Auftakt mit dem wunderbar emotionalen "Snow Cake".
 
Die gestrige Eröffnungsgala im Berlinale Palast am Potsdamer Platz wurde erstmals live im Fernsehen übertragen. Berlinale-Direktor Dieter Kosslick eröffnete die Veranstaltung gemeinsam mit dem Kulturstaatsminister Bernd Neumann und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit. Der "deutsche Bruce Willis" Heino Ferch moderierte, Max Raabe spielte mit seinem Palast Orchester auf. Neben den Stars von "Snow Cake" wurden zahlreiche prominente Gäste erwartet.
 
Poesie des Pragmatismus
Eröffnungsfilme sind eine Plage. Geschacher, Nationalismen und Gefälligkeiten bestimmen meist die Auswahl eines mediokren Films. Der diesjährige Eröffnungsfilm "Snow Cake" von Marc Evans ist ein Wunder. Der beste Film des Festivals bislang - und wahrscheinlich noch ein paar weitere Tage!
Alan Rickman, der distinguierteste Mund der Filmgeschichte und eines der leidvollsten Gesichter auf der Leinwand spielt darin den Engländer Alex Hughes, der die Anhalterin Vivianne mitnimmt und kurz darauf in einen Unfall gerät. Vivianne stirbt und der schwere Gang zu ihrer Mutter wird zu einer ungewöhnlichen Woche. Denn Linda (Sigourney Weaver) ist kindisch, perfektionistisch, sie ist autistisch. Bei ihr lernt der verschlossene Mann nicht nur die Regeln von Comic-Scrabble, vor allem die Poesie des Pragmatismus hilft ihm sein Trauma zu überwinden: Wir können nix dran ändern, lass uns Trampolin hüpfen!
Dass hier jeder Satz ein Treffer für Herz, Hirn oder Lachmuskeln ist, jedes Bild verzaubert, ist nur ein Teil der Magie von "Snow Cake". Man genießt auch die Freude, Menschen als das was sie sind zu akzeptieren und ihre Unterschiede zu sehen. Wie könnte ein Filmfestival besser auftrumpfen. "Perfectamundo" würde Lilian sagen.
 
Die gar nicht so perfekte große Welt verlangt erst heute wieder ihre Aufmerksamkeit in dem Polit-Thriller "Syriana". George Clooney rennt darin einer "verloren gegangenen" Waffe hinterher. Das hatten wir als "Peacemaker" schon mal mit Nicole Kidman und es war furchtbar. "Syriana" ist anderes Kaliber. Diesmal spielt Clooney nach den Memoiren des CIA-Agenten Robert Baer einen solchen CIA-Agenten, der anfangs missliebige Politiker in aller Welt umbringt. Am Ende versucht er, sein Zielobjekt zu retten. Steve Gaghan, der das Drehbuch zum Drogengeflecht "Traffic - Macht der Kartelle" schrieb, inszenierte sein neuestes Werk zur Unübersichtlichkeit der Welt. Es geht ums Öl im Nahen Osten, amerikanische Konzerne und chinesische Konkurrenz, Emirate und Thronfolger. Und immer um Väter und Söhne.
 
Ein guter Film, ein besonderer. Doch vielleicht kein Festivalfilm für die Berlinale. Oder doch. Denn "Syriana" erfordert nicht nur hohe Konzentration während er abläuft. Es geht in Gesprächen auf verschiedenen Ebenen um globale Verflechtungen und Intrigen, bei denen auch die "Global Player" nicht mehr durchblicken. Das ähnelt irgendwie einem Festivalprogramm, doch da sind wir wenigstens am Ende schlauer.

8.2.06

Berlinale: Stay


USA 2006 (Stay) Regie: Marc Forster mit Ewan McGregor, Naomi Watts, Ryan Gosling, Janeane Garofalo, Bob Hoskins 99 Min.
 
