26.12.05

Match Point


GB 2005 (Match Point) Regie: Woody Allen mit Scarlett Johansson, Emily Mortimer, Jonathan Rhys-Meyers 123 Min. FSK ab 12
 
Der Zufall möglicherweise hat diesmal die Hauptrolle: Kopf oder Zahl? Schrödingers Katze eröffnete die Möglichkeiten zahlloser paralleler Universen und den Fluch des besseren Lebens immer auf der anderen Seite. Der Pole Kieslowski ließ den Lauf einer Münze über das Schicksal seiner Figuren entscheiden. Und nun macht auch Woody Allen sein Spiel mit der Münze. Allerdings sind es Pfund statt Dollar, denn der Ur-Einwohner von Manhattan drehte nun mit britischen Produzenten.
 
Wohin kippt die Münze? Geht der Ball übers Netz oder nicht? Das Schicksal in Form einer gelben Filzkugel wird das Leben des Ex-Profis Chris (Jonathan Rhys-Meyers) bestimmten. Im noblen Tennisclub lernt er Tom Hewett (Matthew Goode) kennen und fädelt es geschickt ein, in dessen reicher und nobler Familie zu landen. Denn Toms naive Schwester Chloe (Emily Mortimer) verliebt sich in ihn und wird ihn heiraten. So weit, so skrupellos glatt. Als Chris sich allerdings lüstern auf Toms Verlobte Nola (Scarlett Johansson) stürzt, eine talent- und arbeitslose amerikanische Schauspielerin, wird es dramatisch ...
 
Es ist ein gemeines Spiel, das die irischen und amerikanischen Aufsteiger in den besseren Kreisen spielen. Doch die Motive und der Grad an Schlechtigkeit unterscheiden sich. Woody Allen seziert dies trefflich und humorvoll, schwarz und bitter, "Schuld und Sühne" auf und um den Center Court. Viele meinten schon bei der Premiere in Cannes, "Match Point" sei der beste Woody Allen seit langem. Aber tatsächlich ist er lang nicht so spritzig und gemein wie die guten Allen.

Domino


USA 2005 (Domino) Regie: Tony Scott mit Keira Knightley, Mickey Rourke, Edgar Ramirez 128 Min. FSK ab 16
 
Nun hat der mittlerweile über sechzigjährige Tony Scott mehr als 20 Spielfilme gedreht, darunter Hits wie "Top Gun" oder "True Romance", und mit seinem Bruder Ridley ("Alien") auch erfolgreich produziert. Trotzdem hängt man ihm immer noch den Werbefilmer an. Auch bei dieser unglaublichen "wahren" Geschichte einer Kopfgeldjägerin dominiert der überbordende Stil die gar nicht so schlechte Story.
 
Keira Knightley, das ist das nette, höchstens spitzzüngige Mädchen aus "Stolz und Vorurteil", die geschickte Edeldame aus den "Piraten der Karibik", der Teenager aus "Kick it like Beckham". Und jetzt Killerin? Es gehört zum Reiz der Figur Domino (Keira Knightley), dass die gut aussehende, junge, blonde Frau einem ohne echten Grund mal schnell die Nase bricht. Aggressiv, jähzornig, brutal, unangepasst - genügend Qualitäten, um öfters von der Schule zu fliegen und auch die Model-Karriere flott zu schmeißen. Diese "kleine, süße Ding" entscheidet sich für den Werdegang einer Kopfgeldjägerin, "um etwas Spaß zu haben". Schon als Kind spielte sie mit Waffen rum, doch sie hat noch andere Qualitäten: Ihren ersten Job erledigt sie mit Hilfe eines Lapdance, eines kleinen Strips. Das war eine Art Aufnahmeprüfung im Team von Ed Moseby (Mickey Rourke), wie seine rechte Hand Choco (Edgar Ramirez) ziemlich durchgeknallt, aber nicht halb so gefährlich wie Domino. Die wird direkt "Kopfgeldjägerin des Jahres", eine Auszeichnung, die unter lauter schrägen Gestalten wohl durchaus ernst gemeint ist.
 
Man könnte sich á la Tarantino eigentlich mit den bescheuerten, brutalen, aber cool gefilmten Gewalttaten dieses Teams begnügen. Aber es gibt noch eine Handlung, und die durchschaut keiner der Beteiligten - dazu zählen Figuren, Regie und Zuschauer - so richtig: Die Frau des Auftraggebers von Domino und Ed will ein kleines Nebengeschäft aufziehen, man klaut Casinogelder, schnappt die vermeintlichen, als "First Ladies" verkleideten Diebe mit den Millionen und kassiert einen Finderlohn. Leider gehört das Geld der Mafia und zudem ist unter den falschen Dieben noch ein Mafia-Söhnchen hingerichtet worden.
 
Mindere Filmemacher haben sich schon erfolgreich aus einer komplexen Story herausgedreht. Doch Tony Scott macht es mit seinem extremen Styling noch etwas schwieriger. Farbverzerrungen, rasante Schnitte, unruhige Kameras. "Domino" sieht meist aus wie "Natural Born Killers", nimmt sich sogar selbst mit der Kopfgeldjäger-Soap "Bounty Squad" medienkritisch auf die Schippe. (Hallo Arte: Wär das nicht was für euch?)
 