Wahnsinn in seiner aufregendsten Form: In der Berlinale-Nebensektion Panorama schickt Marc Forsters "Stay" Ewan McGregor ("Star Wars") in ein auch optisch faszinierend verwirrendes Psycho-Labyrinth bis zur Überraschung im Stile von "The Sixth Sense". Der New Yorker Psychiater Sam Foster (Ewan Mcgregor) übernimmt den Kunststudenten Henry Letham (Ryan Gosling), der nach einem Unfall auf der Brooklyn Bridge sehr wirr wirkt. Das klassische Verhältnis Doktor-Patient löst sich bald ebenso auf wie die Sicherheit Sams. Seine Freundin Lila (Naomi Watts), eine ehemalige Patientin und selbstmord-gefährdet, nennt ihn Henry. Sams blinder Freund und Schachpartner (Bob Hoskins) soll Henrys Vater sein. Begegnungen mit Henrys Bekannten wandeln sich zu Horror-Visionen. Wiederholungen häufen sich, Sam wandelt in Deja Vues und gescratchten Momente vor und zurück.
Dieses psychologische Verwirrspiel ist vor allem ästhetisch reizvoll, mit einer sorgfältigen Strukturierung des Raums, der Hintergründe bei Kunstausstellungen oder im Aquarium. Spiegel oder Arrangements mit Schachfiguren korrespondieren mit verwirrenden Konstruktionen aus Glas und Stahl im Stile von Escher. Atemberaubend rasante Übergänge zwischen den Szenen treiben die Handlung voran, allein das Sounddesign kann einen schon wahnsinnig machen. Bis zur finalen Auflösung, bis zum schon zunehmend befürchteten Platzen einer inhaltlich recht leeren Blase. "Stay" hat den Überraschungseffekt von "Sixth Sense", "Signs" und "The Village" von M. Night Shyamalan. Nur das ist leider nicht mehr wirklich überraschend.

Berlinale: Syriana


USA 2005 (Syriana) Regie: Steve Gaghan mit Matt Damon, George Clooney 128 Min.
 
George Clooney rennt einer "verloren gegangenen" Waffe hinterher. Das hatten wir als "Peacemaker" schon mal mit Nicole Kidman und es war furchtbar. "Syriana" ist anderes Kaliber. Diesmal spielt Clooney nach den Memoiren des CIA-Agenten Robert Baer einen solchen CIA-Agenten, der anfangs missliebige Politiker in aller Welt umbringt. Am Ende versucht er, sein Zielobjekt zu retten. Steve Gaghan, der das Drehbuch zum Drogengeflecht "Traffic - Macht der Kartelle" schrieb, inszenierte sein neuestes Werk zur Unübersichtlichkeit der Welt. Es geht ums Öl im Nahen Osten, amerikanische Konzerne und chinesische Konkurrenz, Emirate und Thronfolger. Und immer um Väter und Söhne.
 
Matt Damon spielt den schweizer Wirtschaftsexperten Bryan Woodward, der nach dem tragischen Tod seines kleinen Sohns Berater des arabischen Prinzen Nasir (Alexander Siddig) wird. Dieser schockierte damit, die Ölrechte seines Landes an eine chinesische Firma zu verkaufen. Weswegen der pakistanische Ölfeldarbeiter Wasim (Mazhar Munir) entlassen und von einer militanten religiösen Organisation aufgefangen wird.
 
Ein seltsames Konglomerat aus amerikanischer Justiz, Konzernen und Geheimdiensten will mit den Puppen der Weltpolitik, mit den Stammhaltern spielen. Aber letztendlich können sie nichts kontrollieren, die Geister, die sie riefen machen sich alle selbständig.
 
Ein guter Film, ein besonderer. Doch vielleicht kein Festivalfilm für die Berlinale. Oder wieder doch. Denn "Syriana" erfordert nicht nur hohe Konzentration während er abläuft. Es geht in Gesprächen auf verschiedenen Ebenen um globale Verflechtungen und Intrigen, bei denen auch die "Global Player" nicht mehr durchblicken. "Syriana" ist so komplex, dass es vom Hersteller eine Bastelanleitung zum Film gab (keine Schlüssel allerdings). Die sehr gut gespielten persönlichen Stränge halten einen beim verwirrenden Geschehen, sind allerdings nicht so stark wie in "Traffic". Auch die Musik von Alexandre Desplat ist auffällig zurückhaltend. Nachher muss man sich fragen, was jetzt eigentlich passiert ist. Nichts!? Alles wie gehabt? Eine Menge Blut geflossen für Öl. Genauso viel gegen das Öl.

Film-Olympiade in guter Form


Die 56.Berlinale mit vier deutschen Wettbewerbs-Filmen und vielen Events
 
Von Günter H. Jekubzik
 
Berlin. Schöner, packender, erschütternder - so ein olympisches Streben könnte man der Berlinale (9.-19.Februar) anhängen, die am heute Abend mit dem englischen Drama "Snow Cake" eröffnet wird. Denn so ein Filmfestival ist längst kein übersichtliches Ereignis mit vielen Filmen mehr, es ist eine komplette Film-Olympiade mit zahllosen Disziplinen und einer unübersehbaren Reihe von Events.
 
Es ist die 56.Berlinale aber vor allem die 5. des irgendwie immer noch frischen Festivaldirektors Dieter Kosslick. Er sorgte für eine neue Stimmung und brachte den deutschen Film zurück in den internationalen Fokus. "Dieters Wohlfühl-Berlinale" zeigt im Wettbewerb um den Goldenen Bären 26 Filme aus 24 verschiedenen Ländern, davon kommen gleich vier aus Deutschland. Gespannt darf man sein, was Oskar Roehler aus dem ziemlich unangenehmen Houellebecq-Stoff "Elementarteilchen" macht. Hans-Christian Schmid ("Crazy") zeigt in "Requiem" noch einmal einen vor wenigen Jahren in Bayern vorgenommenen, tödlichen Exorzismus, der kürzlich im US-Film "Der Exorzismus der Emily Rose" unsäglich verbrämt wurde. Jürgen Vogel sieht man als Vergewaltiger in "Der freie Wille" von Matthias Glasner. Und Valeska Grisebachs "Sehnsucht" erzählt von einer Dreierbeziehung im kommunistischen Osten. Dazu so ein typischer "Kosslick": "Wenn man sich nicht zu Tode lachen will – dann sollte man deutsche Filme gucken gehen."
 
Angekündigt hat Kosslick eine eindeutig politische Berlinale und damit steht sie in guter, alter Tradition des Festivals. Berlinale-Star Michael Winterbottom nimmt "The Road to Guantanamo", um die Kamera auf diese Schändung der Menschenrechte zu richten. Er zeigt drei Muslime, die in dem US-Gefängnis auf Kuba festgehalten werden. Kosslicks Wunsch zum Film: "Wenn es nach mir ginge, würde ich die 450 Guantanamo-Häftlinge, die dort unter Missachtung jeglicher Menschenrechte festgehalten und gefoltert werden, liebend gern auf dem roten Teppich treffen". Dort muss er zum Auftakt mit Sigourney Weaver und Alan Rickman (für "Snow Cake") Vorlieb nehmen. In den kommenden Tagen werden unter anderem George Clooney, Isabella Rossellini, Claude Chabrol, Meryl Streep, Roberto Benigni, Nick Cave, Natalie Portman und Philip Seymour Hoffman erwartet.
 
19 Filme schielen auf Gold und Silber, die von der achtköpfigen internationalen Jury um Präsidentin Charlotte Rampling vergeben werden. Doch diese Konkurrenz im Berlinale-Palast ist nur das bekannteste Aushängeschild der Berlinale. Außer Konkurrenz gibt es beispielsweise grandiosen ästhetischen Augenkitzel in Chen Kaiges historischem Epos "Promise": Ein kleines Mädchen bekommt in harschen Kriegszeiten von einer Fee alles versprochen, was sie sich wünscht, wenn sie für immer auf Liebe verzichtet. In der Nebensektion Panorama schickt "Stay" Ewan McGregor ("Star Wars") in ein auch optisch faszinierend verwirrendes Psycho-Labyrinth bis zur Überraschung im Stile von "The Sixth Sense". Der "Talent Campus" bringt hunderte Nachwuchsfilmer mit prominenten Mentoren zusammen und kann schon Erfolge der letzten Jahre in der "großen" Berlinale aufweisen. Der Film-Markt, aufgrund internationaler Terminverschiebungen voll im Aufwind, zog direkt in den sehr repräsentativen Gropius-Bau um die Ecke. Und realistisch gesehen, gibt es ja auch all die schöne Kultur der Berlinale nur, wenn genügend Filme und vor allem DVDs verkauft werden.