Dieser Stil nervt bald nur noch. Schade, denn die Story - nach der Geschichte der wahren Domino Harvey - ist richtig gut, spannend. So gehen auch Elemente eines Erzählens mit Bildern unter wie der Goldfisch von Domino als Metapher für Einsamkeit. Das Spiel mit einer Münze - Kopf oder Zahl? - bleibt oberflächlich wie die bemerkenswerte Ähnlichkeit Chocos zu dem Jesus-Porträt, das Dominos Wende zum Bösen beobachtete. Die psychologische Ausstattung der Figuren ist fragmentarisch, die Liste der Auftritte dafür eindrucksvoll: Christopher Walken macht den TV-Produzenten, ein harmloses Kerlchen in dieser rauen Charakter-Sammlung. Mickey Rourke, mit einer Narbe längs übers Gesicht, hat noch mal eine richtige Rolle. Tom Waits ist als (Seelen-) Retter zu hören und endlich auch noch mal zu sehen. Allerdings hätte Scott eines Retters im Schnittraum bedurft, um all das Gute dieses Films nicht hoffnungslos wild zu zerschnibbeln.

Im Dutzend billiger 2


USA 2005 (Cheaper by the Dozen 2) Regie: Adam Shankman mit Steve Martin, Bonnie Hunt, Eugene Levy, Piper Perabo 93 Min. FSK o.A.
 
Ist der Titel eine Drohung? Wollen die uns tatsächlich den gleichen Film mit kaum erkennbaren Varianten zwölffach vorsetzen, weil das für die Produzenten billiger ist? Mal sehen - jetzt ist die völlig unoriginelle Komödie mit einem nervigen Steve Martin als zweiter Aufguss zu erleiden.
 
Kaum jemand wird sich erinnern, "Im Dutzend billiger" ist Dutzendware, ein Filmchen, das man ganz schnell vergisst. Da war die Karnickel-Familie der Bakers, der das Dauerchaos von zwölf Kindern nicht reichte. Papa Tom Baker (Steve Martin) machte auch noch auf berufstätigen Alleinerzieher, weil Mama (Bonnie Hunt) mit ihrem Bestseller auf Leserreise ging. So trainierte Tom schon mal sein Football-Team im Wohnzimmer, um gleichzeitig seine wilde Horde zu bewachen.
 
Jetzt verlagert Teil 2 den gleichen "Spaß" in den Wochenend-Urlaub draußen am See. Papa Tom will mit Camping und Hausen in einer erinnerungs-beladenen Bruchbude krampfhaft das bisherige Leben der Riesenfamilie aufrechterhalten. Denn zwei Töchter ziehen in andere Städte, da gerät der Familienvorstand in Panik. Allerdings gestaltet er den Familienausflug nach seinem Gusto und verdirbt jeden trotzdem aufkeimenden Spaß durch einen dummen Hahnenkampf mit dem Nachbarn, einem ekelhaft protzenden Angeber (Eugene Levy), der viel Geld, aber "nur" acht Musterkinder hat.
 
Viel Slapstick und sonstige Albernheiten geben Steve Martin Gelegenheit, schon mal für den "Rosaroten Panther" zu üben. "Im Dutzend 2" ist einer dieser Filme, bei denen jede wahllos ausgewählten fünf Minuten auf die Nerven gehen - Steve Martin ist für so was die beste Besetzung. Zur Begleitung dieser Welt ohne Drogen, ohne Irak-Krieg, ohne Coca-Cola zerfließt das
Orchester in Süßlichkeit. Mal sehen, ob die Drehbuchautoren für den dritten Teil mal ins richtige Leben raus dürfen.

19.12.05

Oliver Twist


Tschechien 2005 (Oliver Twist) Regie: Roman Polanski mit Barney Clark, Ben Kingsley, Jamie Foreman 130 Min. FSK ab 12 Jahre
 
Dickens ohne "Twist"
 
"Ganz gut" kann ein Abstieg bedeuten, wenn es vorher "grandios" hieß. Nach seinem überragenden und persönlichen Meisterwerk "Der Pianist", der Herzen und Preise eroberte, realisierte Roman Polanski nun eine anständige, ansehnliche Dickens-Verfilmung: "Oliver Twist". Nicht mehr aber auch nicht weniger.
 
Er stolpert in eine Farce, eine grausame: Der Waise Oliver Twist (Barney Clark) landet in einem Arbeitshaus. Das verschüchterte Kindergesicht sieht hinauf zu Fratzen im Anzug, die ihn geringschätzend begutachten. Danach geht es zum Arbeitsdienst, der vor zwei Jahrhunderten von den Gemeinden betrieben wurde, um hilflose Kinder so richtig ins Elend zu stürzen. Die kleinen Sklaven können vor Hunger selbst nicht schlafen, während sich die als Karikaturen gefilmten Ausbeuter den Wanst füllen.
 
Olivers offizielle Ausbeutung für britischen Kapitalismus und Krieg endet mit der unverschämten Bitte: "Please Sir, I want some more!" Könnte ich etwas mehr haben? Das schreit nach der Todesstrafe, doch lohnender ist der Verkauf. Für ein paar Pfund wird der Waise an einen Sargbauer gegeben, als er dort geprügelt wird, macht er sich in einem tagelangen Marsch auf nach London, um dort direkt in die Fänge einer Diebesbande zu geraten. Unter den Fittichen des seltsam liebvollen und sehr skurrilen Schurken Fagin (Ben Kingsley) kann sich Oliver erstmals zu Hause fühlen, allerdings in einem moralisch äußerst zweifelhaften Umfeld.
 