7.2.06

Fleckenlose Raubkopie

Nein, es liegt nicht an zu vielen Filmen, wenn es vor den Augen flimmert und man Punkte auf der Leinwand sieht ...

Immer mehr Filmkopien werden mit "Wasserzeichen" ausgestattet. Am häufigsten habe ich eine Matrix von 3x3 roten Punkten in der Bildmitte gesehen. Wie bei der Braille-Schrift sind die Punkte mal sichtbar, mal werden sie ausgelassen.

Eine kurze Erklärung gibt es hier - aber Vorsicht, danach sieht man die Pünktchen dauernd!

http://www.heise.de/newsticker/foren/go.shtml?read=1&msg_id=4892426&forum_id=51663

Hat noch niemand den Code entschlüsselt? Bei einigen langweiligen Filmen wäre es doch schön, diesen Subcode lesen zu können!

Sachdienliche Hinweise bitte an:

leserbrief@jekubzik.de

5.2.06

Berlinale-Treffs!

Bald ist Berlinale!
http://berlinale.de/

Da kann man viele Kollegen, alte Freunde, nach Berlin Verzogene nach langer Zeit mal wieder NICHT SEHEN! Wann auch zwischen vierzig Filmen, dreißig Empfängen 20 Texten, Parties und ab und zu noch essen und schlafen?
Dagegen haben die jetzt im Berlinale-Filmplan im Netz ein tolles Feature!

https://berlinale.de/de/meine_berlinale

Unter “Meine Berlinale” kann man sich einen Persönlichen Filmplan erstellen. Und man kann den dann mit den Persönlichen Filmplänen von Freunden synchronisieren. Absolut stark, kein stundenlanges Telefonieren und SMSen mehr, kein Geschacher, “ja dann verpass ich doch”, “aber ich könnte ja früher aus ...”. Jetzt hab ich schon drei Verabredungen von 3 Uhr nachts bis morgens um 8.30, wenn es in den nächsten Film geht! Super, dieser Cyber-Spass. Da lobe ich mir die zutiefst menschliche Zen-Taktik einer tollen Schweizer Kollegin: Sie geht einfach mit dem ersten Bekannten, den sie trifft, essen. Pasta!

Zurück nach Dalarna


Schweden 2004 (Masjävlar) Regie: Maria Blom mit Sofia Helin, Kajsa Ernst, Ann Petrén, Lars G. Aronsson, Barbro Enberg 98 Min.
 
Zwei Welten, zwei Entwicklungszustände: Das alte Heimatdorf auf dem Land, wo alles wie immer ist und sich auch nie ändern wird. Dann die Großstadt Stockholm, in der man alles kann, scheinbar auch einsam sein. Unsere junge Heldin Mia (Sofia Helin) kann sich nicht entscheiden - der Film ebenso wenig.
 
Zum 70. Geburtstag des Vaters kehrt die bei Ericsson beruflich erfolgreiche Mia "Zurück nach Dalarna", dort wo man Stockholmer als Marsmenschen ansieht. Dass sich Mia entsprechend fremd fühlt wird auch direkt klar, da hilft erst später der Alkohol drüber weg. Erst lernt man die beiden älteren Schwestern kennen, amüsiert sich über Peinlichkeiten und seltsame Typen. Dann muss Mia all den mitleidigen Dorf-Naiven erklären, weshalb sie keine Kinder hat. Erst später kommt ihre Schwangerschaft heraus, wie vieles andere, was die Figuren mit sich rumschleppen. Abrechnungen, kleine Geheimnisse, Dramen, Krankheiten und eine Portion schwarzer Humor. Denn der Festtag ist tragisch belastet: Vor ein paar Jahren erschoss sich ein Dörfler. Und sein Sohn sieht auch nicht sehr glücklich aus ...
 