Doch das Schicksal hat auch einige positive Überraschungen für den bescheidenen, äußerst freundlichen Jungen parat. Beim ersten Diebeszug gerät der Jungen dann gleich in die Fänge einer grausam albernen Justiz, wird aber durch den aufopfernd humanen Mr. Brownlow (Edward Hardwicke) gerettet, der seinen wohlbetuchten Glauben in das Gute im Menschen an Oliver beweisen will. Doch die Bande um Fagin entführt den Jungen und es wird noch einige tragische Ereignisse geben, bis er einem behüteten und reich ausgestatteten Leben entgegenblicken darf.
 
Polanski inszenierte den bekannten Roman von Charles Dickens aus dem Jahre 1838 als richtig schön altmodische Geschichte, mit Verrätern, die einfach verraten, Gaunern, die einfach nur betrüben. Gradlinig, ohne "Twist", ohne Überraschung oder auffällige Interpretation. Der gleiche sorgfältige Realismus, der beim "Pianisten" die Grundlage für einen unerhörten, erschütternden Leidensweg durch Holocaust und Krieg bildete, bebildert hier einen Literaturklassiker. Darin ist alles überzeichnet, karikiert, nur das hilflose Wesen im Zentrum erleidet alles mit unerschütterlich gutem Wesen.
 
Man verbreitet, Polanski verarbeite in seiner ersten Regiearbeit nach dem Triumph mit "Der Pianist" "eigene Erfahrungen als Waise auf den Straßen des Ghettos von Warschau". Das mag man glauben oder nicht, Anhaltspunkte im Film sind keine zu erkennen. Es ist ein Dickens und kein Polanski, da will die Marketing-Abteilung vielleicht etwas den "Pianisten" nachklingen lassen.
 
Oliver Twist, der Junge mit dem Engelsgesicht, wird eindrucksvoll gespielt von Barney Clark. Obwohl es immer besonders schwierig ist Kinder zu inszenieren, verdient sich jedoch vor allen Ben Kingsley viel Begeisterung. Sein Fagin ist eine wirklich interessante Figur, mit vielen faszinierenden Schattierungen des Verderbten, Düsteren.
 
Eine düstere Kindergeschichte, die sich zur Weihnachtszeit nett anschauen lässt, weil heute ja alles nicht mehr so schlimm ist. Nirgendwo mehr werden Kinder so schlecht behandelt. Außer in Indien, Thailand, China, Brasilien, ... Aber sie müssen ja nur unsere Hemden und Schuhe nähen, bis sie umfallen ...

Terkel in Trouble


Dänemark 2004 (Terkel i knibe) Regie: Stefan Fjeldmark, Kresten Vestbjerg Andersen, Thorbjørn Christoffersen, 78 Min.
 
Da werden die Pädagogen aufheulen: Pädagogisch wertvoll trotz heftig Blut spritzender Splatter-Einlagen? Die dänische Computer-Animation "Terkel in Trouble" wird den Kids Spaß machen, weil sie so herrlich krass und respektlos daherkommt.
 
Terkel - deutlichstes Merkmal: Zahnspange - erlebt die Schulzeit zusammen mit seinem Freund Jason als großen Spaß, bis er ins Visier der beiden Quälgeister der Klasse gerät: Die "Bullies" schikanieren dauernd und machen ihn fertig. Terkels Eltern - herrlich: die dauerqualmende, keifende Mutter und der hinter einer Zeitung verschollene Vater - hören nie zu. Der Opa von der Schüler-Hotline rafft auch nichts, teilt aber bei einer Prügelei kräftig aus. Das Mobbing wird dann mit dem Selbstmord einer dicken Schülerin höchst dramatisch ...
 
Auch wenn die Mini-Zusammenfassung jetzt didaktisch interessant klingt, dieser bis zu den "Fehlern" im Abspann umwerfend komische Trick-Film wird nie zum pädagogischen Einsatz kommen. Denn in ihm kucken sich die Jungs Splatter-Animationen an, da geht beim Pinkeln schon mal was schief, da ist Jesus am Kreuz genau so ein Hänger wie die anderen Figuren. Statt schmalz-klebriger Disney-Schnulzen gibt es beim Musikunterricht von Arne super-coole Disko-Einlagen. Die pädagogisch wertvollen Songs des Aushilfslehrers Gunnar schocken mit Wahrheiten über Kindersex in Thailand. Und bei der Hochzeits-Jubiläumsfeier der Eltern sagt Vater endlich das richtige Wort: "Nein!"
 
Allerdings fährt "Terkel" bei aller politisch inkorrekten Unverfrorenheit letztendlich fast noch auf der Schiene "pädagogisch wertvoll", denn wie Terkel sich gegen die beiden Sadisten wehren muss, könnte bei den vielen ähnlichen Situationen im richtigen Leben eine Hilfe sein - oder auch nicht.
 
Die Regisseure nutzen die einfache Machart der Computer-Animation, um zahllose freche Ideen umzusetzen. Vom Alptraum im Stile von Horrorfilmen wie Shining oder Zombie bis zur kurzlebigen subjektiven Perspektive einer Spinne. "Terkel" war der erfolgreichste Kinostart des Jahres 2004 in Dänemark. Dort wurden alle Stimmen vom Stand-up Comedian Anders Matthese gesprochen und gesungen. In Deutsch übernimmt Bela B. Felsenheimer diese Parts überzeugend.

U-Carmen


Südafrika 2005 (U-Carmen eKhayelitsha) Regie: Mark Dornford-May mit Pauline Malefane, Andile Tshoni, Zweilungile Sidloyi 126 Min. FSK ab 6
 
Bizets "Carmen" mit den Liedtexten in der südafrikanischen Xhosa-Sprache, mit den schnalzenden Lauten, die wir aus Miriam Makebas "Click Song" kennen, das ist so ungewöhnlich wie faszinierend. Ebenso das Setting in einem Township zwischen Prostituierten, Schmugglern und Polizisten sämtlich schwarzer Hautfarbe. (Theater-) Regisseur Mark Dornford-May zeigt in "U-Carmen eKhayelitsha" das alte Drama von Verführung und Eifersucht glaubhaft verbunden mit den aktuellen Themen des Landes, lässt einige traditionelle Lieder aber vor allem viele dokumentarische Straßenszenen einfließen. Ein Kunstgenuss, der Augen und Ohren für die Vielfalt der Welt öffnet. "U-Carmen" erhielt den Goldenen Bären bei den Berliner Filmfestspielen 2005. Die Hauptdarstellerin Pauline Malefane, eine in Südafrika sehr bekannte Sängerin, nahm bewegt die Ovationen für ihre packende Carmen im Berlinale-Palast entgegen.
 
Carmen (Pauline Malefane) lebt in einem Township von Soweto und bändelt mit dem Polizisten Jongikhaya (Andile Tshoni) an. Doch als sie einem jüngeren nachgibt und bei Schmugglergeschäften mitmacht, nimmt das bekannte Drama seinen Lauf. Es könnte komisch klingen, aber bei dieser Carmen in einer fremden Sprache ergibt sich eine reizvoller Vexier-Klang: Die Melodien sind bekannt, die Stimmen passen, aber auch wieder nicht. Doch die Handlung in sich, dieser Hexenkessel aus Leidenschaft, Armut, Eifersucht und Wahnsinn ist völlig stimmig, man könnte vergessen, dass Bizets Original "etwas" nördlicher, in Sevilla angesiedelt ist.
 
Regisseur Mark Dornford-May realisierte zuerst eine Bühneninszenierung der Oper, die er dann mit seinen Schauspielern zu einem Spielfilm machte. Sicherlich die spannendste Carmen-Variation zurzeit - neben Goran Bregovics "Carmen with a Happy End" - der ersten Carmen mit einem Balkan-Akzent und begleitet vom "Wedding and Funeral Orchestra"!

12.12.05

King Kong


Neuseeland/USA 2005 (King Kong) Regie: Peter Jackson mit Naomi Watts, Adrien Brody, Jack Black 187 Min. FSK ab 12
 
Grandios! 207 Mio. Dollar Drehkosten, noch einmal 125 Mio. für die Werbung und trotzdem ein guter, ein sensationeller Film. Das gab es lange nicht mehr. Nachdem er den Fluch des Ringes los ist, zeigt der dreimalige Oscar-Gewinner Peter Jackson ("Heavenly Creatures", "Bad Taste", "Braindead", "The Frighteners") wieder, was er wirklich kann.
 
Romantik, großartige Abenteuer, Humor in verschiedenster Form - Peter Jackson sparte bei seinem "King Kong" nirgendwo. Jetzt kann man die Romantik zwischen der Schönen und der Bestie (der Affe ist Letzteres) wieder in vollen Zügen genießen, jetzt erschreckt das gewaltige Tier und beeindruckt im Kampf gegen gleich drei Saurier, als wäre er bei Bruce Lee in die Kung Fu-Schule gegangen.
 
Es geling Jackson vor allem, seinen Jugendtraum "King Kong" unaufdringlich auf den Stand modernen Erzählens zu bringen, mit medialen Verweisen und einer sehr dichten Struktur. Eine grandiose Nummer ist die Idee, den großen, massigen Affen zum gnadenlosen Zuschauer einer Vaudville-Show zu machen. Denn die "Weiße Frau" Ann Darrow (Naomi Watts) tanzte in einer solchen, bevor sie mitten in der tiefsten Depression - wir drehen das Jahr 1933 - auf der Straße landet. Dort liest sie der wahnsinnige Regisseur Carl Denham (Jack Black) auf und lockt sie auf seine mehr als abenteuerliche Dreh-Expedition.
 
Tatsächlich strandet sein Dampfer "Venture" an einer abschreckenden Felsenküste. Eine zehn Meter hohe Mauer zieht sich über die Insel und die schaurigen Eingeborenen schnappen sich bald die Weiße Frau, um sie dem Riesenaffen hinter Mauer und Graben zu opfern. Der schnappt sich seine neue Barbie-Puppe, schleudert sie etwas herum, verliert dann aber fast das Interesse. Wäre Ann nicht so eine raffinierte und komödiantische Variete-Artistin. So lernen sich die beiden näher kennen, im großen, sehr lauten Affen steckt ein weicher Kerl und sie könnten bis ans Ende ihrer Tage Sonnenuntergänge bewundern, gäbe es nicht das tragische Ende. Denham fängt den Affen ein, macht ihn zu Attraktion von New York, die aber bald selbständig durch die Straßen zieht und auf das Empire State Building klettert.
 