Diese Rückkehr mag vielleicht stimmig und gut gespielt sein (leider weniger gut synchronisiert), aber originell oder bemerkenswert ist das schwedische "Fest" nicht. Der Konflikt zwischen Heim und Unabhängigkeit begleitet Menschen wohl, seit sie anfingen, in Städte zu ziehen. So ist "Zurück nach Dalarna" keineswegs der erste Film zu "Familienfesten und anderen Schwierigkeiten" oder - besser und dänisch - zum "Fest". Man erwartet ein paar neue Erkenntnisse oder einen originellen Ansatz, ein Weiterdenken vielleicht. Aber der Film ist wie das alte Dorf Heimat: Man fühlt sich wohl und will gleichzeitig ganz schnell weg.

Die Boxerin


 
BRD 2005 (Die Boxerin) Regie Catharina Deus, mit Katharina Wackernagel, Fanny Staffa, Manon Straché, Winfried Glatzeder 105 Min.
 
Schlag auf Schlag folgen in letzter Zeit Boxerinnen-Filme aufeinander. "Girl Fight" aus der Latino-Szene, Eastwoods bettelarmes "Million Dollar Baby" und nun schlägt sich "Die Boxerin" im Osten Deutschlands durch. Es ist immer auch eine soziale Frage, wie sich junge Frauen aus einem sozialen Sumpf raus hauen können, und es ist eine emanzipatorische, dass sie es mit Boxen machen. Das bemerkenswerte Debüt von Catharina Deus erzählt davon packend und (be)trifft einfühlsam genau das Milieu und die Menschen.
 
Die 19jährige Johanna (Katharina Wackernagel) eckt überall an, schlägt sofort und heftig zurück. Dafür gibt es keinen Job und in Brandenburg auch keine rosigen Aussichten. Sie selbst will vor allem Boxen, wie einst ihr Vater, der bei einem Autounfall umkam. Doch Boxen ist was für Jungs und deshalb muss die grobe, ruppige Johanna ziemlich kämpfen, noch bevor sie in den Ring darf. Mit der Mutter, deren Schlampigkeit zur Pfändung des Hausrats führt. Mit den Zicken aus dem Dorf. Mit dem wohlwollenden aber feigen Trainer Igor und vor allen mit den hirnlosen, sexistischen Idioten im Boxclub.
 
Das starke Kinodebüt von Catherina Deus, Absolventin der DFFB, erzählt treffend und schafft mit Sprache und Details vor allem ein Gefühl für Johannas Welt. Wenn sie mit Mofa und Parka durch die Gegend brettert, hat das einen ganz besonderen Stil, das riecht nach einem Hauch von Freiheit und zeigt gleichzeitig, das es die hier nicht gibt. Einfach freche Dialoge ("Wir sind nicht arm, wir haben nur kein Geld!") und das sagenhafte Spiel von Katharina Wackernagel geben diesem Abschlussfilm Kinoformat. Sie war übrigens - auch daran kann man ihre schauspielerische Leistung erkennen - die lieblich freche Frau des Sportreporters in "Das Wunder von Bern". Bei aller gefühlten Authentizität des Films kommen Regisseurin und Autorin Martina Klein erstaunlicherweise gar nicht aus dem Osten. Trotzdem zeigen sie Perlen wie den Karaoke-Abend mit einem Manfred Krug-Song (der von der DDR zur Telekom ausgebürgert wurde) oder den Ausschnitt von "Solo Sunny!", einer anderen jungen Frau, die ihren Traum verfolgt. Doch wie betonte Catherina Deus so treffend: "Die Boxerin" könnte überall spielen.
 
"Die Boxerin" von Catherina Deus gewann in Oldenburg den "Independent-Award".