Der Rest ist Kinogeschichte und trotzdem rührend, traurig, bewegend. Wenn das ungleiche Pärchen im Central Park auf dem Eis herumtollt, hat das mehr Gefühl, als die meisten "Stars" auf die Leinwand bringen! Das Buch ist zurückhaltend mit unnötigen Worten, erspart sich damit auch Platituden. Ansonsten sind die über drei Stunden keine Minute zu lang, eher wundert man sich, dass Jackson für das tragische Finale in New York mit 40 Minuten auskommt.
 
Jackson fand seine Schädel-Insel im Computer, doch "King Kong" ist wegen anderer Gründe eine Sensation: Die eindrucksvollen Emotionen in "King Kong" sind vor allem den Darstellern zu danken. Sogar "King Kong" selbst verdankt seinen Ausdruck einem Menschen: Andy Serkis, der Gollum aus "Herr der Ringe".

Alles ist erleuchtet


USA 2005 (Everything is illuminated) Regie: Liev Schreiber mit Elijah Wood, Eugene Hutz, Boris Leskin 106 Min. FSK ab 12
 
Eine Skurrilität des deutschen Startkalenders, dass am gleichen Donnerstag zwei "Gefährten des Rings" einen neuen Film bringen: Während Regisseur Peter Jackson seinen riesigen "King Kong" los lässt, brilliert "Hobbit" Elijah Wood in einem außergewöhnlichen, kuriosen und erinnernden Werk. Und auch bei der "Family Stone" dreht sich alles um einen Ring.
 
Sie ist zwar noch nicht tot, aber ihr Gebiss kommt schon mal in die Sammlung des Enkels: Jonathan Safran Foer (Elijah Wood) sammelt an einer großen Wand in Klarsicht eingetütete Erinnerungsstücke seiner Familie. Eine Heuschrecke in Bernstein und ein Foto vom Großvater zusammen mit dem Namen der Ortschaft Trachimbrod in der Ukraine bringt den skurrilen Amerikaner mit dem ängstlichen Blick hinter dicken Brillengläsern auf eine Reise nach Europa.
 
Am Bahnhof von Odesa begrüßt ihn Alex (Eugene Hutz), der sich als Hip-Hopper wähnt, aber dessen Englisch mit seltsam sperrigen Formulierungen gepflastert ist. Seine Familie verdient mit "Jewish Heritage Tours", mit "Jüdischen Erinnerungs-Reisen" ihr Geld. So gehört zu Jonathans Begleitung im sozialistischen Arbeiterklasse-Wagen der aus Überzeugung blinde und antisemitische Großvater (Boris Leskin) am Steuer und hinten neben dem Gast die bissige Töle Sammy Davis Junior Junior (sic!), die mit einem T-Shirt bekleidet immer als Running Gag mitläuft. Dass Jonathan Angst vor Hunden hat, wird kaum belächelt, aber ganz und gar ignoriert. Ebenso wie sein total abstruser Wunsch, Essen ohne Fleisch zu sich zu nehmen. Die ganze Umgebung bedenkt ihn mit einem dieser Blicke, die Vegetarier nur noch in Bayern und anderen Gebieten erleben, die bald durch Rinderwahn, BSE und Kreutzfeld Jakob entvölkert sein werden.
 
Man kann sich noch über viele Kuriositäten in diesem "Clash of Culture" amüsieren, bis die gemischte Truppe tatsächlich in Trachimbrod und in der Vergangenheit des Holocaust ankommt. Bei Lista, einer entfernten Verwandten Jonathans finden sie eine Wand mit Schachteln mit Erinnerungen an ein Dorf, dass es nicht mehr gibt.  Im März 1942 wurden dort 1024 Juden nach grausamen Erniedrigungen ermordet.
 
Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Jonathan Safran Foer findet langsam vom oberflächlich witzigen "Kulturvergleich" (die dummen Ukrainer, haha - die dummen Amis, haha) zu einem tieferen Kern. Schauspieler Liev Schreiber (der Sohn der Politikerin im Remake von "Der Manchurian-Kandidat") erzählt in seiner ersten Regie eine Geschichte, die Erinnerung sein will, nie rührselig wird. Das ist befremdlich und etwas gewöhnungsbedürftig. Am Ende ergreift sie aber doch, gibt sie etwas von Jonathans süßer Melancholie ab, in einem Verlust eine Heimat wiedergefunden zu haben.
 
PS: Und mittendrin in all der überwältigenden Trauer fällt "Hobbit" Elijah Wood der völlig unnötige Satz ins Gesicht: "It is because of the ring we are all here!!!!" (Wir sind wegen des Ringes hier!)

Die Familie Stone - Verloben verboten!


USA 2005 (The Family Stone) Regie: Thomas Bezucha mit mit Claire Danes, Diane Keaton, Rachel McAdams 103 Min. FSK o.A.
 
Alle Jahre wieder treffen sich Filmteams im Frühjahr, um mit viel Kunstschnee und falschen Gefühlen einen weiteren Weihnachtsfilm zu drehen. Wie blöd sich das anfühlen muss, spürt man bei der "Familie Stone" fast in jeder Szene. Ein routiniert inszeniertes Familienfest zum Weglaufen.
 
Ein fröhliches Durcheinander von Personen und Probleme trifft sich zum familiären Weihnachtsfest irgendwo im Norden der USA: Der taube Thad Stone (Ty Giordano) schneit mit seinem schwulen, schwarzen Freund Patrick (Brian J. White) herein. Seine Schwester Susannah Stone (Elizabeth Reaser) kommt mit kleiner Tochter und reichlich viel Schwangerschaft, um fortan nur noch selig zu lächeln. Der lässige Schwerenöter Ben Stone (Luke Wilson) bekommt von Über-Mutter Sybil Stone (Diane Keaton) direkt Kiff-Verbot. Ein Keifverbot für das bösartige Nesthäkchen Amy Stone (Rachel McAdams) wäre auch angesagt. Und alle warten auf Everett (Dermot Mulroney), der seine Neue, Meredith Morton (Sarah Jessica Parker), vorstellen und gleich auch verloben will.
 
Der äußerlich coolen, aber schrecklich unsicheren Business-Frau Meredith gelingt es gleich auf Anhieb, in alle möglichen Fettnäpfchen zu treten: Sie brüllt den tauben Thad an, und befürchtet, das adoptierte Kind der beiden Schwulen könnte auch "nicht normal" werden. Doch diese Entgleisungen der angeblich gebildeten, beruflich erfolgreichen Blonden werden verziehen und vergessen. Was man dem Drehbuch nicht verzeihen sollte!
 
Meredith wurde aber schon vorher von allen gemobbt, nur Amy reagiert normal - sie ist von Natur aus eklig. Die zukünftige Verlobt ruft deshalb ihre Schwester Julie Morton (Claire Danes) zu Hilfe und da das Personal komplett ist, geht jetzt alles drunter und drüber. Einige landen in falschen Betten und dann ist gemäß der Standard-Dramaturgie Weihnachten.
 
Dem Regisseur Thomas Bezucha gelingt es, routiniert und glatt ein Ensemble-Drama zu inszenieren, das einen kalt lässt, wie die Eiswürfel im Gefrierfach. Man verfolgt das Geschehen, man weiß, was beabsichtigt war und interessiert sich weiter nicht dafür. Selbstverständlich darf auch das unausgesprochene Geheimnis, von dem jeder weiß, nicht fehlen. Die unheilbare Krankheit.
 
Eine Zeit lang glaubt man, hier würde sich ein Außenseiter-Drama abspielen, man würde erleben, wie die Weihnachts-Seligkeit den Fremdkörper nicht integrieren kann. Aber zum Ende bekommen wir gleich ein dreifaches Happy End geliefert, nur Mutter ist nicht mehr dabei.

6.12.05

Alles was ich an euch liebe

Spanien/Großbritannien/Argentinien/Portugal, 2004 (Seres Queridos / Only
Human) Regie: Teresa de Pelegri, Dominic Harari mit Norma Aleandro,
Guillermo Toledo, María Botto, Marián Aguilera 89 Min. FSK o.A.

Es geht los mit einem Quickie im Aufzug, denn vor dem Familienbesuch sollte
man sich lockern, vor der Vorstellung des neuen Verlobten besonders. Leni
bringt Rafi mit und noch weiß keiner in der spanischen Familie, dass Rafi
Palästinenser ist. Doch vorerst sorgen ganz alltägliche Dinge für das Chaos:
Der kleine Bruder ist nervig religiös geworden, die Mutter hygienisch. Der
blinde Opa fuchtelt zu sehr mit dem Gewehr rum, mit dem er vier Araber
erschossen hat. Und ein großer Klumpen gefrorener Suppe rutscht Rafi aus der
Hand, fliegt aus dem Fenster und erschlägt einen Passanten.

Das ist Almodovar mit Wilder gepaart: Juden am Rande des
Nervenzusammenbruchs. Die Filmemacher bescheren uns so schöne Sätze wie
"Eher bekommt Israel Frieden als ich einen Orgasmus mit meinem Mann",
scheuen sich nicht vor grobem Klamauk oder frech schwarzem Humor und halten
die zwischenstaatlichen Konflikte wenigstens musikalisch immer nahe.

5.12.05

Factotum


USA, Norwegen 2005 (Factotum) Regie: Bent Hamer mit Matt Dillon, Lili Taylor, Fisher Stevens, Marisa Tomei, Didier Flamand 94 Min. FSK ab 12
 
Bukowski - trocken und nüchtern
 
Charles Bukowski ist irgendwie nicht mehr richtig in Mode. Vielleicht weil man seinem Saufen, dem Delirium, dem Rumhuren und dem es-auch-noch-alles-richtig-gut-finden nur begrenzt viele Varianten abgewinnen kann. Nach Barbet Schroeders "Barfly" mit Mickey Rourke verfilmte nun Bent Hamer ("Kitchen Storys") eine Bukowski-Geschichte,
und zwar ganz ungewöhnlich: Trocken und nüchtern!
 
Henry Chinaski (Matt Dillon) ist Schriftsteller - manchmal. Meistens ist er besoffen, und das volle Kanne. So fliegt er aus jedem Job raus, aber das mit Stil. Den Laster mit Gefrierkost lässt er vor einer Bar auftauen. Den Vorarbeiter, der sich zwischen ihn und seinen Drink stellt, rennt er heftig über den Haufen.
 
In solch knappen Szenen mit sparsamem Off-Kommentar ist Bent Hamer exzellent. Stille, seltsame Kerle in aberwitzigen Situationen machten auch seine "Kitchen Story" zum Hit in Sachen trockener Humor. Matt Dillon spielt Henry Chinaski als Trottel von Qualität von Laurel und Hardy. Aber auch als ganz ernsthaften Beobachter und Schriftsteller mit Kostproben der Literatur von Bukowski.
 
Die nüchtere, fast distanzierte Bukowski-Interpretation von Bent Hamer sieht in ihren besten Momenten aus wie ein Jarmusch oder ein Wenders. Allerdings leidet die Story unter der Abwesenheit von Entwicklung, geht nur beschränkt rauf oder runter mit dem Anteil des Alkohols im Blut.
 
In guten Momenten gewinnt Chinaski auf der Pferderennbahn, wird von der reichen Mätresse Laura (Marisa Tomei) ausgehalten und lebt in völliger Sexual-Harmonie mit Jan (Lili Taylor). Was bedeutet, dass sie beide fast gleichzeitig kotzen und sofort wieder zur Flaschen greifen und ins Bett hüpfen. Dann fliegt der Alki wieder aus dem Job, kriegt seinen Führerschein nicht zurück und auch keine der Geschichten, die er zu Zeitschriften schickt.
 
So lassen sich die lakonischen Momentaufnahmen fast ohne Filmmusik, das Philosophieren über Pferdewetten, Sex und die Frauen vielleicht als ruhige, feine Beobachtungen preisen. Ein nüchterner Bukowski halt.

Cry_Wolf

USA 2005 (Cry_Wolf) Regie: Jeff Wadlow mit Julian Morris, Lindy Booth, Jared Padalecki 90 Min. FSK ab 16
 
Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. So lautet die sinngemäße Übersetzung der englischen Redewendung "Cry Wolf". Doch im Teenie-Horror macht das überhaupt keinen Sinn, den dieser lebt vom Vortäuschen, vom unnötigen Schrecken und falschen Fährten, denen man immer wieder auf den Leim geht. Es wird also gelogen und erfunden auf Serienkiller komm raus. Und gemordet selbstverständlich.
 
"Cry_Wolf" lässt die falschen Fährten in ungeahnter Vielfalt sprießen: Die Schüler einer amerikanisch Uni spielen nächtens ein nettes Detektivspiel und Owen (Julian Morris), der Neue, erweist sich als cleverer Kombinierer. Als dann ein Mädchen auf dem Campus ermordet wird, erfinden die Journalistik-Studenten einen Serienkiller und verbreiten das Täterprofil im Internet. Das makabre "Spiel" weitet sich bald auf den ganzen Campus aus und wird blutiger Ernst, als der Killer tatsächlich in der Realität auftaucht. Verdächtig ist jeder (auch "Lehrer" Jon Bon Jovi) und die Lösung stellt noch einmal all die vielen Wendungen der Geschichte auf den Kopf.
 
Der Unterstrich im Titel "Cry_Wolf" (es ist ein Email-Name) macht deutlich, dass die ganze Geschichte computer-hyper aufgemotzt wurde. Man "chatet" fortwährend, die Drohungen kommen übers Internet und der Freund erkennt den Killer auf dem Handyfoto im Spiegel hinter der Freundin. Was für ein technischer Blödsinn - auf richtigen Handyfotos würde er die Freundin nicht von der Oma unterscheiden können!
 
Aber dem Teenie-Horror-Klientel wird dies egal sein, wichtig sind die Schauer- und Schreckmomente. In der ersten Hälfte bleibt "Cry_Wolf" gemächlich und verspielt, erst in der letzten halben Stunde geht das fröhliche Schlachtfest los. Im Stil von Wes Craven und "Sceam" wird mit dem Killer und seiner Verkleidung gespielt, zu Halloween laufen gleich zig Studenten mit roten Kapuzen über dem Gesicht rum. Ansonsten überrascht höchstens, dass in dieser Welt immer noch die gleiche verklemmte Sexualität herrscht, die uns seit "Halloween" wie ein böser Geist verfolgt.

Dias de Santiago

Dias de Santiago
 
Peru 2004 (Dias de Santiago) Regie: Josué Méndez mit Pietro Sibille, Milagros Vidal, Marisela Puicón, Alheli Castíllo 83 Min. OmU
 
Eindringlich. Von den ersten Bildern an. Der Druck bei diesem jungen Mann ist spürbar wenn er durch die Straßen von Lima geht, seine Gedanken, seine Beobachtungen im Off hörbar sind. Still, verschlossen, aber mit einem kräftigen Körper, dem man im Moment der Explosion nicht nahe sein will.
 
Santiago Román kommt nach dreijährigem Kriegsdienst nach Lima zurück. Aber er kommt nicht an in einer modernen Großstadt-Gesellschaft, die sich nicht um ihn und seinesgleichen kümmert. Die Brutalität der Kriege gegen die Widerstandsgruppe "Sendero Luminoso" (Leuchtender Pfad) und das Nachbarland Ecuador verfolgt ihn quälend im Schlaf. Doch der 23-Jährige reißt sich zusammen, will sich weiterbilden. Aber die Ausbildung zum Informatiker ist langwierig und teuer, Förderung gibt es keine. Der letzte Sold reicht nicht mal für einen Kühlschrank auf Kredit, und Kredit kriegen Veteranen ebenso wenig wie Mitgefühl.
 
Santiagos konstanter Gedankenfluss kommentiert und bewertet ein für ihn moralisch erschreckendes modernes Leben. Aber Santiago kann nicht aussprechen, was er mitteilen will. So scheitert die eigene Ehe, in der Wohnung der Eltern verstärkt die Enge die Gewalt gegen alle Frauen. Die militärische Analyse einer Bar gelingt, etwas Spaß mit jungen Mädels auch noch, aber die Frustration wächst und mit ihr eine verzerrte Sicht der Realität.
 
Gegen den Einstieg ins Drogengeschäft kann er sich wehren - im Gegensatz zu seinen Kriegs-Kameraden, doch der sich nur mühsam zurückhaltende Choleriker schlägt seine Frau, dann will er die Freundin seines Bruders retten, schließlich kommt es eher aus Versehen zu einer Geiselnahme. Der Schrecken steigert sich bis zur atemberaubend stillen und spannenden letzten Einstellung, die alles offen lässt.
 
Spätestens als Santiago mit einem geerbten Auto auf Taxifahrer macht, ist der Bezug zu Scorseses und DeNiros "Taxi-Driver" überdeutlich. Er steckt in der vergleichbaren Situation eines Kriegsveteranen, der mit seinen seelischen Verkrüppelungen von einer kalten Gesellschaft nicht aufgefangen wird. Doch "Dias" bleiben eigenständig, zeigen auch genau und nachfühlbar speziellen Bedingungen in Lima und Peru. Die engen Familienstrukturen, die Gewalt gegen die Frauen, das Klima der Gewalt überhaupt.
 
Dabei ist die Perspektive Santiagos sehr geschickt aufgebaut - und von Pietro Sibille eindringlich gespielt: Anfangs kann man die Einschätzungen des Protagonisten durchaus noch nachvollziehen, erst allmählich keimt die gefährliche Tendenz auf, die Sache und die Pistole selbst in die Hand nehmen zu müssen und den "Schweinestall" aufzuräumen.
 
Dabei gewinnt die an sich einfache Inszenierung, die oft mit Handkamera der menschlichen Zeitbombe Santiago folgt, zeitweise die Kraft von Filmen wie "Amores Perros". Intensives Spiel, genaue Zeichnung der Figuren sowie des sozialen Umfeldes machen "Dias de Santiago" zu einem packenden und informativen Erlebnis.

"Ultranova" siegt in Gijon


Gijon. Nach dem Cannes-Sieg von "L'enfant" kann die Wallonie in diesem Jahr einen weiteren internationalen Festivalpreis verbuchen. Der Film "Ultranova", gedreht in der Umgebung der belgischen Provinzhauptstadt Lüttich, erhielt in Gijón die Hauptpreise der beiden großen Juries. Das "Festival Internacional de Cine" gehört zu den wichtigsten Filmevents Spaniens.
 
Mit einem Knall wendet sich der Film "Ultranova" um den stillen Angestellten einer Immobilienfirma und mit einem Knall endete auch das 43. Filmfestival von Gijon (28.11. - 2.12.2005): "Ultranova" erhielt sowohl den Hauptpreis der Internationalen Jury als auch den Preis der FIPRESCI, des internationalen Kritikerverbandes. Eine klare Entscheidung, die allerdings nicht überall auf Zustimmung stieß.
 
Wie auch bei den Brüdern Dardenne aus Lüttich, die schon zweimal die Goldene Palme gewannen ("Rosetta" und "L'enfant"), spielt in "Ultranova" von Bouli Lanners die Tristesse der Wallonie und ihrer Menschen eine Hauptrolle. Doch Tristesse ist eigentlich ein zu schönes Wort für die Trostlosigkeit zwischen Halden, Maaskanälen und öden Brachen. Es wäre gemein zu sagen, die Menschen haben sich ihrer Umgebung angepasst, deshalb leihen wir uns die Worte des Regisseurs Bouli Lanners: Er sieht seine Figuren wie ferne Himmelskörper, die einsam ihrer Bahnen ziehen. Deshalb auch die Titelkreation "Ultranova" in Anlehnung an den Sternentod mit einem Knall. Es kann immer mal passieren, dass der Druck von eingeschlossenem Schmerz und Hoffnungslosigkeit zu hoch wird. Dann explodiert etwa ein griesgrämiger und besonders aggressiver Kollege. Und irgendwann explodiert ohne Grund der Airbag im Auto. Ein Zeichen! Dafür, dass man auf einem falschen Weg war, meint eine Nebenfigur dazu.
 
Der Regisseur Bouli Lanners wurde am 20. Mai 1965 in Moresnet-Chapelle geboren und lebt in Lüttich. Bislang trat er vor allem als Schauspieler in vielen wallonischen Filmen auf (u.a. "Les convoyeurs attendent"). Zurzeit hat der enorm talentierte Lanners einen Film in Postproduktion und einen weiteren in Vorbereitung. "Ultranova" wird in Deutschland von Peripher vertrieben, einem kleinen Verleih, der nur schwer die Mittel hat, die Qualitäten dieses Films ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Vielleicht gelingt es mit Hilfe der Preise von Gijón.


Herzliche Grüße,
Günter H. Jekubzik * ghj@arena.de
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